Ansätze, Methode und Themen der SozialethikFortschritte im Selbstverständigungsprozess

Innerhalb der Theologie ist die christliche Sozialethik die Disziplin, die die Verkörperung des Glaubens in einer alle gesellschaftlichen Handlungsfelder umfassenden Praxis der Gerechtigkeit reflektiert. Das Fach ist damit strukturell eigentlich überfordert.

Kurz nach der Mönchengladbacher Sozialethikertagung 2004 zum Thema „Orientierungskraft der christlichen Soziallehre“ (Anton Rauscher [Hg.], Köln 2005) bedauerte einer der Referenten, Daniel Deckers, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und promovierter Moraltheologe, dass dieses Feld, in dem die Theologie heute noch am ehesten um Orientierung angegangen würde, weitgehend brach liege. Er führte dies auf verschiedene Ursachen zurück. Durch den Untergang des Kommunismus habe die Soziallehre ihre weltanschaulichen Gegner verloren, wodurch die äußere Klammer entfallen sei,„die das heute eher einem Torso als einer Kathedrale gleichende Gebäude namens Soziallehre zusammengehalten hat“. Auch fehlten heute so überzeugende Persönlichkeiten wie Oswald von Nell-Breuning und Joseph Höffner. Schließlich warf er der Sozialethik vor, sich einem Dialog mit der Philosophie zu verschließen, die sich vor allem mit dem Begriff der Gerechtigkeit beschäftige. Diese Einschätzungen lösten erwartungsgemäß heftige Gegenreaktionen aus. Die Diagnose, katholische Soziallehre sei heute nicht mehr die alte, ist freilich richtig. Das ist aber alles andere als bedauerlich. Tatsächlich hat es in den letzten Jahren nicht nur einen Generationswechsel auf den Lehrstühlen für dieses Fach gegeben, sondern auch eine Pluralisierung von Ansätzen, Methoden und Themen, so dass die Sozialethik heute vielgesichtiger auftritt als zu oft idealisierten früheren Zeiten. Neben den Mönchengladbacher Gesprächen der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle haben sich neue Diskursräume etabliert. So wurden wichtige Selbstverständigungsdebatten zuerst auf dem 1990 gegründeten „Forum Sozialethik“ in der Kommende in Dortmund (als dem Austauschforum der Nachwuchswissenschaftler/innen), ab 2000 dann auch bei den „Sozialethischen Werkstattgesprächen“ in der Katholischen Akademie in Berlin geführt (Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften ab 1991 bzw. 2001).

Mittlerweile ist dieser Selbstverständigungsprozess (vgl. Herder-Korrespondenz, Juli 1998, 351ff.) zu einem gewissen Zwischenergebnis gelangt, wie es von Karl Gabriel und seinen Mitarbeitern in Münster nach der Tagung „Gesellschaft begreifen – Gesellschaft gestalten“ formuliert wurde, die 2001 zum 50. Jahr der Gründung des „Instituts für Christliche Sozialwissenschaften“ in Münster stattgefunden hatte (Jahrbuch Nr. 43/2002). So ist es weitgehend Konsens, dass heute nicht mehr von einer kontextunabhängigen und übergeschichtlichen Wesensordnung des Sozialen als Grundlage der Sozialethik ausgegangen werden könne. Diese Einsicht teilen auch die Fachvertreter, die nach wie vor an das Naturrechtsdenken anknüpfen, es aber im Sinne eines „kritischen Naturrechts“ (Reinhard Marx, Helge Wulsdorf) oder als eine Synthese des klassischen und des neuzeitlichen Naturrechts kantischer Prägung (Arno Anzenbacher) rekonstruieren. Dies eröffnet die Chance, den Reichtum der Tradition im Bewusstsein ihrer Partikularität in den öffentlichen Diskurs einzubringen, was freilich Übersetzungen notwendig macht und ethische Begründungsdiskurse, wenn man allgemeine Geltungsansprüche erheben will. Dabei wird schon seit Jahrzehnten selbstverständlich ein Dialog mit einer Reihe philosophischer Ansätze geführt, etwa der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls oder der Diskursethik von Jürgen Habermas, aber eben auch den hermeneutischen Zugängen Paul Ricœurs, dem neoaristotelischen Ansatz von Martha Nussbaum oder neuerdings dem ethischen Rationalismus Alan Gewirths.

Unterschiedlich beantwortet wird die Frage, inwieweit die christliche Sozialethik sich auf konkrete Anwendungsprobleme einlassen muss, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass der/die einzelne Sozialethiker/in überfordert wäre, würde er/sie sich zugleich um Grundsatzfragen wie die gesamte Breite von Anwendungsfragen kümmern, in denen ja jeweils ein umfangreiches Detailwissen erforderlich ist. Konsens herrscht darüber, dass es für das Fach insgesamt nicht ausreichen würde, nur eine negativ-kritische Funktion auszuüben, ohne wenigstens fallweise ethische Einsichten an Anwendungsproblemen zu testen. Weitgehende Einigkeit besteht auch darüber, dass der Pluralismus moderner Gesellschaften nicht nur hingenommen, sondern wegen seiner Freiheitspotenziale als Wert positiv geschätzt werden muss. Dies impliziert eine Unterscheidung ethisch relevanter Fragen in solche, in denen eine Gesellschaft ein möglichst hohes Maß an Einigkeit finden muss, weil die entsprechenden Regeln allgemeinverbindlich in Recht (beispielsweise eine Verfassung) umgesetzt werden müssen, und solche, in denen Einzelne oder partikulare Gemeinschaften das Recht haben müssen, ihren je eigenen ethischen Vorstellungen zu folgen. Diese Unterscheidung – wie in vielen philosophischen Ansätzen üblich – mit den Begriffen des „Gerechten“ und des „Guten“ zu belegen, scheint theologisch mehr Missverständnisse hervorzurufen als zur Klärung beizutragen. Das ändert aber nichts daran, dass moderne Gesellschaften ohne sie nicht auskommen.

Innerhalb dieses Rahmens setzen die Fachvertreter/innenunterschiedliche Schwerpunkte und folgen verschiedenen Ansätzen. Diese reichen neben den schon erwähnten kritisch-naturrechtlichen Konzepten von einer Strukturen- beziehungsweise Institutionenethik, die gesellschaftliche Strukturen und Institutionen ethisch evaluiert, über eine Systemethik in Anknüpfung an Niklas Luhmann oder die Institutionenökonomik und verschiedene diskursethische und handlungstheoretische Konzepte bis hin zu Entwürfen, die bei der Hermeneutik der eigenen Ethostradition ansetzen und die Kontextualität einer jeden ethischen Reflexion betonen. Dass eine solche Pluralität durchaus befruchtend und bereichernd ist, zeigt nicht zuletzt ein neues Lehrbuch, das von Sozialethikern/innen in Bayern gemeinsam erarbeitet worden ist, ohne dass dabei die Differenzen eingeebnet worden wären(Marianne Heimbach-Steins [Hg.], Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch, 2 Bde, Regensburg 2004–2005).

Wenig geklärt erscheint die Zuordnung von Ethik und Theologie, eine Frage, die auch mit dem Problem des theologischen Profils des Faches verknüpft ist (vgl. Herder Korrespondenz, April 2002, 197ff.). Mit dieser Problematik beschäftigte sich2004 auch das Forum Sozialethik (Axel Bohmeyer, Johannes J. Frühbauer [Hg.], Profile, Münster 2005), wobei deutlich wurde, dass diese Frage auch mit der öffentlichen Orientierungskraft zusammenhängt, letztere aber besonders stark dadurch befördert würde, dass die Kirche bei ihren sozialethischen Forderungen auch selbst als Vorbild mutig voranginge. Bereiche, in denen dies möglich wäre, sind beispielsweise Umwelt- und Klimaschutz, Familienfreundlichkeit von Arbeitsplätzen oder transparentere Entscheidungsverfahren. In jedem Fall entsteht hier gerade ein neues und künftig stärker zu bearbeitendes Thema: eine Sozialethik des kirchlichen Lebens.

Auch wenn die Grundlagendebatte nicht mehr so intensiv geführt wird wie in den neunziger Jahren, als darin noch ein großer Nachholbedarf bestand, werden immer wieder Entwürfe dazu vorgelegt: Mit seinem Buch „Zeit-Diagnose“ (Darmstadt2006) leistet Hans-Joachim Höhn nicht nur eine wertvolle Diagnose aktueller Tendenzen in der sozialen Konstruktion von Zeit („Beschleunigung“) und den daraus erwachsenden sozialethischen Problemen, sondern zugleich einen Beitrag zur Klärung des Verhältnisses von Religion und Moral beziehungsweise Theologie und Ethik in einer Gesellschaft, die sich zunehmend als „postsäkular“ begreift.

Bernhard Laux hat jüngst eine „Exzentrische Sozialethik“ (Berlin 2007) vorgelegt, die die Not der Verdrängung christlicher Ethik aus den Zentren von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur gewissermaßen zur Tugend macht. Er leitet aus der„postsäkularen“ Lage Imperative für christliches Reden in der Öffentlichkeit ab, das zwar die eigene Identität nicht aufgeben, zugleich aber die der anderen anerkennen und deren Außenperspektive für das Eigene fruchtbar machen muss. Da Gerechtigkeitsforderungen vernünftig begründet werden müssten, weil anders der Respekt vordem anderen gar nicht möglich sei, dürfe es in ethischen Fragen keinen Widerspruch von Glaube und Vernunft geben. Trotzdem gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Guten und Gerechten, mindestens dadurch, dass die Motivation zur Gerechtigkeit aus den je partikularen Vorstellungen des Guten erwächst. Beeindruckend ist die von Christoph Hübenthal vorgelegte „Grundlegung christlicher Sozialethik“ (Münster 2006). Vereinfacht gesagt, kombiniert er christliche Theologie mit Immanuel Kant und Alan Gewirth. Mit Hilfe der kantischen Freiheitsanalyse rettet er den Unbedingtheitsanspruch des moralischen Sollens. Mit Hilfe der Theologie macht er deutlich, dass der christliche Glaube den kantischen Postulaten der praktischen Vernunft insofern „entgegenkommt“, als das Jesusgeschehen als Sinngebung der Moral und als Aufforderung zur Autonomie zu verstehen ist. Die Reflexion der symbolischen Qualität von moralischen Handlungen führt zu der Erkenntnis, dass es in ihnen um die Verkörperung der eigenen und um die Anerkennung der je anderen Autonomie geht, was sich schließlich bis in die Gestaltung von gesellschaftlichen Institutionen hinein auswirken muss. Die Aufgabe der Sozialethik lässt sich dann so bestimmen, „dass sie Handlungen, die aus der Binnenperspektive des Subjekts geeignet erscheinen, die Anerkennung anderer Freiheit symbolisch zum Ausdruck zu bringen, weil sie den verschiedenen Formen des kategorischen Imperativs entsprechen, zunächst als gerechterweise einzufordernde Handlungen auszuweisen [hat], um dann in weiteren Schritten danach zu fragen, wie solches Handeln durch gerechte Institutionen erstens sichergestellt [...], zweitens stimuliert und gefördert und drittens zielführend so organisiert werden kann, dass die beabsichtigte Anerkennung aller Freiheit tatsächlich in größtmöglichem Umfang zum Ausdruck kommt“ (208ff.). Der Theologie kommt dabei vor allem die Aufgabe zu, zu begründen, „dass die christliche Sozialethik dort, wo es um die Erarbeitung materialethischer Aussagen geht, weitgehend als philosophische Ethik zu betreiben sei“ (374).

Für Moraltheologie und Sozialethik gleichermaßen interessant ist der Versuch von Rupert Scheule, die Wert-Erwartungstheorie Hartmut Essers (ein Derivat der Rational-Choice-Ansätze) für eine theologische Entscheidungslehre fruchtbar zu machen (Gut entscheiden. Eine Werterwartungstheorie theologischer Ethik, und ders. [Hg.], Entscheidungshilfe Interdisziplinär, beide erscheinen 2008). Schon die moraltheologische Tradition hatte ausgefeilte Konzepte für die notwendige Güterabwägung in Form von Vorzugsregeln und Verfahren zur „Unterscheidung der Geister“ erarbeitet. Angesichts der Komplexität vieler Entscheidungsprobleme bietet die Wert-Erwartungstheorie Hilfen zur Entwicklung von Regeln und zur Strukturierung von Entscheidungsverfahren, bei denen sogar, wie Scheule zu zeigen vermag, die Bedeutung des Religiösen klarer lokalisiert werden kann.

Während in den klassischen Konzeptionen der Status der Gerechtigkeit neben den (drei oder vier) Sozialprinzipien eher unklar bleibt, rückt sie für die meisten neueren Ansätze ins Zentrum, wobei je nach Anwendungsbereich von Gerechtigkeiten im Plural zu reden ist (vgl. Michael Fischer, Gerhard Kruip [Hg.], Gerechtigkeiten, Münster 2007), so dass Kriterien dafür notwendig werden, wann auf welches Gerechtigkeitsprinzip zurückzugreifen ist. Michael Schramm versucht, diese im Rahmen eines Konzepts der „flexiblen Gerechtigkeit“ auszuarbeiten. Im Zuge der Globalisierung verändern sich auch der soziale Raum, innerhalb dessen Gerechtigkeitsforderungen erhoben, und der Adressat, an den sie gerichtet werden. Der Nationalstaat kann Gerechtigkeitsräume längst nicht mehr adäquat eingrenzen, noch lassen sich relevante Ungerechtigkeiten auf nationalstaatlicher Ebene bekämpfen. So lautet eines der aktuellen Megathemen in der Sozialethik „globale Gerechtigkeit“. Die Tagung der Vereinigung für Moraltheologie und Sozialethik 2001 in Wien, das Berliner Werkstattgespräch im Februar 2004 und die Mönchengladbacher Tagung im April 2006 hatten sich mit der Globalisierung befasst. Das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover hat die Arbeit einer zu diesem Thema eingerichteten Forschungsgruppe im März 2004 mit einer Tagung im Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld abgeschlossen (Ian Kaplow, Christoph Lienkamp [Hg.], Sinn für Ungerechtigkeit, Baden-Baden 2005). Ein von der Stiftung Volkswagenwerk finanziertes Projekt am Institut für Christliche Sozialwissenschaften in Münster beschäftigte sich mit der Frage nach einem fairen Verfahren für die Entschuldung ärmerer Dritte-Welt-Länder (Martin Dabrowski u. a. [Hg.], Die Diskussion um ein Insolvenzrecht für Staaten, Berlin 2003). Gerade läuft ein interdisziplinär angelegtes DFG-Projekt unter Leitung von Elke Mack, Michael Schramm und dem Ökonomen Stephan Klasen zum Thema „Globale Gerechtigkeit und absolute Armut“. An der Hochschule für Philosophie in München finanziert die Rottendorf-Stiftung ein Projekt „Globale Solidarität – Schritte zu einer neuen Weltkultur“. Die Sachverständigengruppe Weltwirtschaft und Sozialethik, in der mehrere Sozialethiker mit Ökonomen zusammenarbeiten, befasste sich mit den globalen Finanzmärkten, der Migration, dem Welthandel und neuerdings der Verlagerung von Arbeitsplätzen. In den nächsten Jahren dürfte eine intensivere Beschäftigung mit dem Problem einer gerechten Bewältigung der Folgen und Lasten des Klimawandels anstehen, wofür ein Papier der Deutschen Bischofskonferenz, an dem unter anderem Markus Vogt beteiligt war, gute Vorarbeiten geleistet hat.

Als zweites Megathema, das sich in der Sozialethik inzwischen fest etabliert hat, muss das Thema Bildung erwähnt werden, die vor allem im Zusammenhang mit der Forderung nach Beteiligungsgerechtigkeit reflektiert wird (vgl. Marianne Heimbach-Steins, Gerhard Kruip [Hg.], Bildung und Beteiligungsgerechtigkeit, Bielefeld 2003). Heimbach-Steins und Kruip leiten das DFG-Projekt „Menschenrecht auf Bildung“, dessen erste Ergebnisse gerade publiziert worden sind (Das Menschenrecht auf Bildung und seine Umsetzung in Deutschland, Bielefeld 2007). Bildung war auch Schwerpunktthema des Kongresses für Moraltheologie und Sozialethik 2007 in Luzern.

Drittens fand schließlich das Thema „soziale Gerechtigkeit“ im Kontext der deutschen Sozialstaatsreformen besondere Aufmerksamkeit, nicht zuletzt auch durch die Kontroverse, die Ende 2003 vom Impulspapier „Das Soziale neu denken“ einer von der Bischofskonferenz beauftragten Expertengruppe ausgelöst worden war. Dabei war das Ziel der Bekämpfung von Armut, Exklusion und Benachteiligung nicht strittig, sehr wohl aber die Zuordnung von Verteilungs- und Beteiligungsgerechtigkeit sowie die Frage nach den geeigneten Mitteln und dem konkreten Reformbedarf der sozialen Sicherungssysteme im Kontext von Globalisierung und demographischem Wandel. Auf mehreren Tagungen wurde darüber auch unter Sozialethikern/innen heftig gestritten (vgl. Hermann-Josef Große Kracht, Ulrike Kostka, Michael Schramm [Hg.], Der fraglich gewordene Sozialstaat, Paderborn 2006; Martin Dabrowski, Judith Wolf [Hg.], Aufgaben und Grenzen des Sozialstaats, Paderborn 2007; Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 2007; Matthias Möhring-Hesse [Hg.], Streit um die Gerechtigkeit, Schwalbach 2005). Um eines der dabei besonders wichtigen Felder sozialethisch auszuleuchten, analysierte das Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 2006 das Gesundheitssystem in Deutschland.

Über diese Schwerpunkte hinaus befassten sich Sozialethiker/ innen mit einer großen Bandbreite weiterer Fragen, beispielsweise mit interkulturellen Konflikten, der Religionsfreiheit, der Notwendigkeit gemeinsam geteilter Werte, insbesondere auf europäischer Ebene, den Medien und dem Internet (auch Thema des Berliner Werkstattgesprächs 2008). Weiterhin spielen Gender-Themen eine wichtige Rolle; sie hatten die Zunft auch während des Werkstattgesprächs 2003 beschäftigt. Ein Projekt bei Ingeborg Gabriel in Wien leuchtet die ökumenischen Perspektiven der Sozialethik aus, besonders durch die Einbeziehung der Sozialtheologie in den orthodoxen Kirchen. Sozialethische Aspekte von Ehe und Familie, von Bioethik und Gentechnologie, ja sogar des Sports spielen ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Diese Vielfalt kommt nicht von ungefähr. Christliche Sozialethik ist innerhalb der Theologie die Disziplin, die die Verkörperung des Glaubens in einer Praxis der Gerechtigkeit reflektiert. Man muss zugeben, dass damit das Fach, das innerhalb der Theologie immer noch als leicht randständig betrachtet und manchmal auch so behandelt wird, strukturell überfordert ist. Nicht an allen theologischen Fakultäten gibt es eigene Lehrstühle für das Fach und an den theologischen Instituten außerhalb von Fakultäten gelingt es Sozialethikern eher selten, auf Lehrstühle berufen zu werden, die den Gesamtbereich der systematischen Theologie abdecken sollen. Rechnet man die Fachhochschulen hinzu, so gibt es in Deutschland nur etwa 30 Professoren/innen mit dem Schwerpunkt Sozialethik. Immerhin ist sie das Fach mit dem höchsten Laien- und Frauenanteil. Mit 8 Habilitationen und 69 Promotionen zwischen 2000 und 2006 und einer Relation von voraussichtlich 13 Habilitierten bei demnächst vier frei werdenden Lehrstühlen liegt sie hinsichtlich des Nachwuchses im guten Mittelfeld. Mit der neuen Zeitschrift „Amos“, die von der Kommende in Dortmund in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik herausgegeben wird und der neuen Online-Zeitschrift „Ethik und Gesellschaft“ (www.ethik-und-gesellschaft.de) verfügt sie über zwei neue Periodika, die das Jahrbuch und die konservativ ausgerichtete „Die neue Ordnung“ fruchtbar ergänzen. Für die öffentliche Wirksamkeit wäre es wichtig, zeitnah und kompetent zu aktuellen Fragen Stellung nehmen zu können. Dazu leistet das neu gegründete, an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin angesiedelte Institut für Christliche Ethik und Politik (ICEP) bereits wertvolle Arbeit.

Christliche Sozialethik ist selbstverständlich erheblich mehr als Exegese lehramtlicher Texte. Trotzdem ist es für das Fach und seine Wirksamkeit nicht unwichtig, dass es in einer Serie von Sozialenzykliken seit 1891 über einen lehramtlichen Referenzpunkt und damit über die manchmal ja auch hilfreichen Autoritätsargumente verfügt. 15 Jahre nach „Centesimus Annus“ gab es mit „Deus caritas est“ erstmals wieder eine Enzyklika, die sich trotz eines ganz anderen Stils und Bezugrahmens mindestens in ihrem zweiten Teil als „Sozialenzyklika“ bezeichnen lässt. Erfreulicherweise rechnet Benedikt XVI. die Sozialethik zum Kernbereich kirchlicher Verkündigung. Und er macht für die Sozialethik die Vernunft stark. Wenn er jedoch betont, dass die Vernunft erst im Glauben an Gott zu sich selbst findet, was theologisch sicher richtig ist, dann besteht jedoch zumindest die Gefahr der Diskriminierung der Argumente derjenigen, die diesen Glauben nicht teilen, seien es Angehörige anderer Religionen oder Atheisten. Damit sind erneute Grundlagenprobleme aufgeworfen, die auf dem nächsten Kongress für Moraltheologie und Sozialethik 2009 in St. Georgen, wo es um das Thema des Verhältnisses theologischer Ethik zur Philosophie gehen soll, diskutiert werden müssen. Es wird interessant sein, wie sich der Papst in seiner für dieses Jahr angekündigten Sozialenzyklika zu ethischen Problemen der Globalisierung äußern wird.

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