Ein Plädoyer für eine Neujustierung des BlicksWirklich Parallelgesellschaften?

Die oft beschworenen und beklagten Parallelgesellschaften sind ein Phantom. Migranten mit ihren Ansprüchen und Lebensrealitäten sind auch in Deutschland längst in der Gesellschaft angekommen.

Junge Muslima schaut in die Kamera
© KNA

Nein, Parallelgesellschaften wollen wir nicht. Parallel – das hört sich nach geradezu perfekter Ordnung an, zugleich aber auch nach Hoffnungslosigkeit. Abweichungen, die kann man überwinden und korrigieren; Alternativen, über die kann man wenigstens verhandeln; andere Möglichkeiten, das verweist wenigstens darauf, dass noch mehr möglich ist. Aber Parallelen sind hoffnungslos. Sie bleiben, so ihre Definition, unweigerlich und unüberwindlich von jeglicher Annäherung ausgeschlossen. Dass sie sich im Unendlichen träfen, ist nur eine mathematische Verbrämung für: niemals!

Im Diskurs um Migration meint man mit Parallelgesellschaften soziale Räume, die relativ abgeschottet sind gegen ihre Wirtsgesellschaft, wie es so schön heißt. Das Bild sind Clans, familiengestützte Einheiten mit großer Kohäsionskraft und fast unmöglichen Exit-Möglichkeiten. In ihnen ist eine familiengestützte Form von Kleinökonomie wahrscheinlicher als in anderen Räumen. Die Nähe zu eher überschaubar legalen Aktivitäten ist hier kaum zu leugnen. Es sind Herrschaftsräume mit klaren Hierarchien, meist männlich beziehungsweise patriarchalisch dominiert. All diese Assoziationen referieren durchaus auf Dinge, die es wirklich gibt. Die schwierigste Gruppe solcher Konstellationen sind wahrscheinlich junge Frauen, die am wenigsten Exit-Möglichkeiten haben – überhaupt ist der Bruch mit solchen Sozialformen nur binär zu kriegen: Entweder man gehört dazu oder nicht. Dazwischen kann es nichts geben.

Man könnte nun so weiter schreiben, und es entstünde dann ein Bild, ein Schreckensbild, das Bild einer Black Box, von der wir nur wissen, wer reinkommt, dass keiner wieder rauskommt und dass es darinnen ziemlich fremd zugehen muss. Die Intransparenz ist dabei ein zusätzlicher Garant für das freie Flottieren von Assoziationen. Wahrscheinlich sind solche Bilder besonders detailreich, je weniger der Beobachter Migrationsrealitäten realiter gesehen hat oder bereit ist, sie wahrzunehmen. Noch einmal: Es gibt solche parallelen Ordnungen, aber sie sind nicht im Geringsten repräsentativ für die deutsche Migrationsrealität. Die assoziierten Bilder ähneln übrigens denen anderer Ordnungen: Sekten, geschlossener politischer Gruppen, womöglich terroristischer Vereinigungen, mafiöser Ordnungsstrukturen und so weiter. Auch diese gibt es, aber sie sind Ausnahmen und unwahrscheinlich.

Die inklusive Kraft der Bundesrepublik war enorm

Für die Migrationsrealität in Deutschland sind solche Ordnungen nicht repräsentativ, auch wenn Migrationsgegner gerne auf parallele Ordnungen als Bedrohungen hinweisen. All das stimmt nicht, aber es wird seit einiger Zeit wieder stärker und kontroverser diskutiert. Das hat viel weniger mit der Flüchtlingsfrage zu tun, als man erwarten könnte. Man kann ohne Zweifel erkennen, dass die Abkömmlinge der Arbeitsmigration der Fünfziger- und Sechzigerjahre in der Gesellschaft angekommen sind und in den Elitepositionen auftauchen, als Journalisten, Wissenschaftler, in Unternehmen, in der Politik, fast überall. Dass das so lange gedauert hat, ist biografisch und familiengeschichtlich bedauerlich, aber mit einem historischen Blick auf typische Migrationsverläufe in der Vergangenheit durchaus erwartbar. Die inklusive Kraft der Bundesrepublik migrantischen Lebensformen gegenüber war enorm – und das bei gleichzeitiger Leugnung der Tatsachen, dass wir schon lange ein Einwanderungsland sind, dass es viele Menschen mit binationalem Hintergrund gibt und dass sich diese Gesellschaft längst daran gewöhnt hat, dass sie eine migrantische Realität hat.

Solche Sätze hören sich an, als wolle man Probleme und Konflikte, Fremdheitserfahrungen und kulturelle Differenzen leugnen, als nehme man nicht zur Kenntnis, dass nach dem katholischen Mädchen auf dem Lande als Bildungsverliererin der Fünfzigerjahre heute der muslimische Junge in der Großstadt der idealtypische Verlierer ist. Es hört sich an, als wolle man leugnen, dass etwa Schulen und Lehrkräfte in manchen Wohnquartieren oftmals überfordert sind und es immer wieder Rückschläge gibt. Es erweckt den Eindruck, als ob es das Erstarken islamischer Identitätsbehauptungen als Kompensation für Ungleichheitserfahrungen oder auch nur Entwicklungsfragen nicht gäbe.

Keineswegs – all diese Konflikte gibt es, und man muss zum Beispiel der Lehrerausbildung den Vorwurf machen, zwei ganze Generationen von Lehrern nicht ausreichend auf entsprechende Fragen vorbereitet zu haben. Man muss den gebildeten Mittelschichten und ihren Eliten in Wissenschaft, Politik, Medien und Bildungsinstitutionen den Vorwurf machen, dass sie Migrationsfragen stets nur so behandelt haben, wie sie in ihrem Milieu angekommen sind, nicht aber dort, wo die Konflikte virulent sind. Und man muss den politischen Parteien den Vorwurf machen, sich um Migrationsfragen erst seit relativ kurzer Zeit zu kümmern, weil das Mantra, wir seien kein Einwanderungsland, geradezu hyperstabil war. Und man muss in dieser Gemengelage sicher auch vielen Einwanderern den Vorwurf machen, die Potentiale und Angebote dieser inklusiven Gesellschaft nicht genutzt zu haben.

Beeindruckend sind dafür die Lebenserzählungen von solchen Gastarbeiterkindern, die es „geschafft“ haben – fast immer hört man deutlich mit, dass es die Eltern waren, die die Chancen ergriffen und dafür gekämpft haben, dass ihre Töchter und Söhne weiterführende Schulen und Universitäten besuchten, zum Teil gegen den gut gemeinten Rat der Profis in diesen Institutionen, die vor Enttäuschungen warnten, weil sie sich nichts anderes vorstellen konnten – womit wir wieder beim Bildungsdefizit der Bildungsexperten sind. Aber Strukturen und Routinen sind eben strukturierter und routinierter, als es unsere Intentionen gerne hätten. Vielleicht braucht es diese Zeit.

Mit der Flüchtlingskrise seit 2015 haben sich die Diskussionen über all das noch verschärft – einerseits weil Migration nun unweigerlich auf der öffentlichen Agenda steht, andererseits weil nun eine Gruppe von Menschen da ist, um die man sich kümmern wollen muss, will heißen: Man kann die Sache nicht als inexistent betrachten und zuwarten, wie das über Jahrzehnte geschah. Und es wird, sobald die Bundesrepublik wieder eine handlungsfähige Regierung hat, eine Diskussion über ein Einwanderungsgesetz stattfinden, die auch eine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit als Einwanderungsland sein muss. Man wird dann übrigens dazu kommen, dass die Bundesrepublik trotz aller negativistischen Diskussion um Migration ein enorm erfolgreiches Einwanderungsland ist. Dass ein solches Gesetz auch die schwierigen Fragen der Begrenzung von Einwanderung, die der Kriterien, nach denen Einwanderung möglich gemacht wird, nicht zuletzt die Frage humanitärer Elemente der Migrationspolitik diskutieren muss, sollte allen klar sein, die meinen, dass ein Gesetz selbst schon die Lösung sei. Entscheidend ist, was es politisch will.

Die Ansprüche von Migranten sind in der Gesellschaft angekommen

Jedenfalls stößt man auf eines kaum, wenn solche Diskurse geführt werden: auf Parallelgesellschaften als geschlossene, dadurch monströs erscheinende und dann bedrohlich wirkende Inseln, in denen Migration stattfindet. Um nochmals das Bild der Parallelen zu bemühen: Davon, dass sich migrantische und autochthone Realitäten in einem unveränderlichen Abstand ohne Annäherungsmöglichkeiten und -wirklichkeiten befänden, kann nur derjenige ausgehen, der die empirische Situation der Migration in Deutschland leugnet.

Der Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani hat kürzlich eindringlich beschrieben, dass man gerade die Konflikthaftigkeit von Migrationsfragen derzeit als einen Indikator für gelungene Integration ansehen kann. Seine These: Die Konflikte sind ein Ergebnis dessen, dass Migranten Ansprüche an diese Gesellschaft stellen – implizit und explizit. Um es auf eine Formel zu bringen: Bei einer Putzfrau hat das Kopftuch nicht weiter gestört, aber bei einer Arzthelferin, Lehrerin oder Richterin ist es ein Thema. Wie immer man zum konkreten Fall steht: Die Ansprüche und die Lebensrealität von Migranten sind unweigerlich in der Gesellschaft angekommen. Auch wenn es sich zynisch anhört: Dass es politische Kräfte in der Gesellschaft gibt, deren einziges Thema Migration ist oder die jedes Thema irgendwie mit Migrationsfragen verbinden, ist eine merkwürdige Form der Anerkennung von Migration als eines Themas, das man nicht in einer parallelen Umlaufbahn wähnen kann.

Wer von Parallelgesellschaften redet und die sozialen Folgen von Migration nur als Parallele zum Eigenen betrachten kann – mit allen Implikationen, die die Metapher der Parallele hat –, verweigert einen angemessenen Begriff für das Eigene. Überhaupt ist eine moderne Gesellschaft eben keine homogene, keine einheitliche, keine konfliktfreie, keine monophone und monomorphe, monokulturelle Einheit. Die Lebensformen in modernen Gesellschaften bilden erheblich mehr Differenzen und unterschiedliche Lebensformen aus, als es das ständige Starren auf Migrationsfragen suggeriert. Man kann sicher sagen, dass die Behauptung des unproblematisch Eigenen ein Effekt dessen ist, allzu sichtbare und erwartbare Differenz und Abweichung zu verarbeiten. Das war schon bei der Etablierung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert so, als man das (wenigstens potentiell) feindliche Äußere brauchte, um die Identitätszumutungen nach innen zu stärken. Dass damalige radikale Klassengesellschaften mit erheblich größeren Distanzen zwischen Eliten und dem einfachen „Volk“ sich als Einheit begreifen konnten, setzte eine geradezu überempirische Erfindung ethnischer und nationaler Homogenität in Gang.

Dass die internen Konflikte solcher Gesellschaften nicht verschwunden sind, wissen wir. Dass man sie aber nach außen zurechnen konnte, wissen wir auch. Ähnliches passiert derzeit. Die Übertreibung der Bilder des Migrantischen und die Vollkonzentration aufs Migrantische kaschieren die strukturellen Probleme einer komplexen Gesellschaft, die ihre inneren Konflikte gerne auslagert. Und da sind „Parallelgesellschaften“ ein echtes Geschenk, denn einerseits verweisen sie auf etwas Monströses, an dem man sich abarbeiten kann. Andererseits können sie die Realität des Migrantischen auf Abstand halten, weil sich Parallelen ja niemals begegnen werden.

Aber genau das ist die Lebenslüge. Das Migrantische und das Eigene begegnen sich nicht nur, das Migrantische ist inzwischen auch das Eigene, dem man nicht ausweichen kann und darf – weder in seinen positiven noch in seinen negativen Folgen und Wirkungen. Insofern bedarf es dessen, was man in der Optik einen „Parallaxenausgleich“ nennt, wenn das Sucherbild und das tatsächliche Bild nicht übereinstimmen. Man muss dann den Sucher nachjustieren, um sich nicht in der Unendlichkeit einer Parallele zu verlieren, die das tatsächliche Bild niemals treffen kann. Wenn es eine Parallelgesellschaft gibt, dann ist es diejenige der Verleugner einer Realität, in der das, was man so gerne externalisieren möchte, längst präsenter ist, als man es sich vorstellen kann.

Genau genommen sind auch das keine Parallelgesellschaften, sondern Inseln der Selbstverleugnung. Auf diesen werden jene Parallelstrukturen gebraucht, die es in manchen Großstädten im migrantischen Milieu durchaus gibt. Sie müssten sie eigentlich hegen und pflegen, um sich den Fragen, um die es geht, nicht stellen zu müssen, denn sie erzeugen die monströsen Bilder, an denen man sich abarbeiten kann.

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