Abend- und Morgenland waren ursprünglich zwei wertfreie, rein geographische Begriffe, die sich auf den Lauf der Sonne bezogen. Im Osten, dem „Orient“, ging sie am Morgen auf und im Westen, im „Okzident“ abends unter. Die italienischen Begriffe Levante und Ponente bedeuten dasselbe. Die Begriffe sind relativ: Von China aus könnte man den Vorderen Orient als Abendland bezeichnen und umgekehrt von Amerika aus Westeuropa als Morgenland.
Wo zieht man also die Grenzlinie zwischen den beiden geographischen Räumen? Wann ist eine solche überhaupt entstanden und wie hat sie sich im Verlauf der Geschichte verändert? Und zuletzt: Wie und wodurch wurden die ursprünglich neutralen Bezeichnungen zu ideologisch aufgeladenen Wertbegriffen?
Der Graben öffnet sich
Man kann schon in der Antike Abgrenzungsversuche bestimmter Völkerschaften in Europa und Asien erkennen. Sie waren aber vorübergehend und selbst der endgültige Untergang des Weströmischen Reiches (476) änderte daran nichts Entscheidendes, da Byzanz seine Ansprüche auf den Westen nicht preisgab und bisweilen kriegerisch auch durchsetzte.
Zum ersten Mal öffnete sich ein dauerhafter Graben zwischen Abend- und Morgenland im 7. und beginnenden 8. Jahrhundert. Zum einen dadurch, dass von Karl dem Großen das Weströmische Kaisertum erneuert und endgültig von Ostrom abgesetzt wurde und damit eine gewisse Einigung der westeuropäischen Kernländer stattfand, verbunden mit einer Expansion nach Süden und Osten. Noch weit folgenreicher war aber die bald nach dem Tod Mohammeds (632) erfolgte Errichtung eines arabischen Reiches unter den ersten Kalifen.
Dieses expandierte in wenigen Jahrzehnten enorm: Persien, Syrien und Irak, Ägypten und ganz Nordafrika, zuletzt das westgotische Königreich Spanien und die großen mittelmeerischen Inseln wurden erobert. Von Spanien aus drangen die Araber in Frankreich ein, wurden aber auf den Schlachtfeldern von Tours und Poitiers von Karl Martell besiegt. Im Osten wurde das byzantinische Reich, kurz nachdem es unter Kaiser Herakleios I. um 630 seine größte Ausdehnung erreicht hatte, von den Arabern angegriffen, wodurch die im Osten erworbenen Gebiete wieder verloren gingen. Zweimal belagerten die Araber sogar Konstantinopel, konnten aber durch die überlegene Militärtechnik der Angegriffenen abgewehrt werden.
Mit diesen Ereignissen wurde eine Grundkonstellation geschaffen, die lange für Europa prägend war: Es gab jetzt eine zwar im Einzelnen immer wieder leicht verschiebbare, aber im Prinzip klare Grenzlinie zwischen West und Ost, die durch die religiöse Verschiedenheit auch eine erste ideologische Aufladung erhielt: Muslime standen Christen gegenüber; es ging nicht bloß um die politische Macht, sondern auch um den rechten Glauben. Über ein Jahrtausend lang, bis zum 18. Jahrhundert, fand sich die Christenheit (christianitas) fast ständig im Kampf mit dem Islam.
Wenn es dazwischen längere Friedensperioden gab, so waren diese nicht einer grundsätzlichen Bereitschaft dazu zu verdanken, sondern meist äußeren Umständen. Die arabischen Fürstentümer und das spätere Osmanische Reich wurden nämlich ihrerseits im Osten angegriffen, etwa durch die Mongolen oder die Perser (selber Muslime, aber Schiiten), konnten aber keinen Zweifrontenkrieg führen. Dasselbe gilt natürlich umgekehrt für die Staaten des Westens.
Einen ersten kriegerischen Höhepunkt brachten neben Byzanz die Kreuzzüge. In den sich demographisch, politisch und wirtschaftlich entwickelnden Ländern Westeuropas fand man im Hochmittelalter, man sei jetzt stark genug, die an die Ungläubigen verlorenen, ehemals christlichen Ländereien, vor allem das Heilige Land selbst, wieder zurückzugewinnen. Die Kreuzzüge werden gerne als Beispiel religiös motivierter Gewalt, von der auch Christen keine Ausnahme machten, zitiert. Bloß: Kriege sind immer grausam, was auch immer ihr Anlass ist. Dass neben den religiösen Motiven auch weniger edle (Abenteuerlust, ritterliche Kampfideale) wirkten, ist bekannt. Zusätzlich kamen erstmals wirtschaftliche Interessen ins Spiel: Venedig suchte den lukrativen Handel mit den Luxusprodukten des Orients in seine Hände zu bekommen.
Namentlich die 1054 erfolgte Abspaltung der griechischen Kirche von der römischen und danach der Vierte Kreuzzug, der zur Errichtung des allerdings kurzlebigen Lateinischen Kaiserreichs in Konstantinopel (1204–1261) führte, hat einige Historiker veranlasst, die Grenzlinie von Abend- und Morgenland zwischen dem Westen und Byzanz zu ziehen. Das ist wenig überzeugend, denn der Graben zwischen Muslimen und Christen war und blieb größer als derjenige zwischen den beiden Christentümern. Außerdem wurden in den folgenden Jahrhunderten immer wieder Versuche unternommen, das Schisma zu überwinden, letztlich allerdings ohne Erfolg.
Die Kreuzfahrerstaaten hatten nur zweihundert Jahre Bestand. 1453 fielen sogar Konstantinopel und wenig später alle verbliebenen byzantinischen Teilstaaten an die Osmanen. Diese konnten sich ferner nicht nur sämtliche übrigen islamischen Teilreiche im Vorderen Orient und Nordafrika einverleiben, sondern stießen großflächig auf dem Balkan vor, wodurch sich die Christen im heutigen Griechenland, Bulgarien, Serbien, Bosnien, Rumänien und größten Teil Ungarns den islamischen Sultanen beugen mussten. Allerdings betrieben die Osmanen keine allgemeine Islamisierung, sondern ließen die orthodoxe Kirche weiter leben, wenn auch unter vielen Einschränkungen (so durften Kirchen keine Türme haben und eine bestimmte Höhe nicht überschreiten).
Die Christen waren Bürger zweiter Klasse und wurden stärker besteuert. Ämter waren ihnen verschlossen und wer im Staate Karriere machen wollte, musste zum Islam übertreten, was gar nicht so selten vorkam. Berüchtigt war die „Knabenlese“: Kräftige Jungen wurden ihren christlichen Familien entrissen, islamisch erzogen und für den militärischen Dienst in der Elitetruppe der Janitscharen ausgebildet, wo sie gegen ihre früheren Glaubensgenossen kämpfen mussten.
Der Satz, dass der Islam zu Europa gehöre, wird gelegentlich mit dem Beispiel des ab 711 von arabischen Taifa-Dynasten regierten Spanien illustriert. Tatsächlich lebten im Frühmittelalter in Andalusien Christen, Mauren und Juden offenbar ziemlich friedlich miteinander und brachten es dabei zu eindrücklichen kulturellen Leistungen, besonders in der Astronomie und Medizin. Wichtige Übersetzungen antiker Werke entstanden hier, erlesene Architektur und die damals am meisten entwickelte Landwirtschaft (mit Bewässerung) zeugen von dieser großartigen Epoche. Allerdings können wir wegen der allgemeinen Quellenarmut dieses Zeitalters kaum etwas über den Alltag in Andalusien erfahren – vielleicht gab es unterhalb der Elite doch einige Spannungen. Vor allem aber war dieser Zustand im Rahmen ganz Europas eben doch nur eine Randerscheinung, ein Glücksfall besonderer Art. Schon bald unternahmen ferner christliche Könige ständig Versuche, die Araber wieder zu vertreiben, eine Politik, die mit dem Fall von Granada (1492) ihr Ziel erreichte.
Das 16. und 17. Jahrhundert waren erfüllt von Kämpfen der abendländischen Staaten mit den Osmanen. Die Hauptlast dabei trugen Spanien samt dem von ihm beherrschten Königreich Neapel, der Kirchenstaat, Venedig, die Johanniter in Malta und die österreichischen Habsburger. Türkische Korsaren machten das Mittelmeer unsicher und führten viele Bewohner der Küstenstädte in die Sklaverei. Doch kam auch das Umgekehrte vor. Dass die Päpste die Türkenkrieger vor allem finanziell unterstützten, leuchtet ohne Weiteres ein. Venedig suchte seine Handelsstützpunkte zu retten, größtenteils jedoch erfolglos. Die österreichischen Habsburger, seit der verlorenen Schlacht von Mohacs auch Könige von (Rest-)Ungarn, sahen sich direkt bedroht: 1529 wurde von Suleiman II. (dem Großen) erstmals Wien belagert, allerdings erfolglos.
Aus diesem Abwehrkreis scherte Frankreich aus; es schloss im Gegenteil schon im 16. Jahrhundert und dann vor allem unter dem „allerchristlichsten“ König Ludwig XIV. verschiedene geheime Abkommen mit den Türken zum Zweck, seinen säkularen Gegner Habsburg zu schwächen. Hier dominierten also politische Interessen die religiösen. Umgekehrt hatte die von den Türken verlorene Seeschlacht von Lepanto (1571) ideologische Wirkungen. Der Sieg wurde nämlich der überirdischen Hilfe der Gottesmutter Maria zugeschrieben. Die Marienverehrung, besonders Rosenkranz und Ave-Läuten, gewann dadurch im katholischen Europa große Popularität; hier wurde zum ersten Mal greifbar christlich-abendländischer Geist beschworen.
1683 wurde Wien zum zweiten Mal, aber wiederum erfolglos, von den Türken bestürmt. In der Folge wendete sich das Blatt. Unter dem Feldherrn Prinz Eugen von Savoyen drängten die habsburgischen Heere die osmanischen auf dem Balkan zurück und gewannen wieder Stück für Stück der verlorenen Länder. Das roll back begann, die Gefahr schien endgültig gebannt.
Mit der Aufklärung beginnt ein Zeitalter der Entspannung
Diese politische Lage war aber nur eine der Bedingungen für eine bis weit ins 20. Jahrhundert reichende Entspannung auf der Grundlage der Aufklärung. Das ethnologische Interesse Europas richtete sich neben den „edlen Wilden“ und den konfuzianischen Chinesen auch auf den Nahen Orient. Die morgenländische Dichtung wurde durch Übersetzungen rezipiert, die beliebten Märchen aus Tausendundeiner Nacht erschienen schon bald nach 1700 auf Französisch. In Deutschland interessierte sich bekanntlich Johann Wolfgang von Goethe im „West-östlichen Divan“ für diese Poesie, ihm folgten weitere Dichter wie August von Platen oder Friedrich Rückert. In Wien schuf Kaiserin Maria Theresia 1754 die Orientalische Akademie zur Ausbildung von Diplomaten, die im Osmanischen Reich wirken; hier begründete Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall die wissenschaftliche Orientalistik.
Auch in Frankreich gab es entsprechende Ansätze, die in der Ägypten-Expedition Kaiser Napoleons gipfelten. Der Absolutheitsanspruch des Christentums wurde von radikalen Aufklärern kritisiert. Gotthold Ephraim Lessing machte die bereits im Mittelalter kursierende Ringparabel, welche die Frage nach der Wahrheit der drei großen Religionen offen ließ, wieder populär. In der großen Politik war schon seit dem Westfälischen Frieden von 1648 das religiös-konfessionelle Moment zugunsten des vorwiegend machtpolitischen zurückgetreten. Handelsinteressen förderten die Bereitschaft, mit dem Osmanischen Reich möglichst friedlich auszukommen.
Diese Entwicklung ging im 19. Jahrhundert bruchlos weiter. Allerdings kam es damals auch zu einer gewissen Gegenbewegung, nämlich in der Romantik und vor allem bei ihren zum Katholizismus konvertierten Vertretern. Namentlich durch Novalis (Friedrich von Hardenberg) und Friedrich Schlegel wurde die Idee eines auf das Mittelalter zurückgreifenden christlichen Abendlandes formuliert, hier liegt der Kern aller späteren Bemühungen dazu. Sie entfaltete aber vorerst wenig Wirkung, die Zukunft gehörte mehrheitlich dem politischen, wirtschaftlichen und geistigen Liberalismus.
Auf der Landkarte wurden die Osmanen im 19. Jahrhundert ständig weiter in Europa und darüber hinaus angegriffen, ihr Territorium wurde zur Verteilungsmasse der europäischen Großmächte. Griechenland und danach die Balkanstaaten erklärten sich unabhängig. Im Norden drängte Russland seit Zar Peter und dann vor allem Zarin Katharina nicht nur nach Westen, sondern auch nach Süden vor und eroberte großflächig islamische Gebiete, bis weit nach Innerasien. Im Süden formulierte England seine Ansprüche mittels Schutzherrschaften und Interessensphären in Indien, Afghanistan, Iran, an der arabischen Küste und in Ägypten. Das islamische Nordafrika fiel zum größten Teil an Frankreich, zum kleineren an Spanien und Italien.
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurde in Europa die heutige Grenze zur Türkei erreicht. Das einstmals für das Abendland so furchterregende Osmanische Reich glich damals mehr einem armen gerupften Huhn. Man sprach vom „kranken Mann am Bosporus“. Fortschrittlich gesinnte Sultane suchten den ständigen Niedergang durch Reformen und Übernahme westlicher Errungenschaften aufzuhalten, aber auch die westlichen Politärzte konnten den Patienten nicht heilen. 1914 beging das islamische Reich den Fehler, auf Seiten der Mittelmächte in den Krieg einzutreten, was sie bei den Pariser Vorortsverträgen auf die Seite der Besiegten brachte. Pläne, die Türkei vollends zu zerschlagen und ihr Gebiet einerseits den westlichen Großmächten, andererseits neuen unabhängigen Staaten (Armenien, Kurdistan) zuzuteilen, scheiterten allerdings am Widerstand der türkischen Restarmee unter Kemal Pascha Atatürk (1920–1922).
Dennoch, die jahrtausendealte Grenzlinie zwischen Abend- und Morgenland schien jetzt aufgehoben. Dies umso mehr, als nun Atatürk eine entschiedene Modernisierung und damit teilweise eine „Entislamisierung“ des Landes einleitete, mit Übernahme westlicher Verfassungsgrundsätze, der lateinischen Schrift, moderner Kleidung, Technik und vielem mehr. Iran folgte nach dem Zweiten Weltkrieg unter Schah Reza Pahlevi diesem Beispiel; in Irak, Syrien und dem Libanon geschah es unter dem Einfluss der Protektoratsmächte England und Frankreich. Auf Fotos noch um 1970 gleichen große orientalische Städte wie Istanbul, Kairo, Beirut, Bagdad oder Teheran durchaus westlichen: Neubauten im westlichen Stil sind prägend, Frauen gehen unverschleiert durch die Straßen und die Elite frönt in allen Lebensbereichen dem westlichen Vorbild. Die Türkei wurde zudem nach 1945 ins nordatlantische Verteidigungsbündnis (NATO) einbezogen.
Das Abendland und der Eiserne Vorhang
Die Grenzlinie zwischen Christenheit und Islam bestand also im 20. Jahrhundert eigentlich nicht mehr. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine andere ersetzt, nämlich die zur kommunistischen Sowjetunion und ihren nach 1945 entstandenen Satellitenstaaten. Diese Grenze, der „Eiserne Vorhang“, war kaum mehr überschreitbar und die ideologischen Differenzen wurden auf beiden Seiten aufs Schärfste betont. In diesem Zusammenhang erlebte in Westeuropa auch der Abendland-Gedanke eine Renaissance, ja eine vordem nie gekannte Hochkonjunktur.
Die Grundlagen dazu wurden zwar schon in der Zwischenkriegszeit formuliert, nicht durch Oswald Spengler und sein viel gelesenes Buch „Der Untergang des Abendlandes“, sondern eher durch katholische Publizisten, welche auch eine Zeitschrift unter dem Titel „Abendland“ herausgaben (ab 1925). Das kommunistische Russland existierte schon, spielte allerdings wegen der inneren Probleme noch kaum eine weltpolitische Rolle.
Die Abendland-Ideologie war nicht nur gegen den atheistischen Kommunismus gerichtet, sondern sollte in Deutschland auch gegenüber dem nationalsozialistischen Ungeist wieder christlich-humane Werte zur Geltung bringen. Dichter wie Reinhold Schneider oder Werner Bergengruen formten sie literarisch, katholische Theologen historisch. Der erste deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer berief sich schon in seiner ersten Regierungserklärung auf den „Geist der christlich-abendländischen Kultur“; ähnlich dachte der erste Bundespräsident Theodor Heuss. Aber auch für andere europäische Staatsmänner, vornehmlich Christdemokraten, war dies die Basis ihrer politischen Anstrengungen. Ein zweites Ziel war nämlich, die ebenfalls schon früher ins Auge gefasste Einigung Europas nun konkret voranzubringen.
Die alte Grenze ist zurück
Das karolingische Reich diente dabei als Vorbild; in diesem Zusammenhang ist die Stiftung des Karlspreises in Aachen zu sehen. Dieses Projekt wurde mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und später der Europäischen Union realisiert. Gerade dieser Erfolg, dazu aber auch die materiellen Segnungen des Wirtschaftswunders und die kulturelle Amerikanisierung Westeuropas waren mit ein Grund, dass die Abendland-Begeisterung schon in den Fünfzigerjahren merklich zurückging und fast völlig verschwand. Den Begriff „Abendland“ benutzten seitdem vor allem noch konservative Denker und Politiker. Das Verdienst der Abendland-Ideologie, Deutschland und Frankreich nach drei schrecklichen Kriegen endgültig ausgesöhnt zu haben, sollte indes nicht gering geschätzt werden.
In den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde dann deutlich, dass die neue Grenzlinie nur eine vorübergehende gewesen war und die alte sich wieder kräftig bemerkbar machte. Die Gründe dazu sind vielfältig. Der Umsturz in der Sowjetunion samt den Satellitenstaaten ließ jene hinfällig werden. Wenn man überhaupt Grenzlinien zur Festigung der eigenen Identität und zur Abwehr des Gegners als notwendig erachtete, konnte somit die Leerstelle mit der alten wieder gefüllt werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Protektoratsstaaten im Nahen Osten ganz unabhängig geworden, ebenso die Kolonien in Nordafrika. Der Islam bekam damit eine politische Basis.
Folgenschwer war dabei auch die Gründung des Staates Israel. Als Reaktion auf die forcierte Verwestlichung setzte, wie man besonders gut im Iran und der Türkei Recep Tayyip Erdoğans beobachten kann, eine islamische Gegenbewegung ein. Sie könnte auch eine Kompensationsfunktion haben, denn die westliche Technik – Bauwesen, Flugplätze, Staudämme, Atomtechnologie und so weiter – wurde nämlich trotzdem ohne Vorbehalte übernommen. Umgekehrt war es in Europa. Die Einwanderung ehemaliger muslimischer Kolonialuntertanen in die Mutterländer Frankreich und England, in Deutschland die Rekrutierung türkischer Arbeitskräfte seit den Sechzigerjahren führten zu einer massiven Zunahme islamischer Gläubiger. Da und dort entstanden eigentliche Parallelgesellschaften; neue Moscheen wurden zu Hunderten geschaffen und die Zuwanderer markierten bisweilen überdeutlich ihr muslimisches Selbstbewusstsein. Das führte zu dem allgemein bekannten Unbehagen in der Bevölkerung und entsprechenden Gegenbewegungen.
Die Zeichen stehen also überall auf Konfrontation: Die zwar geschwächte, aber im Wesentlichen immer noch christliche Kultur des Westens und der Islam stehen einander wiederum direkt gegenüber. Etwas zynisch könnte man bemerken, es sei damit nach einer Verschnaufpause der frühere tausendjährige Normalzustand wieder hergestellt. Ob unter diesen Auspizien ein Dialog in Zukunft noch erfolgreich sein kann, scheint fraglich. Er müsste jedenfalls beiderseits auf Augenhöhe erfolgen, wozu die Bedingungen aber derzeit nicht gegeben sind.
Natürlich gibt es „den“ Islam nicht, das Spektrum reicht vom IS bis zu liberalen muslimischen Intellektuellen im Westen. Aber selbst bei diesen bleibt wohl immer ein Kern des Fremden übrig, sogar dann, wenn sie die säkularisierten Werte des Westens, wie sie etwa Bassam Tibi formuliert hat, voll übernehmen. Dies kann übrigens gleichwohl keine Lösung des Problems sein, weil diese Werte selber nicht absolut gelten können, sondern immer der Interpretation bedürfen, was ebenfalls Vorbedingung eines Dialogs wäre. Das spanische Exempel aus dem Frühmittelalter wäre zwar ein schönes Vorbild, aber die Geschichte wiederholt sich nicht und bekanntlich lernen die Menschen auch wenig aus ihr.
Allerdings beruht die aktuelle reale Macht der islamischen Welt auf einem einzigen Stoff: dem Erdöl, das zum größten Teil der arabischen Wüste entquillt. Durch die allgemeine Motorisierung, den rasant gestiegenen Flugverkehr, aber auch für die Erzeugung elektrischer Energie und als Rohmaterial für die verschiedensten Kunststoffe ist sein Verbrauch seit 1950 sprunghaft angewachsen. Dies hat dem Nahen Osten einen Reichtum verschafft, der wirklich orientalisch märchenhaft anmutet und an Dagobert Duck auf seinen Goldsäcken erinnert. Er ermöglichte den Golfstaaten die weltweit höchsten Wolkenkratzer, die luxuriösesten Hotels, die künstlichsten Landschaften und die elaborierteste Technik und gab ihnen gleichzeitig die Möglichkeit, überflüssiges Kapital im Westen anzulegen. Damit ist der Westen in eine fatale Abhängigkeit geraten. Würde man ihm den Ölhahn zudrehen (was zwar kaum geschehen wird), bräche seine Zivilisation schlagartig zusammen. Das dürfte der wesentliche Grund sein, jeder ernsthaften Auseinandersetzung mit Staaten wie Saudi-Arabien auszuweichen.