Die Religionskritik der PsychoanalyseÜberholt oder zukunftsweisend?

Sigmund Freud erweist sich mit seiner Religionskritik als Vertreter der ersten, aufklärerischen Moderne, die auf eine metaphysische Wesensbestimmung des Menschen verzichtet. Welche Rolle spielt der kritische Blick auf Religion in der zweiten Moderne, die man auch Postmoderne oder „Flüchtige Moderne“ nennt? In ihr ist das Feld des Religiösen zunehmend vom „Spiritual Turn“ geprägt.

Sigmund Freuds religionskritische Programmschrift „Die Zukunft einer Illusion“ (1927) provozierte von Anfang an geistreiche Spiele mit den Titelbegriffen. Thomas Mann nannte im Festvortrag zu Freuds 80. Geburtstag (1936) dessen Lebenswerk einen Baustein zu einer „neuen Anthropologie und damit zum Fundament der Zukunft, dem Hause einer klügeren und freieren Menschheit“. Oskar Pfister, reformierter Pfarrer und mit dem Schöpfer der Psychoanalyse befreundeter Psychoanalytiker, publizierte bereits 1928 „Die Illusion einer Zukunft“. Unter demselben Motto debattierten im März 2013 Psychoanalytiker und Lehrende der vom Jesuitenorden getragenen Hochschule für Philosophie (Die Zitate in diesem Beitrag sind, soweit nicht anders gekennzeichnet, dem zu dieser Konferenz erschienenen Tagungsband entnommen: Eckhard Frick/Andreas Hamburger [Hg.], Freuds Religionskritik und der „Spiritual Turn“. Ein Dialog zwischen Philosophie und Psychoanalyse, Stuttgart 2014)

Bilder können die Anstrengung des Begriffs unterstützen, insbesondere dann, wenn Begriffsfindung und Begriffswandel ein unabgeschlossener Prozess sind. Dies gilt für die Suche des modernen Menschen, erst recht des postmodernen, nach dem Selbst. Dies gilt für das Feld des Religiösen, das zunehmend vom „Spiritual Turn“ geprägt ist: von der Wende zum Subjektiven, zur eigenen Erfahrung, zum „Surfen“ in fremden religiösen Traditionen und Spiritualitäten.

Wurden in Theologie, Philosophie und Soziologie die (Neo-)Spiritualitäten lange Zeit als anti-religiös und insbesondere anti-kirchlich gesehen, so wird allmählich die mit dem Spiritualitätsbegriff einhergehende doppelte Demokratisierung des Spirituellen akzeptiert: einerseits die Selbstermächtigung des spirituellen Subjekts (Winfried Gebhardt) gegenüber institutionalisierten Rahmungen, andererseits die Priorität der Ersten-Person-Perspektive von Respondenten in wissenschaftlichen Untersuchungen, das heißt der Selbstdeklaration der Befragten vor der Beschreibung. In Medizin, Psychotherapie und anderen Gesundheitswissenschaften dienen „Spiritualität“ und „Spiritual Care“ schon länger als Breitband-Begriffe.

Der jungianische Psychoanalytiker Roman Lesmeister vergleicht die prekäre Situation des postmodernen Subjekts mit dem Seiltänzer, von dem Friedrich Nietzsche im „Zarathustra“ spricht. Der Seiltänzer läuft auf dem Seil, das der Mensch selbst ist: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde.“ In Bezug auf Paul Klees Seiltänzer-Grafik schreibt Lesmeister: „Die prekäre Situation, die sich in diesem Bild verdichtet, erscheint vergleichsweise harmlos, wenn man sich nun zusätzlich vorstellt, dass die beiden Enden des Seils keineswegs in festen sichtbaren Verankerungen ruhen, sondern in einem unbestimmten Irgendwo verschwinden, also vielleicht überhaupt keine Verankerung haben: weder Gott noch Selbst, weder Tier noch Übermensch“ (57 f.).

Bleiben wir bei dem von Lesmeister zitierten Bild Nietzsches und Klees. Freuds Religionskritik hat gewissermaßen eine der beiden Verankerungen gelöst, hat ein neuzeitliches Wissenschaftsprogramm für die Religionspsychologie übernommen: etsi Deus non daretur – auch wenn es Gott nicht gäbe. Durch diese Einklammerung der Gottesfrage wird zweierlei möglich: einerseits dem einzelnen Gläubigen, ob dem psychoanalytischen Kollegen Pfister oder einer Patientin beziehungsweise einem Patienten mit Respekt zu begegnen, andererseits entwicklungsförderliche und entwicklungshemmende Einflüsse der Religion ohne metaphysische Denkverbote zu beschreiben. Ein zeitgenössischer Religionspsychologe und Psychotherapeut, Kenneth Pargament, drückt dies so aus: Religion und Spiritualität können Teil des Problems oder Teil der Lösung sein.

Der Spiritual Turn – Krisensymptom der späten Moderne?

Der Abschied der gottes-seitigen Verankerung des Menschheits-Seiles begünstigt einen nachmetaphysischen Selbstfindungs-Optimismus, zum Beispiel bei Jean-Paul Sartre. Allerdings impliziert die Suchbewegung der Selbstfindung, dass es ein feststellbares Selbst gibt, eine Heimat, bei der diese Suche letztlich „ankommen“ kann, ferner dass personale Autonomie und Sinn möglich sind.

Alle drei Aspekte dieses philosophischen Projekts der Spätmoderne sind allerdings erschüttert, sodass der zweite Verankerungspunkt des Seiles fragwürdig wird, das Selbst. Dazu Lesmeister: „Alles in allem also keine gute Nachricht für die, die wie Sartre noch darauf gehofft haben, nach dem Wegfall der metaphysischen Behausung in einigermaßen geordneten und überschaubaren Verhältnissen bei „sich selbst“ heimisch zu werden. Es sieht eher danach aus, als geriete das Subjekt auf dem Weg zu sich selbst aus dem Regen der Nichtexistenz Gottes in die Traufe des nichtexistenten Selbst. Eine fatale Symmetrie des Fehlens zeichnet sich ab. Für die gegenwärtige Bestimmung des Subjektes würde sich nichts ändern, so Sartre, gleichgültig, ob es Gott gibt oder nicht. Würde sich auch nichts ändern, so fragen wir heute, egal, ob es das Selbst gibt oder nicht?“ (57).

Der Psychoanalytiker Andreas Hamburger und der Philosoph Dominik Finkelde halten den Spiritual Turn für ein Krisensymp­tom der späten Moderne. Finkelde spricht, ausgehend von ­Jacques Lacan und Slavoj Žižek von einer hysterisierten spirituellen Suche: Die mit eklektischen oder neo-buddhistischen Spiritualitäten oftmals assoziierte Reise zum „inneren Ich“, zum „wahren Selbst“ diene keineswegs der Autonomie oder dem Schutz des Individuums, sondern „dessen neurotisierender Auslieferung an neue Befehlsmechanismen des Über-Ich“.

Finkelde spricht vom „postmodernen Subjekt ideologischer Anrufung“, dessen Freiheit durch Auslieferung an spirituelle Konsumangebote bloßer Schein ist. Die dogmaphobe spirituelle Suche: eine erstaunliche Weiterentwicklung der These Hans Urs von Balthasars, der am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils von der Spiritualität als der subjektiven Seite der Dogmatik sprach.

Der Mannheimer Psychoanalytiker Gerhard Schneider trägt zur schwindelerregenden Situation des postmodernen „Seiltänzers“ eine dialektische Konzeption personaler Identität bei: Identität versucht, sich durch die Zentrierung in der Positivität von Ordnungs- und Sinntendenzen zu stabilisieren. Positivität muss jedoch dialektisch mit Negativität, mit der Aufhebung solcher haltgebender Strukturen, zusammen gesehen werden. Die Negativität, so formulierte es Schneider bereits in den achtziger Jahren, ist die Abwehrseite der Identität, das Ausgeklammerte, Ausgeschlossene. In einer anderen Begrifflichkeit nennt C.G. Jung diesen Aspekt der Identität den Schatten: alles, was ich nicht sein will, Böses und Gutes, was ich gern auf andere projiziere, und doch selbst bin.

Schneider stellt den Spiritual Turn in den von Zygmunt Bauman so benannten Übergang von der „Festen“ zur digital bestimmten „Flüchtigen Moderne“. In der Festen Moderne tritt „Identität“ als Positivität und Stabilität an die Stelle des alten Wesens-Begriffs. In der Flüchtigen Moderne hingegen werden Veränderung, Beschleunigung, Ver-Anderung des Eigenen betont. Wurden in der Festen Moderne Negativität und Kontingenz der Positivität abgewehrt, so ist es jetzt umgekehrt: Das Sich-substantiell-Gleich-Bleiben, Kontinuität und Stabilität dürfen nicht mehr sein. Was bleibt, besser gesagt: jeweils nur einen Augenblick greifbar ist, nennt Schneider die „situative Identität“.

Schneider stützt sich auf die anthropologischen Analysen Odo Marquards: Mit dem von Friedrich Nietzsche proklamierten „Tod Gottes“ bricht eine teleologische, transzendente, am Schöpfergott festgemachte Wesensbestimmung des Menschen zusammen, oder im Bild des Seiltänzers: Die Verankerung in Gott wird gelöst. Nach Marquard tritt die „Zauberformel Identität“ an die Stelle der alten metaphysischen Wesensbestimmung, also der Selbst-Anker des Seiles.

Wie ist nun der Spiritual Turn als Phänomen des Übergangs von der Festen zur Flüchtigen Moderne aufzufassen? Schneider zufolge sind Stabilität, Orientierung und Positivität der in der Flüchtigen Moderne abgewehrte Teil des Identitäts-Binoms Positivität-Negativität: „Das Abgewehrte manifestiert sich meines Erachtens in entsprechenden sozio-kulturellen Phänomenen wie denen der Intensivierung des metaphysischen Bedürfnisses oder der Wendung zur Spiritualität, aber auch solchen ganz mundaner Art“.

Als Beispiel für ein derartiges „mundanes Bedürfnis“ führt Schneider ein Liebesritual an, das sich an europäischen Großstadt-Brücken beobachten lässt: Liebespaare ketten Vorhängeschlösse an Brückengitter an und versenken die Schlüssel im Fluss. Sie nehmen sich also die Möglichkeit der Schlüsselgewalt, der Flexibilität. Sie wollen die Gefahr der Trennung und Scheidung bannen, indem sie durch Wegwerfen der Schlüssel die Endgültigkeit des angeschlossenen Vorhängeschlosses betonen. Allerdings: Das Abgewehrte kann jederzeit wiederkehren: Als nicht weggeworfener Zweitschlüssel oder als Bolzenschneider.

Freud erweist sich also mit seiner Religionskritik als Vertreter der Ersten, klassischen, aufklärerischen, „Festen Moderne“, welche die Verankerung des anthropologischen „Seils“ in Gott aufgibt und insofern auf eine metaphysische Wesensbestimmung des Menschen verzichtet. Was aber wird aus Freuds Religionskritik in der „Zweiten Moderne“, die man auch Postmoderne oder „Flüchtige Moderne“ nennen kann, wobei auch die Abgrenzungen der Epochen „flüchtig“ sind?

Freuds Religionskritik im Kontext

Jan Assmann verdanken wir eine Neuausgabe von „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“, Freuds letztem großen Buch, an dem er von 1934 bis 1939 arbeitete. Seinen Beitrag zum Sammelband über Freuds Religionskritik überschreibt er mit „Zwangsneurose oder Fortschritt in der Geistigkeit“. Er greift also eine zentrale Intuition Freuds auf, nämlich dass in der jüdischen Religion ein geistiger Fortschritt liegt – dürfen wir auch sagen: ein geistlicher, ein spiritueller?

Im Gegensatz zu vielen ethnologischen Lesern Freuds hat der Ägyptologe Assmann die Grandezza, sich bei manchen Thesen Freuds nicht lange aufzuhalten, wenn er sie für unbegründet hält, zum Beispiel seine Monotheismus- und Echnatontheorie. Er schlägt vor, Freuds Essay als „historischen Roman“ zu lesen, aus dem wenig über historische Fakten, aber viel über die „Ambivalenz der monotheistischen Vaterreligion und die Bedeutung unbewusster Übertragungen in der Kulturgeschichte zu lernen ist“.

In seinem letztem Buch, so Assmann, reflektiere Freud die „seelische Tiefenprägung“ des Judentums, „nur wird man diese Prägung nicht auf biologische Vererbung, sondern kulturelle Übertragung und historische Erfahrungen zurückführen, wobei sich die Leerstelle, in die Freud den Mord an Moses eingesetzt hat, inzwischen auf eine ihm vermutlich unvorstellbare Weise durch den Holocaust gefüllt hat. In diesem Licht hat auch Freuds Mosesbuch eine ganz neue Resonanz gewonnen. ,Der Mann Moses und die monotheistische Religion’ ist, nach seinen Ansprüchen gemessen, ein Dokument des Scheiterns und gehört inzwischen doch unbestritten zu den bedeutendsten Büchern des 20. Jahrhunderts“ (134).

Eine Form der „Übertragung“ von Erfahrung ist Andreas Hamburger zufolge der Mythos des Lamarckismus, von dem Freud geradezu besessen war, nämlich dass sich Erfahrung, zum Beispiel einer Opfergeschichte, genetisch einschreiben müsse. In ihrem Beitrag und im Dialog mit Jan Assmann bringt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann die Praxis der Familienaufstellung als Beispiel dafür ein, wie Lebende und Tote in einem systemischen Kontext präsent sein können.

Wie Schneider nimmt Aleida Assmann zum Identitätsproblem Stellung: Der westliche Individualismus werde im globalen Horizont nicht-individualistischer Kulturen relativiert. Auch die posttraumatische Situation unserer Gesellschaft, drei Generationen nach Weltkrieg und Shoa, präge die labile Position des Individuums in der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft. Sowohl Aufstellung als auch Familienroman seien teils archaische, teils moderne Formen der Magie, um diese Position zu sondieren.

Auch der Münchner Psychoanalytiker, Arzt und Theologe Herbert Will reflektiert seit einigen Jahren den Kontext von Freuds Religionskritik. Gemeinsam zunächst mit Brigitte Boothe, jetzt mit Ludwig Lewandowski, lädt er jährlich zum Symposion „Religion & Psychoanalyse“ ein. Im aktuellen Jahrgang der Zeitschrift Psyche nimmt Will Stellung zu Freuds Religionskritik als voranalytischer, die Freud externalisiert, nicht aber als intrapsychischen Konflikt wahrgenommen, geschweige denn, bearbeitet habe (vgl. Vom Niedergang der Weltanschauungen. Freuds Atheismus im Kontext betrachtet, Psyche, 68, 1–30).

Ein Beispiel dafür ist das in jüdischen Familien übliche Entzünden der Schabbat-Kerzen am Freitagabend, das Freud für einen Aberglauben hielt und seiner Frau Martha während der langen Ehejahre verwehrte. Erst nach Freuds Tod begann Martha wieder mit dem Brauch des Entzündens der Schabbat-Kerzen. Den Konflikt zwischen dem wissenschaftlich-auf­klärerischen Atheismus einerseits und den Traditionen der jüdischen Religion andererseits, so Will, habe Freud nicht bearbeitet, sondern durch seine wissenschaftliche Weltanschauung (pseudo-)gelöst.

Ist Religionskritik im postsäkularen Diskurs noch angebracht?

An die Stelle des für Freud und die Erste Moderne maßgeblichen Kulturkampfes zwischen Religion und Wissenschaft tritt spätestens seit der Paulskirchenrede (2001), mit der Jürgen Habermas die „postsäkulare Gesellschaft“ einläutete, das Bemühen um Übersetzung von religiöser in säkulare Sprache. Einerseits ist klar, dass das Projekt der aufgeklärten Wissenschaft erfolgreich ist, andererseits teilt die wissenschaftliche mit der religiösen Rationalität das kritische, diskursive Potenzial gegen den szientistischen und funktionalistischen Naturalismus.

Gerade in der postsäkularen Debatte entsteht für das religiöse Individuum der Zwang zur Reflexivität. Der religiöse Mensch muss die Spannung zwischen Wissenschaft und religiösem Glauben für sich persönlich handhaben, er muss religiös und säkular oder, wie Will sagt, Martha und Sigmund in einer Person sein. Freud konnte sich noch intellektuell von der Religion, ihren Institutionen und Traditionen distanzieren, obwohl er sich – oft hochemotional – mit ihr beschäftigte. Jedoch: „Aus der großen, externen und exkludierenden Konfrontation des 19. Jahrhunderts ist zumindest in der europäisch geprägten Welt ein innerer Konflikt geworden. Er ist Teil der Individualisierung, welche die Religion zunehmend prägt“ (Will,24).

Der postsäkulare gesellschaftliche Diskurs fordert Rationalität und Übersetzungsleistungen sowohl von der wissenschaftlichen Vernunft als auch von der Religion: An dieser Stelle setzt in dem erwähnten Sammelband die Studie von Michael Reder über „Religionskritik im Licht von Habermas’ Spätphilosophie“ an. Reder kritisiert Habermas’ starken Übersetzungsvorbehalt – die Pluralität sozialer Praktiken sei Grundlage moderner Gesellschaften. Außerdem sei sein Religionsverständnis auf deliberative Prozesse, auf kognitive und funktionale Einheitlichkeit eingeengt, sodass er neuen spirituellen Entwicklungen mit Argwohn begegnet.

Dem entgegnet Reder: „Auch die großen Weltreligionen sind (…) durch eine hohe interne Vielfalt gekennzeichnet und können nur schwer auf eine bestimmte Form der Weltdeutungen zurückgeführt werden. Auch wenn sich die Weltreligionen auf einheitliche Traditionen und Quellen berufen, so sind doch ihre gesellschaftlichen Beiträge sehr heterogen und auch nicht alle konstruktiv. Diese Heterogenität zeigt sich auch, wenn man die Vielfalt der Religionen insgesamt betrachtet. In Zeiten des religious beziehungsweise spiritual turn ist ein ausdifferenzierteres Verständnis von Religion notwendig, das der kulturellen Pluralität des religiösen Feldes und den vielfachen sozialen Einflüssen, die von ihm ausgehen, Rechnung trägt“ (184).

Ebenso wie Reder betrachtet Brigitte Boothe die aktuelle religiös-spirituelle Praxis nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer weltanschaulichen Geltungsansprüche, sondern innerhalb ihres faktischen gesellschaftlichen Vorkommens. Nüchtern konstatiert sie (als Voraussetzung des Spiritual Turn): „In der heutigen Bildungsöffentlichkeit ist die Verwerfung des Religiösen kein Gegenstand von größerem Interesse. Der Einfluss der Kirche im mitteleuropäischen Raum ist ohnehin kontinuierlich schwächer geworden. Es bedarf keines kritischen Eifers mehr“ (161).

Boothe beschäftigte sich in den vergangenen Jahren sowohl mit der psychologischen Bedeutung von Narrativem als auch mit dem Wünschen. Im Gegensatz zu Freuds klassischer Position sieht sie eine wichtige Parallele zwischen Psychoanalyse und Religion im Wunschverzicht: „Freud setzte den religiösen Bezug dem Wünschen und den Wunschimaginationen gleich. Dies ist der entscheidende Kurzschluss. Die Fähigkeit zum Religiösen ist vielmehr eine Bewegung des Überschreitens der desiderativen Mentalität. Sie entwickelt sich im Rahmen einer Anschauungs- und Aufnahmebereitschaft, die den egozentrischen Bezug zurücknimmt und sich einem nicht-begriffenen Anderen öffnet“ (165 f.).

Diese Haltung gehöre zur Entwicklung der kindlichen Trennungserfahrung: „Das Andere wird in der Erfahrung des Staunens als Fremdes bedeutsam. Mit Staunen ist die – vom basalen Affekt der Überraschung aus sich entwickelnde – Fähigkeit gemeint, einem Gegenstand in der Haltung rezeptiver Offenheit zu begegnen und ihn auf sich wirken zu lassen, ohne sein Geheimnis zu enthüllen und ohne seine Integrität zu stören. Indem ein einzelner einen Gegenstand anschaut, tritt er zurück, und das Objekt wird ihm als ein Fremdes und Anderes bedeutsam. Die Fähigkeit zur religiösen Erfahrung ist gerade – dies sei ausdrücklich und dringlich hervorgehoben – die Offenheit und der Mut zur unbefangenen Offenheit. Diese Haltung eines Leerwerdens, einer unvoreingenommenen Offenheit, des Staunens über das Neue, das sich in der Begegnung vollzieht, ist beispielsweise gerade für die Realisierung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, das besondere Beteiligtsein des Analytikers im verstehenden Dialog essenziell“ (166).

Was ergibt sich aus all dem für die heutige Bedeutung der psychoanalytischen Religionskritik? Godehard Brüntrup fasst Freuds religionskritische Argumente so zusammen: Der religiöse Mensch verletze erstens seine epistemischen Pflichten, indem er Dinge für wahr hält, die er nicht beweisen kann. Zweitens sei Religion Autonomieverlust, der religiöse Mensch verkümmere in seinem Menschsein. Brüntrup antwortet: Hinter Ersterem stecke eine fragwürdige Erkenntnistheorie, denn keineswegs alle unbegründeten Überzeugungen gelten im Alltag als irrational. Auch der zweite Aspekt beruhe auf einem fragwürdigen philosophischen Konzept (von Autonomie).

Brüntrup zieht dem Harry Frankfurts Konzept der „wholeheartedness“ von „Volitionen“ vor. Nach Frankfurt habe ein Wesen Autonomie, wenn „sich eine Lebensmaxime mit ganzem Herzen setzt und sie auch handlungsleitend durchsetzt“, er stehe dann „in einem aktiven Verhältnis der Aneignung“ zum Lebensideal des „Caring“ (72). Beide religionskritischen Argumente, so Brüntrup, seien nicht notwendig mit der psychoanalytischen Theorie verknüpft, seien fragwürdige philosophische Positionen, die von den Nachfolgern Freuds aufgegeben werden können und im Interesse der psychotherapeutischen Praxis auch aufgegeben werden sollten.

Wenn wir fragen, welche Bedeutung psychoanalytische Religionskritik heute und in Zukunft hat, so können wir Freuds Argumentation mit Brüntrup werkimmanent hinterfragen und sodann in ihrem geistesgeschichtlichen und kulturkritischen Kontext sehen. Die diachrone Betrachtungsweise lässt Freud als einen späten Vertreter der aufklärerischen klassischen Moderne erscheinen. Wie auch immer man den Wandel zur Zweiten oder Flüchtigen Moderne / Postmoderne beschreiben und zeitlich fassen will: Es kommen Bilder des Seiltanzes, des Balancierens, Schwebens „ohne festen Boden“ (Hamburger) ins Spiel. Es meldet sich das spirituelle Bedürfnis nach Sicherheit, das nach Befriedigung beziehungsweise Genießen verlangt.

Indes: Bedürfnis (need, besoin) ist nicht alles. Deshalb sprechen französische Autoren wie Jacques Lacan und Emmanuel Levinas vom „désir“, dem Begehren oder der Sehnsucht. „Dies ist das Begehren: von einem anderen Feuer verzehrt werden als dem des Bedürfnisses, das die Sättigung löscht; über das hinaus denken, was man denkt“ (Levinas). Begegnung geschieht in der Ordnung des Begehrens; um Begegnung geht es sowohl in der Psychoanalyse als auch in jeder spirituellen Erfahrung, die diesen Namen verdient.

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