Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz beschreibt in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ die postindustrielle Gesellschaft als eine Gesellschaft, in der sich die leitende soziale Logik von Erwartungen des Allgemeinen zu Erwartungen des Besonderen verschiebt (vgl. Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017, 27 ff.; vgl. auch HK, Juni 2018, 17–21).
Anders als in der industriellen Gesellschaft mit ihrem Drang zur Standardisierung und formalen Rationalisierung herrscht in der postindustriellen Gesellschaft die Logik der Singularisierung, die strukturbildend für die gesamte Gesellschaft ist (vgl. 8ff.). Der Begriff der Singularisierung will mehr beschreiben als nur die Individualisierung, er meint vor allem die Einzigartigkeit, das Besondere, denn Einzigartigkeiten prägen unsere heutige Gesellschaft. Dies gilt nicht nur für Individuen, Dinge, Orte oder Ereignisse, sondern auch für Kollektive: Projekte und Kollaborationen in der Arbeitswelt, politische Subkulturen, Diaspora-Communities sowie fundamentalistische Gemeinschaften. Diese unterlaufen laut Reckwitz universale Regeln sowie standardisierte Verfahren und kultivieren stattdessen eigene Welten mit eigener Identität (vgl. 10).
Das Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit ist dabei nicht nur ein subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung. Singularitäten sind nicht nur Individuen, sondern auch Kollektive. Reckwitz beschreibt dabei einen Wertewandel in unserer Gesellschaft: Statt kollektivem Konformismus gilt nun Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung und Kreativität als Leitprinzip.
Die Herausforderung lautet: ständige kreative Gestaltung des Selbst. Diese Entwicklung der Singularität hat allerdings durchaus auch ihre Schattenseiten: Es bilden sich kollektive Singularitäten, die sich über die Ab- und Ausgrenzung von anderen Singularitäten definieren und nicht im Austausch mit ihnen.
Sichere und verunsicherte Identitäten auf allen Seiten
Man denke zum Beispiel an den religiösen Fundamentalismus oder an rechtspopulistische Gruppen. Betroffen sind vor allem Menschen, die in der neuen Hyperkultur, in der man seine Identität aus unterschiedlichen Elementen zusammenfügt, nicht navigieren können und daher auf der Suche nach dem Eigenen, Eindeutigen und klar Strukturierten sind. Sie empfinden das „Andere“, das Globale, als Bedrohung und bilden ihre Identität in Ab- und Ausgrenzung zu diesem.
Hier spielt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht beziehungsweise zu einer bestimmten Religion nicht die entscheidende Rolle, sondern die Interessen der jeweiligen Gruppen. Diese Interessen können auch aus der Angst vor dem Verlust von materiellen beziehungsweise immateriellen Werten bestehen, vor allem wenn ein gewohntes soziales Netzwerk Risse oder Irritationen durch die Begegnung mit anderen Werten bekommt.
Zum Ausdruck kommt damit die Tatsache, dass die Spannungen in unserer Gesellschaft keineswegs entlang der Religionszugehörigkeit der beteiligten Akteure oder deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht bestehen. Die eigentliche Grenze verläuft zwischen einer Haltung der Öffnung und einer der Schließung dieser Akteure und Gruppen. Sichere und verunsicherte Identitäten bestimmen den Diskurs über das Zusammenleben in unserer pluralen Gesellschaft.
Daher kann man nicht pauschalisieren und vom Verhältnis der Muslime zu Nichtmuslimen in Deutschland sprechen, denn beide sind selbst sehr heterogen. Wir müssen vielmehr die beteiligten Akteure – diese können sowohl Individuen als auch Gruppen sein – unter die Lupe nehmen. Die üblichen Kategorien und Gegenüberstellungen: „Muslime versus Nichtmuslime“ helfen nicht weiter, um die Lebenswirklichkeit zu erschließen.
Wenn es um die Muslime und deren Religiosität geht, dann sind gerade im Zuge der Migration und Flucht nach Europa unterschiedliche Entwicklungen zu beobachten: Für die Mehrheit derjenigen, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren als „Gastarbeiter“ aus islamischen Ländern nach Deutschland kamen, war Religion ein Teil von vielen weiteren Elementen ihrer Identität. Dem Sozialanthropologen Werner Schiffauer zufolge hat diese sogenannte erste Generation der muslimischen Migranten erst in den Achtzigerjahren – und zwar im Zuge der Familienzusammenführung – begonnen, sich ihren religiösen sowie traditionellen Normen, Werten und Deutungsmustern reflexiv zuzuwenden. Religion als identitätsstiftender Faktor spielte nun eine wichtigere Rolle im Leben dieser Generation. Und mit steigendem Bewusstsein ihrer selbst als Kollektiv konstituierte sich die islamisch-religiöse Identität immer stärker.
Diese Entwicklung ging aber auch mit geopolitischen Ereignissen einher: Seit der islamischen Revolution im Iran im Jahre 1979 und den blutigen Ereignissen während der Pilgerfahrt in Saudi-Arabien im selben Jahr hat sich in den Kernländern des Islam Grundsätzliches verändert. Die sogenannte Sahwa (religiöse Auferweckungsbewegung), die zur Islamisierung der öffentlichen Sphären in diesen Ländern aufrief, rückte die Kategorie des Muslimseins auf dieser geopolitischen Ebene in den Vordergrund.
Der spätere Fall des Kommunismus 1989 machte aus dem Islam die nächste weltweite Herausforderung. Und spätestens seit dem 11. September 2001 tauchte die Kategorie des Muslimseins im Bewusstsein aller auf, und zwar mit einer implizierten oder expliziten negativen Konnotation: Der Islam sei die aktuelle Bedrohung für den Weltfrieden. Auch der politische Islam, der mit dem Slogan: „Der Islam ist die Lösung“ die Herzen der von Kommunismus und Nationalismus enttäuschten Araber erobern konnte, fand in den Achtziger- und Neunzigerjahren seine Blütezeit.
Ob in der islamischen Welt oder in Europa, der Islam wurde nun zum Hauptanker der Identität von Menschen in und aus den islamischen Ländern. In Deutschland wurden in der öffentlichen Wahrnehmung aus den ehemaligen Gastarbeitern Muslime. Soziale Probleme wurden dadurch nicht selten als islamische identifiziert. Der Islam muss seitdem als Sündenbock für soziale Defizite einer Arbeitermigration herhalten und so vermischten sich die Ebenen immer mehr. Die Hauptkonsequenz daraus war: Die islamische Identität gerät immer mehr in die Defensive, sie muss sich immer wieder rechtfertigen und sich ständig vom Terror im Namen des Islam distanzieren. Die Apologetik überwiegt, dadurch beherrschen die Emotionen die Debatte und weniger die Fakten.
Die religiöse Kategorie des „Muslimseins“ als defensive Identifikationsfläche bestimmt immer wieder das muslimische Selbstverständnis. Man denke an die Debatte: Gehört der Islam zu Europa oder doch nicht? Diese Frage kommt bei vielen Muslimen, die hier geboren und aufgewachsen sind, so an, als würde man hinterfragen, ob sie selbst dazugehören oder nicht.
Viele junge Muslime sagen: „Unsere Heimat Deutschland hinterfragt, ob wir dazu gehören, das verletzt uns.“ Viele finden dann ihre Zuflucht bei religiösen Identitäten: „Dann bin ich halt ein Muslim, das kann mir keiner wegnehmen.“ Dabei geht es aber weniger um den Islam als spirituelle oder ethische Quelle, sondern als identitäre Kategorie als Ersatz für nationale Kategorien. Man kann hier von einer Politisierung der islamischen Identität sprechen. Denn diese dient weniger der Begründung einer religiösen Haltung, sondern vielmehr dazu, eine kollektive Zugehörigkeit zu konstruieren, die in Konkurrenz zum „Westen“ steht. Diese Form der Politisierung der islamischen Identität birgt allerdings die Gefahr in sich, sich primär über die Ab- und Ausgrenzung von der Gesellschaft zu konstruieren. Es kann so weit gehen, wie bei salafistischen Gruppierungen, dass in der deutschen Gesellschaft ein Feindbild konstruiert wird, um sich selbst einen Inhalt zu geben.
Ausgehöhlte Identitäten: Wer sind wir, wer sind wir nicht?
Dieses Phänomen ausgehöhlter Identitäten, die auf Feindbilder im „Anderen“ angewiesen sind, um sich selbst über diese Ab- und Ausgrenzung zu definieren, ist auch ein Phänomen, auf das man in der Mehrheitsgesellschaft stößt.
Vor kurzem diskutierte ein Anhänger einer rechtspopulistischen Partei mit mir über die Frage der Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland. Er meinte: „Wir müssen unsere christlich-abendländische Identität vor dem Islam schützen und retten.“ Auf meine Frage hin, was er unter christlich-abendländisch verstehe, sagte er nach einer langen Denkpause: „Wir essen hier Schnitzel und trinken Bier!“ Dies erinnerte mich an die Antwort mancher Muslime, wenn man sie fragt, was für sie einen Muslim ausmacht: „Ich esse kein Schweinefleisch und trinke keinen Alkohol.“
Unsere Gesellschaft ist heute stark geprägt von solchen ausgehöhlten Identitäten, die nur imstande sind zu sagen, was sie nicht sind, aber nicht wissen, was sie aktiv zu dem macht, was sie meinen zu sein. Daher spielt die Konstruktion kollektiver Feindbilder (der Islam, der Westen) eine immer stärkere Rolle. Dies macht Phänomene wie den Salafismus oder den Rechtspopulismus attraktiv.
Dadurch wird unsere Gesellschaft allerdings für Polarisierungen anfälliger. Wir müssen uns daher stärker mit der Frage: „Wer sind wir und was macht uns eigentlich aus?“ beschäftigen, denn nur dann, wenn ich weiß, wer ich bin, habe ich keine Hemmungen, mich dem „Anderen“ zu öffnen, ohne Angst vor dem Verlust des Eigenen zu haben.
Die jüngste Migration von Flüchtlingen aus islamischen Ländern verschärfte die Debatte um die Frage nach der Integration der Muslime erneut. Nicht wenige dieser Flüchtlinge kommen aus der Mittelschicht und können daher schnell in das Bildungssystem einsteigen, nicht wenige dieser Flüchtlinge haben hautnah erlebt, wie im Namen ihrer Religion Gewalt und Terror legitimiert wurden, und nun suchen sie nach einem offeneren Islamverständnis, das ihnen Möglichkeiten eröffnet, das Vertrauen in ihren Glauben wiederzugewinnen. Dennoch ist die Frage nach der Anerkennung von pluralen Lebensformen in unserer Gesellschaft längst nicht geklärt. Die strukturelle Integration der Muslime (im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt) gelingt immer mehr, zugleich steigt dadurch die Sichtbarkeit dieser Muslime (im Sport, im Fernsehen, an den Universitäten, in öffentlichen Berufen, als Ärzte und Anwälte und so weiter).
Die Pluralität unserer Gesellschaft wird immer deutlicher. Die Kompetenz, mit dieser Vielfalt konstruktiv umzugehen, ist heute unverzichtbar. Der Erfolg oder der Misserfolg von Integration hängt meines Erachtens von dem Gelingen ab, diese Kompetenz erfolgreich zu vermitteln, wenn sich alle Akteure – Muslime wie Nichtmuslime – diese aneignen. Und an dieser Stelle fehlen die Institutionen, die Strategien und Konzepte, die sich mit dem Erwerb von Kompetenzen des konstruktiven Umgangs mit Vielfalt auseinandersetzen.
Die eigentlichen Fragen wurden noch nicht gestellt
Pauschale Urteile und populistische Diskurse beherrschen vermehrt die Islam-Debatte in Europa. Dabei werden die eigentlichen Fragen kaum gestellt: Es ist nicht die Frage nach der Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland oder Europa, die uns beschäftigen sollte, sondern folgende differenzierende Fragen: Welcher Islam gehört eigentlich dazu? Der salafistische genauso wenig wie der politische Islam? Zu welchem Islam gehört Deutschland beziehungsweise Europa? Sicher nicht zu den zwei Letztgenannten. Welche sozialen Maßnahmen müssten gefördert werden, um die Muslime stärker in die europäischen Gesellschaften einzubinden? Eine empirische Studie der Wiener Soziologin Hildegard Weiss aus dem Jahre 2016 „Muslimische Milieus im Wandel?“ kommt zu dem Ergebnis, dass Bildungsaufstiege von Musliminnen und Muslimen positive Folgen für Akkulturation und Werteintegration haben. Die Rolle der Schule und der weiterbildenden Maßnahmen muss daher viel stärker diskutiert und gefördert werden als bislang. Dies gilt auch für Maßnahmen einer aktiven aufklärenden Bildungs- und Antidiskriminierungspolitik, die sich sowohl an Schülerinnen und Schüler wie auch an Erwachsene richtet.
Nur eine intensivere aufklärerische Öffentlichkeitsarbeit sowie ein politisch bildender Unterricht in allen Schulformen können Vorurteilsneigungen und Pauschalisierungen entgegenwirken, denn empfundene Diskriminierung und Abwertung mindern beziehungsweise hemmen die Chancen des Wertewandels und der Akkulturation junger Musliminnen und Muslime. Man muss daher ernsthaft über die Einführung von nationalen und lokalen Maßnahmen gegen Rassismus und Diskriminierung nachdenken, um langfristig gleiche Chancen und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gewährleisten.
Aufgabe der islamischen Theologie
Die ausgehöhlte islamische Identität ist die Herausforderung auch der islamischen Theologie selbst. Denn eine Identität, die sich in Ab- und Ausgrenzung zu anderen konstruiert, wird sich kaum mit einem inklusivistischen und offenen Entwurf ihrer Theologie zufriedengeben. Zugleich gibt es die große Chance, im islamischen Religionsunterricht den jungen Musliminnen und Muslimen einen reflektierten Zugang zu ihrem Glauben zu bieten, um ihre Religiosität aktiv definieren zu können; und zwar nicht in der Suche nach Ab- und Ausgrenzungselementen, sondern in der Suche nach sich selbst, nach Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung in religiöser Hinsicht sowie nach spiritueller und ethischer Kraft im eigenen Glauben.
Das ist aber auch die Aufgabe für die islamische Theologie, kritisch zu reflektieren, um sich vor allem von der Gefangenschaft eines juristisch-normativen Verständnisses des Religiösen (Was ist erlaubt und was ist verboten?) zu befreien, um Raum für die Entfaltung spiritueller und ethischer Kraft im Islam zu schaffen. Und hier kann die islamische Theologie viel von den Konzepten der christlichen lernen, was nicht heißt, dass erstere alles unreflektiert adaptieren müsste, sondern sich für das „Andere“ öffnen soll, um sich mit ihm reflexiv auseinanderzusetzen.
Auch die islamische Theologie erlebt in Deutschland einen dynamischen Wandel, und zwar nicht nur durch die gebotenen Austauschmöglichkeiten mit anderen Disziplinen und Theologien, sondern darüber hinaus durch die Herausforderungen und (nicht selten kritischen) Anfragen an den Islam.
Wenn es um den islamischen Religionsunterricht geht, herrschten in den meisten Moscheen und Schulklassen über mehrere Jahrzehnte Konzepte der monologischen Verkündigung von Wahrheitssätzen. Die jungen Menschen haben dadurch kaum die Kompetenz erworben, ihren Glauben selbstständig zu reflektieren und zu verantworten. Durch die Etablierung der Ausbildung von Religionslehrkräften an deutschen Hochschulen und Universitäten haben sich Muslime moderne Konzepte der Auseinandersetzung mit dem Islam im Unterricht, wie beispielsweise die Korrelationsdidaktik, angeeignet. Die Lebenswirklichkeit der jungen Muslime wird immer stärker im Religionsunterricht berücksichtigt und die Religionslehrkräfte verstehen sich immer weniger in der Rolle der Prediger und viel mehr in der Rolle der Begleiter, die die jungen Menschen befähigen sollen, ihren Glauben zu reflektieren und sich selbstständig mit diesem auseinanderzusetzen (vgl. beispielsweise: Darjusch Bartsch, Die Korrelationsfrage in der islamischen Religionslehre. Konzepte zu einer „neuen“ Fachdidaktik, noch nicht veröffentlichte Dissertation, 2018).
Zugänge zum Koran, die ihn als Gotteswort im Menschenwort auffassen und entsprechend den historischen Kontext der Verkündigung des Korans berücksichtigen, finden immer stärkere Berücksichtigung in der islamischen Theologie (vgl. Mouhanad Khorchide, Gottes Offenbarung in Menschenwort. Der Koran im Licht der Barmherzigkeit, Freiburg 2018). Auch feministische Zugänge zum Koran und zum Islam bekommen immer mehr Räume der Entfaltung innerhalb der islamischen Theologie (vgl. Dina El Omari, Zeitgenössische feministische Diskurse zum Koran kritisch hinterfragt, in: Katajun Amirpur [Hg.], Islam und Gender, Waxmann Verlag, Münster 2019). Alleine die Tatsache, dass mehr weibliche als männliche Studierende sich für das Studium der islamischen Theologie einschreiben, ist vielversprechend.
Der religiös begründete Exklusivismus, der in der islamischen Theologie noch immer eine starke Position darstellt, wird durch den interreligiösen Austausch zunehmend infrage gestellt. Gerade die Anfragen der komparativen Theologie an den Islam fördern Prozesse der kritischen Selbstreflexion innerhalb der islamischen Theologie.
Durch die Etablierung der islamischen Theologie an deutschen Universitäten kommt es vermehrt zu akademischen Austauschprozessen, die zu neuen Erkenntnissen innerhalb der eigenen Religion führen können. So war eine zentrale Erkenntnis in dem Projekt mit dem katholischen Theologen Klaus von Stosch über Jesus im Koran die Feststellung, dass durch einen über Jahrhunderte etablierten apologetischen Diskurs die koranische Annäherung an die Christologie ignoriert wurde, ja sogar als pauschale Kritik an das Christentum gelesen wurde (vgl. Khorchide und von Stosch, Der andere Prophet. Jesus im Koran, Freiburg 2018). Ein genaueres Hinsehen zeugt von mehr Gemeinsamkeiten, auch in den kritischen Fragen, als bislang angenommen.
Trotz diesen erfreulichen Entwicklungen in der islamischen Theologie muss man betonen, dass wir uns noch am Anfang eines langen Prozesses befinden. Eine große Herausforderung liegt in der Frage nach dem Stellenwert von Religion überhaupt. Zu beobachten ist, wie schon oben kurz skizziert, eine gewisse Politisierung der islamischen Identität, und zwar auf Kosten der spirituellen und ethischen Kraft des Islam.
Theologie droht zu Selbstgespräch unter Theologen zu werden
Die Aushöhlung und Entkernung des Islam macht Religion als identitätsstiftende Größe attraktiv, die theologischen Reflexionen selbst geraten jedoch in den Hintergrund. Und so droht die Theologie zu einem Selbstgespräch unter Theologen und wenigen Interessierten zu werden. Eine Brücke zur muslimischen Basis stellen neben dem islamischen Religionsunterricht die Moscheen dar, die Freitag für Freitag noch immer etwa ein Drittel der in Deutschland lebenden Muslime erreichen. Wir dürfen allerdings nicht warten, bis Imame, die hier ausgebildet sind, von den Moscheegemeinden anerkannt und eingestellt werden. Eine kreative Lösung wäre die Abordnung von islamischen Religionslehrern für wenige Stunden, um die Freitagspredigt zu halten und den Religionsunterricht am Wochenende zu organisieren. Im Moment gibt es allerdings noch keine klaren Schritte in diese Richtung.