In den Diskussionen im Rahmen der Flüchtlingskrise wurde nicht selten in kirchlichen und theologischen Stellungnahmen der Eindruck erweckt, der ethische Universalismus würde die sogenannten Vorzugsregeln außer Kraft setzen. Es wurde gesagt, der Christ dürfe nicht zwischen dem Nahen, dem Näheren und dem Nächsten unterscheiden. Jeder Mensch sei für einen Christen der Nächste. Wer das nicht wahrhaben wolle, würde das biblische Gebot der Nächstenliebe verwässern und dem ethischen Partikularismus verfallen. Jesus habe keine Zäune errichtet, sondern Brücken gebaut, war zu hören. Grenzen zu errichten und deren Beachtung einzufordern, wurde als dem christlichen Glauben widersprechend zurückgewiesen. In traditionell kirchenkritischen Kreisen erntete diese dem Anschein nach hochstehende Moral Anerkennung und Bewunderung.
Christliche „Realpolitiker“ hingegen sahen sich unverstanden, angegriffen oder vor ein scheinbar unlösbares Dilemma gestellt. Vielen praktizierenden Christen sagte der gesunde Menschenverstand, dass eine Politik der offenen Grenzen letztlich zum Zusammenbruch der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung führt. Sie sahen sich jedoch kaum in der Lage, ihre Einstellung im Rahmen einer konsistenten ethischen Argumentation zu begründen. Die Radikalität der Botschaft Jesu schien dem entgegenzustehen. Die katholischen Bischöfe Deutschlands, inspiriert durch beeindruckende prophetische Zeichenhandlungen von Papst Franziskus, erweckten den Eindruck, endlich einmal kompromisslos an der Seite Jesu zu stehen. Diese Haltung brachte der Kirche von den einen Lob und Anerkennung ein. Bei anderen jedoch entstand der Eindruck, der Glaube der Christen sei zwar eine hehre, aber im Grunde doch naive und nicht alltagstaugliche Angelegenheit.
Zwei-Stockwerk-Ethik
Viele Christen behalfen sich mit einer Zwei-Stockwerks-Ethik: Zwar sei die sittliche Botschaft des Neuen Testaments richtig und wahr, doch könne sie leider im Alltag und in der Politik nur graduell erfüllt werden. Erneut schien sich das Diktum: „Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen“ zu bestätigen. Eine Bundeskanzlerin, die sich in ihrem Amtseid verpflichtet hat, „Schaden vom deutschen Volk zu wenden“, dürfe sich nicht verhalten wie Mutter Teresa von Kalkutta. Die Debatte verlief emotional und kontrovers. Der Soziologe Armin Nassehi sprach von der „Vergiftung der politischen Kommunikation durch die Flüchtlingsdebatte“ (Süddeutsche Zeitung, 13. Dezember 2016).
Vor diesem Hintergrund erscheint es angebracht, daran zu erinnern, dass die Vorzugsregeln zum Kern der katholischen Moraltheologie gehören und der biblischen Ethik nicht widersprechen. Die Vorzugsregeln stehen dem Liebesgebot nicht entgegen, sondern sollen „dem Anliegen einer bestmöglichen Verwirklichung des Liebesgebotes dienen“ (Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg 2014, 503). Ohne die Anwendung der Vorzugsregeln könnte niemand leben und würde das gesellschaftliche Leben zusammenbrechen.
Anhand von Beispielen werden sie unmittelbar einsichtig: Um die Kinder meines Nachbarn muss ich mich in der Regel nicht kümmern. Dafür sind deren Eltern zuständig. Die Kinder meines Nachbarn sind mir nahe, sie sind aber nicht meine Nächsten. Meine Kinder sind mir näher als die Kinder meines Nachbarn. Vorzüglich muss ich mich um meine Kinder kümmern, nicht um die Kinder meines Nachbarn. Erst wenn die Eltern der benachbarten Kinder ausfallen, ist es unter bestimmten Umständen meine Aufgabe, mich um deren Kinder zu kümmern. So gesehen ist nicht jeder Mensch mein Nächster, sondern jeder Mensch kann (unter ganz bestimmten Umständen) mein Nächster werden.
Genau das besagt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37). Was der barmherzige Samariter tut, ist eine Selbstverständlichkeit. Er handelt nach dem Prinzip des ethischen Universalismus und wendet die Vorzugsregeln an. Ist der ethische Universalismus einmal akzeptiert, stellt sich die Frage, wie die daraus hervorgehenden Pflichten aufzuteilen sind. Nur als universales Wohlwollen kann die Liebe alle Menschen erreichen. Die aus dieser Gesinnung hervorgehenden Taten der Liebe bleiben „auf den abgestuften Kreis derer beschränkt, die der Hilfe am meisten bedürfen und für deren Wohl der Handelnde am besten zu sorgen imstande ist“. Die Liebe als Gesinnung gilt allen Menschen in gleicher Weise (ethischer Universalismus). Die Liebe als Tat bedarf einer Unterscheidung „zwischen dem Nahen, dem Näheren und dem Nächsten“ (Bruno Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile. Typen ethischer Argumentation in der Moraltheologie, Düsseldorf 1980, 109). Bei der Unterscheidung geht es um die Abwägung konkurrierender Güter und um die Bewertung der Folgen einer Handlung.
Genau nach diesem Prinzip verfährt auch die Bibel. Es ist also irreführend zu behaupten, die Bibel würde verlangen, allen Menschen unterschiedslos zu helfen. Wenn ein deutscher Kardinal behauptet, Obergrenzen dürfe es für Christen eigentlich nicht geben, dann verschleiert das Wort „eigentlich“ den Unterschied zwischen Hilfsbereitschaft und tatsächlicher Hilfe. Für die Hilfsbereitschaft darf es keine Obergrenzen geben, für die tatsächliche Hilfe jedoch sehr wohl. Der katholische Philosoph Robert Spaemann hat den Unterschied richtig benannt: „Uneingeschränkt kann die Hilfsbereitschaft sein, aber nicht die tatsächliche Hilfe. Es kann nicht unsere Pflicht sein, uneingeschränkt zu helfen, weil es nicht möglich ist. Wir können es nicht. Und wir sollten auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn wir unserer Hilfe Obergrenzen setzen. Zudem ist es so, dass, wenn es solche Grenzen gibt, man auswählen muss, wen man nimmt und wen nicht.“
Die Ordnung der Liebe
Eine radikal individualistische Auslegung der Menschenrechte ist demnach unhaltbar. Der auch von einigen christlichen Sozialethikerinnen vertretene Satz: „Die Person hat Vorrang vor jeder gesellschaftlichen Institution“ ist irreführend. Wenn gesellschaftliche Institutionen dem Schutz menschlichen Lebens dienen, dann stehen im Konfliktfall nicht Personen und Institutionen, sondern Personen und Personen einander gegenüber. Der Philosoph Konrad Ott weist darauf hin, dass der normative Individualismus in gesinnungsethischer Lesart keine Kontingentierungslösungen für Flüchtlinge zulässt. Zu jedem beliebig hohen Kontingent an Flüchtlingen lässt sich immer noch ein weiterer Flüchtling hinzudenken, der entsprechend dem normativen Individualismus die gleichen Rechte hat wie sämtliche Flüchtlinge vor ihm (Zuwanderung und Moral, Stuttgart 2016, 33). Die Gesinnungsethik, so Ott, führt letztlich zur Forderung nach offenen Grenzen (44).
Die katholische Lehre weiß um die „Ordnung der Liebe“ (ordo amoris). Der bedeutende Theologe Origenes warnt vor den Gefahren einer maßlosen Liebe: „Selbst Liebe ist nicht ohne Gefahr: sie kann maßlos werden. Wer jemanden liebt, darf die Natur und die Motive der Liebe nicht aus den Augen verlieren und sollte den Partner nicht mehr lieben, als er es verdient (...) Man muss auch der Liebe Zügel anlegen und darf ihr nicht erlauben, so frei auszuschweifen, dass sie schließlich in einen jähen Abgrund stürzt“ (Homilien zum Lukasevangelium, 25,1 und 6; FC 4/1, 269; 273). Die Lehre von der geordneten Liebe gehört zu den zentralen Einsichten einer christlichen Lebensführung und hat nichts von ihrer Aktualität verloren. Beim Menschen sind nach Origenes grundsätzlich zwei Formen der Liebe zu unterscheiden: die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten. Die Liebe zu Gott ist ohne Maß: „Denn in Christus Jesus ist Gott zu lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allen Kräften“ (in cant. III,4; vgl. Dtn 6,5; Lk 10,27). Die Liebe zum Nächsten aber hat ein Maß: „Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst“. Und bei der Liebe zum Feind wird ohne nähere Angabe gesagt: „Liebet eure Feinde“ (Mt 5,44). Gott verlangt vom Menschen also nichts Unmögliches. Er gibt der menschlichen Liebe ein Maß, dem der Mensch zu entsprechen hat und das er durchaus erfüllen kann. Bei vielen Menschen, so Origenes, ist die Liebe ungeordnet (hom. in cant. II,8).
Auch im Umgang mit Fremden und Ausländern setzt die Bibel die Anwendung von Vorzugsregeln voraus. Das Alte Testament unterscheidet zwischen dem Fremden (ger) und dem Ausländer (nokri) – so die übliche Übersetzung für zwei unterschiedliche hebräische Begriffe. Mit dem Fremden ist der innerisraelitische Immigrant gemeint. Der häufig zitierte Satz: „Einen Fremden (ger) sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn Fremde seid ihr gewesen im Lande Ägypten“ (Ex 22,20) bezieht sich nicht auf Angehörige anderer Völker, sondern auf Angehörige des eigenen Volkes.
Ihnen gegenüber gilt das Gebot der Integration: „Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn Fremde seid ihr gewesen im Lande Ägypten“ (Lev 19,33f.). Anders wird der Umgang mit Ausländern (nokri) geregelt. Der Ausländer ist jemand, „der nicht von deinem Volk Israel ist und aus einem fernen Land kommt“ (1 Kön 8,41; die revidierte Einheitsübersetzung übersetzt hier leider nicht konkordant). Auch die Ausländer sind in Israel nicht schutzlos, sie sind jedoch dem „Bruder“ im eigenen Volk rechtlich nicht gleichgestellt. „Nur aus der Mitte deiner Brüder darfst du einen König über dich einsetzen. Einen Ausländer darfst du nicht als König über dich einsetzen, weil er nicht dein Bruder ist“, heißt es im Königsgesetz des Deuteronomiums (17,15). Soweit erkennbar, gehören Ausländer in der Lebenswelt des Alten Testaments nicht zu den Armen. Dem Ausländer „verkauft“ man, dem Fremden „gibt“ man (Dtn 14,21).
Der biblische Sprachgebrauch ist vielfältiger. Er kann nicht eins zu eins auf moderne Staats- und Religionszugehörigkeit übertragen werden. Integration nach innen und Abgrenzung nach außen sind Prinzipien, die im Alten wie im Neuen Testament in theologisch reflektierter Weise zueinander in Beziehung gesetzt werden. Über die Erwählung eines Volkes gelangt Gottes Heil zu allen Völkern. Dann wird der Ausländer (nokri), „der sich dem HERRN angeschlossen hat“ (Jes 56,3), nicht mehr ausgeschlossen sein und Gottes Haus wird „ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden“ (Jes 56,7).
Eines der am häufigsten im Rahmen der Flüchtlingsdiskussion zitierten Worte der Bibel stammt aus dem Gleichnis vom Endgericht im Matthäusevangelium (25,40): „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Die Aussage wird gewöhnlich in einem universalistischen Sinn verstanden. Unter den geringsten Brüdern, so wird gesagt, sei jeder Mensch zu verstehen. Das universalistische Verständnis der Perikope ist jedoch mit ziemlicher Sicherheit falsch. Mit den „geringsten Brüdern“ sind die Angehörigen der christlichen Gemeinde gemeint. So haben die Kirchenväter den Text verstanden. Der evangelische Exeget Ulrich Luz hat sich mit der Auslegungsgeschichte des Gleichnisses beschäftigt und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass der Evangelist in Jesu notleidenden Brüdern aller Wahrscheinlichkeit nach nicht jeden notleidenden Menschen, sondern notleidende Jünger gesehen hat. Dennoch möchte Luz den Text gegen seinen ursprünglichen Sinn universalistisch verstehen, also auf alle Menschen beziehen. Nur in dieser Deutung sieht er das Anliegen Jesu gewahrt (Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/3, Zürich 2012, 542).
Die von Luz gegen den Textsinn gerichtete Lesart erübrigt sich, wenn man zwischen der Liebe als Gesinnung und der Liebe als Tat unterscheidet. In Mt 25 geht es um die Liebe als Tat. Und da gelten die klassischen Vorzugsregeln, und zwar gelten sie für alle Völker (Mt 25,32). Unter sonst gleichen Umständen ist es sinnvoll und geboten, sich zunächst einmal um die „notleidenden Jünger“, also die Mitglieder der eigenen Gemeinde, zu kümmern. Damit wird der ethische Universalismus nicht aufgehoben, im Gegenteil: Er findet eine konkrete Anwendung, bei der miteinander konkurrierende Güter gegeneinander abgewogen werden müssen.
Jüngst hat sich der katholische Exeget Gerhard Lohfink eingehend mit dem Text befasst und die hier vertretene Auslegung bestätigt. Er verweist auf den Gebrauch des Wortes „Bruder“ im Matthäusevangelium: „Überall, wo im Matthäusevangelium das Wort ‚Bruder‘ vorkommt, ist es entweder der ‚leibliche Bruder‘ oder der ‚Bruder im Glauben‘, meistens sogar der ‚Bruder in der Gemeinde‘ beziehungsweise der ‚Jünger‘ (...) Niemals – ich betone: niemals – sind es in einem universalen Sinn die ‚Menschen-Brüder‘ beziehungsweise die Elenden oder die Armen der ganzen Welt“ (Im Ringen um die Vernunft. Reden über Israel, die Kirche und die Europäische Aufklärung, Freiburg 2016, 478–494).
Gerhard Lohfink begeht nun nicht den Fehler, den Text gegen seinen Ursprungssinn universalistisch auszulegen, sondern zeigt, wie sich die ursprüngliche Bedeutung stimmig in die Theologie des Evangeliums einfügt. Das mag für eine universalistische Lesegewohnheit provokativ klingen, deutet jedoch den biblischen Befund völlig korrekt. Über die Erwählung eines Volkes gelangt die Liebe Gottes zu allen Völkern, nicht an der Erwählung des Volkes vorbei: „Der Menschensohn identifiziert sich also in Matthäus 25 mit seinen Jüngern, mit seinen Nachfolgern, mit seinen Jüngergemeinden. So sehr Christus auf der Seite aller Armen steht: Die wichtigste Sache in der Welt ist ihm die Existenz seines Volkes, weil nur über dieses Volk den Armen der Erde wirklich geholfen werden kann. Das ist ein Grundgedanke biblischer Theologie. Deshalb geht es im Gericht über die Völker darum, wie sie sich zu den christlichen Glaubensboten, wie sie sich zu den christlichen Gemeinden verhalten haben“ (488).
Lohfink geht auch auf die aktuelle Flüchtlings- und Migrationskrise ein. Er weist darauf hin, dass hier Abwägungen zwischen Gütern zu treffen sind, die miteinander konkurrieren, und dass es die Aufgabe des Staates ist, „für Ordnung und Stabilität im Land Sorge zu tragen“: „Die gesamte Endzeitrede ist an die Jünger Jesu und damit an die Christen gerichtet. Das heißt aber auch: Sie ist nicht an den Staat gerichtet. Der Staat muss sich an seine eigenen Gesetze halten, an das Recht, das er in (hoffentlich!) klugem Ermessen und im Einklang mit den Menschenrechten aufgerichtet hat. Er muss sich darüber hinaus an Rechtsordnungen halten, die er, zusammen mit anderen Staaten, beschlossen hat, um die Flüchtlings- und Asylantenfrage zu lösen. Gesetz und Rechtsordnungen dieser Art versuchen einen Ausgleich. Sie wollen das eigene Land für Verfolgte offen halten und Kriegsflüchtlingen Schutz gewähren, bis diese ohne Gefahr zurückkehren können. Die staatlichen Gesetze müssen aber zugleich für Ordnung und Stabilität im Land Sorge tragen und gewährleisten, dass der soziale Zusammenhang nicht gefährdet wird. Diese Balance herzustellen, ist gegenwärtig eine schier unmenschlich schwere Aufgabe. Sie ist nur mit Geduld und ruhiger Vernunft zu meistern“ (493).
Guter Wille, richtige Tat
Damit stoßen wir auf eine weitere, wichtige Unterscheidung, die zur Versachlichung der Diskussion beitragen kann. Es geht um die Unterscheidung zwischen dem sittlich guten Willen und der sittlich richtigen Tat. Damit der sittlich gute Wille zur sittlich richtigen Tat wird, bedarf es der Einsicht in nicht-sittliche Sachverhalte. Wer einem Kranken zur Hilfe kommt, hat einen sittlich guten Willen. Er hat Einsicht in das sittlich Gute. Ob die angewandte Hilfe dem Kranken wirklich zugutekommt, hängt vom Wissen um nicht-sittliche Sachverhalte ab. Der Helfer muss sich in der Behandlung der jeweiligen Krankheit auskennen.
Wenn er dabei aus einem unverschuldeten Irrtum heraus handelt, dann handelt er zwar sittlich gut, weil sein Wille gut ist, jedoch sittlich falsch, weil er aufgrund eines Irrtums die falschen Maßnahmen ergreift. Damit der sittlich gute Wille der Kirche zur sittlich richtigen Tat werden kann, muss sie sich um ein entsprechendes Wissen bemühen. Im Allgemeinen tut sie das. Es ist selbstverständlich, dass sich die Kirche in ihren karitativen Einrichtungen um Professionalität bemüht. Nur dann kann sich ihr Liebesdienst zum Wohl der Menschen auswirken.
Der häufig im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise verwendete Begriff des „Gutmenschentums“ ist also keineswegs sinnlos. Er bezeichnet ein Verhalten, das zwar im Sinne des Willens sittlich gut ist, jedoch im Hinblick auf das, was dabei tatsächlich bewirkt wird, sittlich falsch. Ein Gutmensch wäre also ein Heiliger, der aus unverschuldetem Irrtum Unheil unter seinen Mitmenschen anrichtet. Wenn etwa während der mittelalterlichen Pestkatastrophe Christen unter hohem Einsatz ihres Lebens Pestkranken geholfen haben, dabei aber hinsichtlich der Übertragung dieser Krankheit unwissend waren und entsprechende Hygienemaßnahmen nicht beachtet wurden und das entsprechende Wissen um diese Zusammenhänge in der damaligen Zeit noch nicht zur Verfügung stand, dann haben sie zwar wie Heilige gehandelt, leider jedoch nicht zum Wohle der Kranken. Sie waren Heilige, aber keine Wohltäter.
Mit dieser Unterscheidung lässt sich ein Teil der höchst kontrovers geführten Diskussion um die Flüchtlingspolitik verstehen. Meiner Einschätzung nach geht es dabei vor allem um Einsichten in nicht-sittliche Sachverhalte und nicht so sehr um Fragen des sittlich guten Willens. Die dabei relevanten nicht-sittlichen Sachverhalte sind offensichtlich sehr komplex. Wenn es dabei innerhalb der Kirche und Theologie zu unterschiedlichen Einschätzungen hinsichtlich eines sittlich richtigen Handelns kommt, dürfte dies vor allem mit der unterschiedlichen Kenntnis und Einschätzung nicht-sittlicher Sachverhalte zusammenhängen.
Beispielsweise hat der ägyptische Jesuit Henri Boulad aufgrund seiner langjährigen Kenntnis des Islams die in seinen Augen zu naive Flüchtlingspolitik westlicher Regierungen kritisiert. „Naiv“ heißt in diesem Fall nicht sittlich böse, sondern sittlich falsch. Er hat den Verantwortlichen vorgeworfen, hinsichtlich der kulturellen und politischen Ausrichtung des Islams weitgehend in Unkenntnis zu sein. Es gibt auch andere Stimmen. Die weniger Angst machenden islamfreundlichen Stimmen sind nicht per se „christlicher“ als die Angst machenden islamkritischen Stimmen. Es geht um Einsichten in nicht-sittliche Sachverhalte und um die Abwägung und Abschätzung von Handlungen.
Ähnliches lässt sich beobachten, wenn Politiker oder Vertreter der Kirchen in dieser umstrittenen Frage ihre Meinung ändern. Das muss keineswegs, wie oft unterstellt, damit zusammenhängen, dass sich der Stand ihrer Sittlichkeit verändert hat, sondern dürfte in vielen Fällen mit dem Grad ihres Wissens und der erneuten Abwägung bereits eingetretener Folgen zusammenhängen. Was als christlich angesehen werden kann, ist in der Flüchtlingspolitik größer als gewöhnlich angenommen.