Im April 2011 wurde der chinesische Künstler Ai Weiwei auf dem Pekinger Flughafen verhaftet und an einen bis heute unbekannten Ort verschleppt. Im Juni des gleichen Jahres wurde er freigelassen und unter Hausarrest gestellt; bis in den August 2015 enthielt ihm die chinesische Regierung seinen Reisepass vor, sodass sich sein Gefängnis bis an die Grenzen Chinas erstreckte. Erst im August 2015 durfte er ausreisen und hat seinen Lebensmittelpunkt seither in Berlin.
Er, der er nie ins Exil gehen wollte, der das Leben seines Vaters an diesem Punkt nicht nachleben wollte, könnte wohl nach China zurück, allein, es fehlte ihm dort die Luft zum Atmen: die Luft der Freiheit, einer Freiheit „freier als der Wind“, wie Ai Weiweis Vater Ai Qing 1979 in seinem Gedicht über die Berliner Mauer schrieb.
Ai Qing ging als Neunzehnjähriger nach Paris, um Malerei zu studieren, und kam mit Immanuel Kant und Friedrich Hegel, mit den Gedichten von Wladimir Majakowski und Émile Verhaeren zurück. Er schloss sich Maos Langem Marsch an und wurde dessen großer Sänger. Er wurde Mitglied der Kommunistischen Partei, als einer der wesentlichen Dichter des revolutionären China war er auch Hochschullehrer und Kulturfunktionär.
1958, da war sein Sohn Weiwei noch kein Jahr alt, war der Literat Teil der „Hundert-Blumen-Bewegung“, einer Modernisierungskampagne, die ihn wie tausenden und abertausenden anderen die Freiheit kostete. Er wurde in die Mandschurei und nach Xinjiang deportiert, fast zwanzig Jahre durfte er nicht publizieren. Viele Jahre lebt die Familie in einer „Höhlenwohnung“, der Vater wird gezwungen, Latrinen zu putzen. Hier erlebt Ai Weiwei als Kind und Jugendlicher eine Erfahrung von Ausgrenzung und Unterdrückung und den Zusammenhang von Barbarei und der daraus resultierenden Abwesenheit von Kunst.
Die Freiheit der Kunst und die Freiheit der Menschen
1978 ist die Kulturrevolution am Ende, Ai Weiwei wird erster Student an der Pekinger Filmakademie, er schließt sich der illegalen Künstlergruppe „Stars Group“ an, schon 1981 verlässt er China und geht nach New York, wo er bis 1993 lebt. Ai macht hier zwei elementare Erfahrungen, die ihn für die Zukunft prägen sollen. Er „lernt Demokratie“ und die Arbeit des Künstlers Marcel Duchamp (1887–1968) kennen. Er fotografiert Demonstrationen und die Staatsgewalt in Form von Polizei und versteht so die Idee von der Formulierung von Interessen. Er fotografiert Reiche und Arme, Bettler, die auf der Straße leben, er lernt von Duchamp, dass ein Fahrrad-Rad, ein Pissoir und ein Flaschen-Ständer Kunst sein können. Er lernt, dass die Freiheit der Kunst immer auch Teil ist der Freiheit des Menschen.
Am 30. März 2008, kurz vor der Pekinger Olympiade, wirbt Ai Weiwei in einem großen Interview mit der „Zeit“ für westliche Werte: Empathie mit den Schwachen, Solidarität mit Minderheiten. Kurze Zeit später, Anfang 2009, erlebt der Künstler ein erstes Mal physische Gewalt. Er recherchiert in Sichuan und kümmert sich mit vielen anderen um die Angehörigen der Opfer eines verheerenden Erdbebens. Er beabsichtigt, bei einem von den Eltern dort umgekommener Kinder angestrengten Prozess auszusagen; wird von Polizisten auf den Kopf geschlagen und in einem Hotel festgehalten. Anfang August kommt Ai Weiwei nach München, um seine große Solo-Ausstellung im Haus der Kunst aufzubauen. Im Flugzeug entwickelt sich eine durch die Schläge hervorgerufene Gehirnblutung, noch von der Landebahn aus wird er, begleitet von Notärzten, ins Klinikum Großhadern gebracht, wo man ihm sein Leben rettet.
An der Fassade des Münchener Hauses der Kunst montiert Ai Weiwei ein großes Readymade, bestehend aus 9000 Readymades: farbigen Kinder-Rucksäcken zur Erinnerung an die 5000 in Sichuan umgekommenen Kinder. Die großformatige Arbeit mit dem Titel „Remembering“ schreibt in chinesischen Zeichen einen Satz, den Satz einer Mutter, die um ihre getötete Tochter trauert: „Sie lebte sieben Jahre glücklich in dieser Welt“. Ein Satz, der sich in die Erinnerung vieler eingeprägt hat, und eine Arbeit, die in dreierlei Hinsicht sehr „unchinesisch“ scheint.
Einmal greift hier Ai Weiwei zur westlichen Methode der Erinnerungskultur, zum anderen werden in China nur großen Helden Denkmäler gesetzt, nicht aber Kindern, die nur sterben mussten, weil korrupte kommunistische Provinz-Funktionäre ihre Budgets nicht für ordentlichen, haltbaren Bau-Stahl ausgaben, sondern in die eigene Tasche wirtschafteten und so die von ihnen gebauten Schulen zu Gräbern für die Schulkinder werden ließen. Ein Drittes wird sichtbar: In einer Gesellschaft, in der das Individuum, der Einzelne wenig gilt, setzt der Künstler eine Stimme, den Satz einer Mutter für ein getötetes Kind ins Zentrum seiner Arbeit.
Die deutsche Kunstkritik versteht ihn nicht, sie ist wenig an China interessiert, wie ihr Ai Weiweis Arbeiten zu direkt und politisch sind. Teile der Presse schreien, die „Süddeutsche Zeitung“ nennt den Künstler den „Panda-Bären der Kunst“.
Sieben Jahre später, im August 2015, kommt Ai Weiwei wieder nach Deutschland. Aufgrund der in der deutschen Hauptstadt entwickelten Kampagne „Passport für Ai Weiwei“ hätte er wohl schon im Sommer des Vorjahres 2014 ausreisen können, dann aber von „Angela Merkels Gnaden“, wie die chinesische Regierung suggerierte. Die Kanzlerin hatte sich sehr für ihn eingesetzt und chinesischer Logik entsprechend hätte er nicht nach China zurückkehren können. Wir kennen aus der Geschichte exilierter Künstlerinnen und Künstler, dass ihnen im Exil die Sprache ausfiel, sie ihre Kraft verloren, weil ihnen der tatsächliche und scheinbare Gegner, die Reibung im Widerstand, abhandengekommen war. Ich glaube, dass auch Ai Weiwei nicht frei war von dieser Angst, vielleicht ging es ihm wie Antäus, dem Riesen der griechischen Antike. Auch er, der Sohn der Göttin Gaia, lebte in einer Höhle, war stark und erdverwachsen. Und wie Ai Weiwei seinem Vater ein kilometerlanges Denkmal schuf, verwendete Antäus, der Überlebensgroße, die Schädel seiner Unterlegenen, um für seinen Vater Poseidon aus diesen einen Tempel aufzurichten. Erst Herakles verstand, dass Antäus seine Kraft aus seiner Erdverbundenheit zog, hob ihn in die Luft und konnte ihn erwürgen.
Im August 2015 kommt Ai Weiwei, für viele sehr überraschend, nach Deutschland; verweigert den großen Bahnhof und landet in München, um sich ins Klinikum Großhadern zur „Nachuntersuchung“ zu begeben. Nach einem kurzen Besuch bei Freunden in Italien, bei dem er ein erstes Mal mit dem Elend der Flüchtlinge auf Lampedusa konfrontiert ist, kommt Ai nach Berlin und bezieht sein Atelier am Pfefferberg: ehemalige Bierkeller, tief in die Erde eingegraben, viele Räume ohne Tageslicht. Irgendwann, sagte er mir, hätte er das Gefühl gehabt, in einem ihm sehr vertrauen Zustand anzukommen.
Vierzehn Tage später, am 12. September 2015, kommen in München an einem einzigen Tag 12 000 Geflüchtete, Frauen und ihre Kinder, junge und alte Männer an. Zehn- und Hunderttausende flüchten nach Deutschland. Ai Weiwei reist in die entgegengesetzte Richtung, nach Lesbos, nach Libyen, nach Lampedusa und in die Lager in der Türkei. Die langen Strecken zwischen den einzelnen Ländern und Orten halten den Künstler nicht ab; ist das chinesische Territorium doch mehr als doppelt so groß wie die Länder der Europäischen Union zusammen. So entspricht sein neues Arbeits- und Erkundungsfeld der von ihm gelebten chinesischen Ikonografie.
Ai Weiwei weiß um die „Seelenhaftigkeit“ künstlerischen Materials, er weiß um die Kraft der Bilder. Und wie er die Schulranzen der ermordeten Kinder von Sichuan für das große Bild am Münchener Haus der Kunst nutzte und wie er aus den beim Erdbeben verbogenen Armierungseisen Skulpturen baute, so sammelt er jetzt verloren gegangene Kleidungsstücke, abgelegte, orangene Rettungswesten, liegengebliebene Schlauchbote, er lässt ein von einer Granate durchschossenes, breites Eisentor aus der ausgebombten syrischen Stadt Mossul in sein Berliner Atelier bringen. Er sammelt Motive: Rettungsringe, Handgranaten, Stacheldraht, Zäune, Kalaschnikows, er filmt einen autistisch gewordenen Tiger in einem verödeten Zoo im Gaza und das Bild des Alan Kurdi, eines nur drei Jahre alten Kindes syrischer Flüchtlinge, wie sein Bruder und seine Mutter im Mittelmeer ertrunken. Der Leichnam des kleinen Jungen wurde, wie ein Stück Dreck, wie Plastik-Müll im September 2015 an der türkischen Künste angespült und von der türkischen Fotojournalistin Nilüfer Demir fotografiert.
Im Januar 2016 stellt Ai Weiwei dieses Bild für die indische Zeitung „India Today“ nach. Er, der Übergewichtige, legt sich in voller Bekleidung an den Strand und erinnert mit dem gemachten Foto an das ertrunkene, von einer unmenschlichen Flüchtlingspolitik ermordete Kind. Und wieder schreien die Feuilletons, dies sei keine Kunst, er, der chinesische Künstler, hätte eine Grenze überschritten.
Dies ist zweifelsohne richtig, aber ist es nicht Aufgabe der Kunst, Grenzen zu überschreiten, um die wirklichen Grenzen zu zeigen und transparent zu machen? Die bewehrten Grenzen, die um die Festung Europa aufgerichtet werden. Die Grenzen der Menschlichkeit und vielleicht auch unsere eigenen.