Der Professor der Zoologie verkündete im Namen der Evolutionstheorie den baldigen Durchbruch einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung und das nahe Ende des alten Gottesglaubens. Seine Bücher wurden hunderttausendfach verkauft, religionskritische Vereinigungen schossen europaweit aus dem Boden und es erschienen eigene, religionsfeindliche Zeitschriften wie der vor allem katholische Geistliche verhöhnende „Anti-Christ-Kalender“ und Bücher wie „Die Gottespest“. Der Zuspruch war so groß, dass selbst Spitzen des deutschen Staates die Nähe zu dem kämpferisch-antikatholischen Professor suchten, der von begeisterten Anhängern auf einem Freidenker-Kongress in Rom schließlich gar zum „Gegenpapst“ ausgerufen wurde.
Nein, hier ist nicht der Aufschwung des „Neuen Atheismus“ am Anfang des 21. Jahrhunderts geschildert, sondern der seiner letzten Welle vor anderthalb Jahrhunderten. Galionsfigur, Bestsellerautor und ausgerufener „Gegenpapst“ der damals vor allem „Freidenker“ und „Monisten“ genannten Atheisten war der Jenaer Professor Ernst Haeckel (1834–1919). Insbesondere nach dem deutschen Sieg im Krieg gegen Frankreich 1870/71 beziehungsweise der darauf folgenden längeren Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs, eines entstehenden Sozialstaates und der Bildungsexpansion breiteten sich nichtreligiöse Bünde und Weltanschauungen von der Arbeiterschaft bis ins Bildungsbürgertum hinein aus, Hunderttausende verließen die Kirchen.
Betrachtet man die Publikationen aus jener Zeit, so fällt auf, dass alle wesentlichen Argumente und Schlagworte des so genannten Neuen Atheismus damals schon voll entfaltet waren: erstens, die Kontrastierung eines wissenschaftlichen Positivismus mit dem vermeintlich überholten und schädlichen „Aberglauben“ der Kirchen und Religionen samt der reduktionistischen Verneinung von Gottesglauben, Willensfreiheit und überhaupt Geisteswissenschaften; zweitens, Versuche der Durchsetzung einer neuen Geschichtsdeutung, nach der alles Fortschrittliche auf Religionskritiker und alles Schlechte auf religiöse Akteure zurückgeführt werden sollte und, drittens, die katholische Kirche als zentrales Feindbild mit ihren in Prunk lebenden, sexuelle Verfehlungen begehenden Geistlichen; Judentum und Islam als ebenfalls verachtete Beispiele „barbarischer“ Rückständigkeit und schließlich höhnisches Desinteresse an den progressiveren, evangelischen Kirchen.
Und immerhin ließ sich niemand Geringeres als der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898) von Ernst Haeckel in Jena zum „Ehrendoktor der Phylogenie“ ausrufen – der gemeinsame, deutsch-nationale Fortschrittsglaube wider dem „ultramontanen“ Gegner verband.
Die organisatorischen Probleme der nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaften haben sich erhalten
Betrachtet man die Wucht, Lebendigkeit und gesellschaftliche Ausstrahlung der freireligiösen, freidenkerischen und religionsfeindlichen Bewegungen in Europa und den USA um die Wende zum 20. Jahrhundert, so erscheint der heutige Neue Atheismus und „evolutionäre Humanismus“ als eher schwächliche Wiederholung. Die Ausrufung des Evolutionsbiologen Richard Dawkins zum „Gegenpapst“ würde selbst in den Reihen der Religionskritiker für Hohn und Spott sorgen und ob sich ein europäischer Regierungschef von ihm in Bismarckscher Manier zum Ehrendoktor erheben lassen würde, darf ebenfalls bezweifelt werden.
Dabei waren die Stärken der wissenschaftlich-religionskritischen Weltanschauungen bereits damals im Wesentlichen die gleichen wie heute: Gegenüber den wachsenden Bergen empirisch stärker werdender, wissenschaftlicher Theorien wirkte die „Hypothese Gott“ zunehmend überflüssig und die Argumente der Theologen dazu ignorant, defensiv und unverständlich. Gleichzeitig entstanden aus angewandten Wissenschaften immer neue Technologien, die das Leben von Menschen beobachtbar verbesserten und zugleich Zukunftsträume nach Mehr in Gang setzten.
Entsprechend setzte sich in der öffentlichen Wahrnehmung ein verkürztes Bild von Evolution durch: Während evolutionäre Prozesse immer auf gewachsenen Traditionen aufbauen und von dort aus in verschiedenste Richtungen tasten, wurde die neu entdeckte Entwicklungslehre als lineare Aufwärtsbewegung missverstanden, in der das Neue das Alte ablösen würde – der weiße Europäer die „Wilden“ anderer Kontinente, die modernen Technologien die mühsamen Arbeits- und Lebensbedingungen sowie die Wissenschaft die Religion. Und es gab quer durch die Kirchen auch ausreichend dialogunfähige und autoritäre Geistliche und Funktionäre, die das bald populäre Feindbild wissenschafts-, fortschritts- und menschenfeindlicher Religionen aufs Trefflichste bestätigten.
Interessanterweise lassen sich aber auch die damaligen organisatorischen Probleme der nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaften sehr gut mit den heutigen vergleichen: So zeigte sich, dass auf Basis wissenschaftlicher Theorien völlig unterschiedliche und teilweise gegensätzliche Weltanschauungen entstanden, die von kommunistisch-sozialistischen Revolutionshoffnungen über liberale Individualismen bis zu rassistisch-nationalistischen Sozialdarwinismen reichen konnten. A-Theisten (Nicht-Gottgläubige) bezogen ihre Position auch damals schon erst einmal aus einer Verneinung – und bis heute dient die Beschwörung des gemeinsamen Feindbildes Religion auch der Vereinigung von Menschen, die außer dieser Negation weltanschaulich wenig verbindet.
Hinzu kamen, heute eher stärker als damals, auch die Schwierigkeiten, aus den durchaus wachsenden Zahlen der Konfessionslosen auch wirklich zahlende und aktive Mitglieder zu gewinnen. Drittens fällt damals wie heute das fast völlige Fehlen von Frauen in religionskritischen Leitungspositionen auf. Der „neue Atheismus“ ist wie sein Vorgänger massiv männlich dominiert. Schließlich wurde auch damals bereits der überdurchschnittlich schnelle Geburtenrückgang besonders unter Konfessionslosen diskutiert, auf den Aktivistinnen und Aktivisten immerhin noch mit bisweilen eugenischen Untertönen antworten konnten, sie würden eben auf „Klasse statt Masse“ setzen.
Trotz dieser bereits Anfang des 20. Jahrhunderts unverkennbar gewordenen Schwächen waren die nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaften am Ende des Kaiserreiches noch immer so präsent, dass die Weimarer Reichsverfassung in Artikel 137 Absatz 7 festlegte: „Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.“ Über Artikel 140 GG wurde auch diese Vorschrift Bestandteil auch unseres aktuellen Grundgesetzes.
Heute können jedoch nur noch die wenigsten Menschen etwas mit Namen wie Haeckel oder dem „Deutschen Monistenbund“ anfangen, so gründlich sind sie in Vergessenheit geraten. Denn nachdem mit den beiden Weltkriegen und der dazwischen stattfindenden Weltwirtschaftskrise auch der säkulare Fortschrittsoptimismus und das Gefühl existenzieller Sicherheit zerrüttet waren, waren die nichtreligiösen Weltanschauungsbewegungen mangels Mitgliedern und Nachwuchs in ganz Europa und den USA allenfalls noch ein Schatten ihrer selbst oder gänzlich erloschen. Dagegen kehrten zahlreiche Ausgetretene (gerade auch im Nachkriegsdeutschland) wieder leise in die großen Kirchen zurück.
Neben einer ganzen Reihe von bis heute lebendigen Religionsgemeinschaften aus jenen gründungsreichen Jahrzehnten wie der altkatholischen Kirche, der Neuapostolischen Kirche, der anthroposophischen Christengemeinschaft oder den deutschen Bahai konnten sich so nur wenige kleinere und massiv unterjüngende, „freireligiöse“ und „freidenkerische“ Gemeinden am Leben erhalten. Von diesen haben in den letzten Jahren einige begonnen, durch Verschmelzungen und Umbenennungen zu humanistischen Verbänden wieder jüngere Neumitglieder zu gewinnen. Zugleich bemühen sich neuere Gründungen, sich in die „ehrwürdige“ Tradition der erloschenen Bewegungen zu stellen, wie der früher „freidenkerische“ Berliner Landesverband des „Humanistischen Verbandes Deutschland“ (HVD), der 2005 im Willy-Brandt-Haus der SPD „sein“ 100-jähriges Jubiläum feierte.
Die derzeit hohe und wachsende Zahl der Konfessionslosen in Deutschland speist sich vor allem aus der wiederum langen Phase existenzieller Sicherheit und folgender Säkularisierung seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts sowie der forcierten Entkirchlichung der ehemaligen DDR. Dass dennoch deutschlandweit noch immer etwa zwei Drittel und in Ländern wie Baden-Württemberg sogar über 85 Prozent der Menschen einer Kirche oder Religionsgemeinschaft angehören, hat die erwähnten religionsdemografischen Gründe: Konfessionslose haben – unter sonst gleichen Bedingungen – durchschnittlich deutlich weniger Kinder als Mitglieder von Religionsgemeinschaften. Die mangels Nachwuchs dringend benötigten Zuwanderer nach Deutschland gehören überwiegend christlich-katholischen, christlich-orthodoxen und islamischen Glaubenstraditionen an.
Selbst im Idealfall weiterer Jahrzehnte existenzieller Sicherheit bleibt also eine stabile konfessionslose Mehrheit in Deutschland religionsdemografisch eher unwahrscheinlich. Der organisierte Atheismus wird immer wieder grau, bevor er stark wird und bleibt zu seinem Überleben auf immer neue „Missionserfolge“ angewiesen.
Zur empirisch zunächst überraschenden Schwäche der nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaften trägt bei, dass der allergrößte Teil der Konfessionslosen bislang keinen Bedarf sieht, sich in irgendeiner Weise verbandlich zu organisieren. Sowohl medienaffine Gruppen wie die 2004 gegründete „Giordano-Bruno-Stiftung“ wie auch der 2008 gegründete „Koordinierungsrat säkularer Organisationen“ (KORSO) und auch die überwiegend aus Steuergeldern finanzierten Verbände im HVD sind trotz regelmäßiger Transparenzaufrufe an die Kirchen bislang selbst erstaunlich zurückhaltend und ungenau, wenn es um konkrete Angaben zu ihren eigenen Mitgliederzahlen und der Aufschlüsselung ihrer Finanzquellen geht. Zumal Mehrfachmitgliedschaften häufig sind, dürfte ein gemeinsames Mitgliederniveau von zwanzig- bis dreißigtausend Menschen – zwei Drittel davon in der HVD mit Schwerpunkt in Berlin – und damit ein Organisationsgrad von etwa einem Tausendstel der bundesdeutschen Konfessionslosen großzügig geschätzt sein.
Der derzeitige HVD-Präsident ist Frieder Otto Wolf, ein freundlich-religionskritischer Honorarprofessor der Philosophie in Berlin und früherer Grünen-Europaabgeordneter. Der HVD war Mitbegründer des „humanistischen pressedienstes“ (hpd) und verfügt mit dem Magazin „diesseits“ unter der Herausgeberschaft von Michael Bauer und dem engagierten Chefredakteurs Arik Platzek über ein bundesweites „Zentralorgan“ mit Off- und Onlinepräsenz.
Die meisten humanistischen Landesverbände außerhalb Berlins erreichen bislang jedoch nicht einmal die Mitgliederzahlen einer größeren Kirchengemeinde und konzentrieren ihre seltener ehrenamtlichen Aktivitäten daher stark auf die Bespielung alter und neuer Medien. In einigen Ländern erhalten auch sie staatliche Zuschüsse etwa für den Betrieb von Geschäftsstellen und den Aufbau weiterer, überwiegend steuerfinanzierter Dienstleistungen wie humanistischer Kitas und Schulen. Die Arbeit ist oft inhaltlich hochwertig. Doch über Talkshows hinaus reichende Vertretungsansprüche für die konfessionslosen Menschen insgesamt lassen sich auf dieser eher schwachen Mitgliederbasis bislang kaum ableiten.
Allerdings ist der Kreis der Nichtmitglieder, die gezielt HVD-Dienstleistungen wie humanistische Schulen und Kindertagesstätten, Lebenskundeunterricht und Jugendfeiern beziehungsweise Jugendweihen, säkulare Namensgebungs-, Hochzeits- und Bestattungsrituale in Anspruch nehmen, längst um ein Vielfaches größer. So belegten an den Berliner Schulen zuletzt rund 56 000 Kinder den freiwilligen und nicht-notenrelevanten Lebenskundeunterricht und bilden damit nach dem evangelischen Religionsunterricht das zweitgrößte bekenntnisgebundene Angebot der Hauptstadt, in den Grundschulen sogar schon das größte.
Angesichts des weiter wachsenden Interesses der Berliner Eltern an den bekenntnisorientierten Angeboten fordert der Humanistische Verband inzwischen gemeinsam mit den Kirchen, den islamischen und jüdischen Religionsgemeinschaften vom Berliner Senat eine Aufstockung der staatlichen Zuschüsse. Auf die erheblichen Kirchensteuermittel und Spenden einer breiten Mitgliederbasis können die humanistischen Verbände bislang nicht zurückgreifen.
Auch der Berufsatheismus kennt finanzielle Abhängigkeiten
Von den nichtreligiösen, aber nicht notwendig religionsfeindlichen Weltanschauungsgemeinschaften des Humanismus ist der Bereich des Antitheismus zu unterscheiden, der in den letzten Jahren insbesondere über das Internet und die Medien enorme Aufmerksamkeit erzielt hat. Mitentscheidend dafür war und ist der in der Öffentlichkeit noch wenig bekannte Mäzen Herbert Steffen (geb. 1934). Der Multimillionär wuchs nach eigenem Bekunden in seiner ersten Lebenshälfte als „fundamentaler, also überzeugter Katholik“ auf, der nach einem Besuch eines katholischen Internats und Wirtschaftsstudiums die elterliche Möbelfabrik übernahm, heiratete, vier Kinder bekam und sich finanziell und ehrenamtlich als Diözesanrat in Trier karitativ und kirchlich engagierte. Die Lektüre kirchenkritischer Bücher vor allem von Karlheinz Deschner habe dann zu einer massiven Glaubenskrise und nach dem Tod des Vaters auch zum Bruch mit der Kirche geführt.
Nach dem Verkauf seiner Firma finanzierte Steffen unter anderem den Aufbau der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs), der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland, des hpd, den KORSO und den Zentralrat der Ex-Muslime. Wie hoch sein Finanzierungsanteil dabei jeweils war und ist, wird von den Organisationen im Einzelnen nicht bekannt gegeben; doch wird nicht bestritten, dass ohne Steffens Geld wohl ein großer Teil der religionskritischen Verbands- und Medienarbeit der letzten Jahre kaum hätte gestemmt werden können.
Auch der Berufsatheismus kennt finanzielle Abhängigkeiten. So darf es als ein Schritt zu mehr Transparenz gewürdigt werden, dass der langjährig als gbs-Geschäftsführer fungierende Stifter zuletzt neben dem promovierten Pädagogen Michael Schmidt-Salomon auch offiziell den Mit-Vorsitz der gbs übernommen hat.
Politisch-weltanschaulich erweisen sich Konfessionslose und Atheisten heute als ebenso vielfältig wie während des späten Kaiserreiches und der Weimarer Republik. Schwerpunkte gibt es bei den Linken, Piraten und den linken Flügeln von SPD und Grünen, nach deren Auffassungen Staat und die Politik möglichst viele Aufgaben von den Kirchen und Religionsgemeinschaften übernehmen sollten. Liberale Nichtreligiöse wie der KORSO-Vorsitzende und einstige FDP-Landtagskandidat Helmut Fink betonen dagegen stärker die Bedeutung auch der nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaften als freie Träger der Zivilgesellschaft, die gleichberechtigt mit den Religionsgemeinschaften Freiheitsräume gegenüber dem Staat ausfüllen und damit erhalten sollen.
Wird zum Beispiel konkret gefragt, ob der Staat als zunehmend exklusiver Ethik-Anbieter die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften aus den Schulen verdrängen oder umgekehrt die Humanisten mit eigenem Lebenskunde-Unterricht das schulische Bekenntnisangebot der Kirchen und Religionen ergänzen sollen, scheiden sich auch inneratheistisch die Geister.
Die Konversion zwischen religiösen und nichtreligiösen Extrempositionen
Generell ist dem religionskritischen und humanistischen Feld in Deutschland ein inhaltlich wachsendes Niveau zu attestieren. Selbstverständlich gibt es die auch unter Säkularen als „Kampfatheisten“ bespöttelten Antitheisten noch, die sich vor allem in der Gegnerschaft zu „Religioten“ definieren und oft mehrere Stunden pro Tag damit verbringen, möglichst polemische Texte und Bilder zu produzieren und on- und offline zu vertreiben. Auffallend oft handelt es sich dabei nach eigenem Bekunden um frühere Strenggläubige, so dass bereits diskutiert wird (und näher zu erforschen wäre), ob bei Konversionen zwischen religiösen und nichtreligiösen Extrempositionen entsprechende Persönlichkeitsstrukturen einfach erhalten bleiben.
Andere Religionskritiker häufiger gehobenen Alters durchstreifen als so genannte „Zeitvampire“ religiöse Online-Foren und soziale Netzwerke und versuchen mit Salven von Provokationen und Fragen maximale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. An einem wirklich respektvollen und erkenntnisoffenen Dialog sind solcherlei Akteure häufig nicht wirklich interessiert. Sie sind aber auch nicht repräsentativ für den deutschen Atheismus, Humanismus und schon gar nicht für die sehr vielfältige Konfessionslosigkeit.
Bei Humanisten und Religionskritikern, die bereits länger tatsächliche Verantwortung übernommen oder sich am öffentlichen Diskurs beteiligt haben, ist insgesamt eine Entwicklung zu mehr Differenzierung und sogar wachsenden, religionsbezogenem Respekt sichtbar. So bezeichnete Michael Schmidt-Salomon, der sich noch 2007 mit polemisch-religionsfeindlichen Werken wie dem „kleinen Ferkel“ medienwirksam profiliert hatte, in seinem neuesten Buch „Hoffnung Mensch“ die Weltreligionen als „kulturelle Schatzkammern der Menschheit“, bei denen sich auch Nichtreligiöse bedienen sollten.
Auch die Wertschätzung einer „nichtreligiösen Spiritualität“ oder gar „kosmischen Religiosität“ samt entsprechender, verwandelnder Erfahrungen und meditativer Praktiken gehört im bildungsbürgerlichen Humanismus längst wieder zum guten Ton. War im „diesseits“ noch vor wenigen Jahren ein antitheistische Extremismen hinterfragender Artikel des Politikwissenschaftlers Armin Pfahl-Traughber nach aufgeregter Debatte abgelehnt worden, so durfte inzwischen im gleichem Magazin sogar der Berliner Erzbischof, Kardinal Rainer Maria Woelki, interviewt oder über die demografische Schwäche der Nichtreligiösen diskutiert werden. Der Anteil der Humanisten, die sich nicht nur selbst bestätigen, sondern tatsächlich herausfordern und weiter denken wollen, wächst.
Was ändert sich? Zum einen pflegen auch unter Atheisten und Humanisten jene Menschen ihre Urteile mit wachsender Erfahrung tendenziell zu differenzieren. Vor allem aber hat sich die wissenschaftliche Befundlage durch die zunehmend interdisziplinäre Evolutionsforschung selbst tiefgreifend verändert. Die populären Metaphern von Bestsellerautoren wie Richard Dawkins über einen vermeintlich nur schädlichen „Gotteswahn“ beziehungsweise „Religion als Virus“ hielten den empirischen Überprüfungen nicht stand und werden heute nur noch von wenigen, sich ergeben auf ihren Meister berufenden „Brights“ (Helle, Aufgeklärte) als vermeintlicher Stand der Wissenschaft verkündet. Stattdessen haben sich die schon vom studierten Theologen Charles Darwin (1809–1882) formulierten Thesen empirisch wesentlich bestätigt, wonach Religiosität als gemeinsamer Glauben an höhere Wesenheiten aus kognitiven Grundlagen evolviert und biologisch wie kulturell erfolgreich geworden ist (vgl. HK, Januar 2013, 33 ff.).
Von der Theodizee zur Anthropodizee
Religiös Glaubende sind individuell keine besseren oder klügeren Menschen, aber der gemeinsame Glaube verleiht ihnen ein sehr viel größeres Potenzial zum Aufbau verbindlicher Gemeinschaften und größerer Familien. Nach immer schwerer zu leugnendem Wissensstand gilt: Die Evolution selbst brachte – und bringt – den „Homo religiosus“ hervor! Und entsprechend evolutionär kundige Forscher und Autoren wie Christoph Antweiler, Eckhard Voland und Rüdiger Vaas gehören zum Beispiel auch dem Beirat der gbs an und erinnern bei aller Religionskritik an die Grundsätze wissenschaftlicher Redlichkeit. Auch weitere wissenschaftliche Erkenntnisse etwa zur Begrenztheit von menschlicher Rationalität, der Bedeutung von Gefühlen oder den geheimnisvollen Merkmalen von Materie, Zeit und Geist sickern in das konfessionslose und humanistische Bildungsbürgertum ein.
Philosophisch tritt an die Stelle der schon abgenutzt wirkenden Theodizee-Debatten zunehmend die Frage der Anthropodizee – also die Frage, ob sich der Erhalt beziehungsweise die Weitergabe des menschlichen Lebens angesichts von unabweisbarem Leid und Zerstörung eigentlich rechtfertigen lässt. Die von Platon bis Dawkins vertretene Lehre, es sei hochwertiger, „geistige“ als „körperliche“ Kinder zu zeugen, wird durch heutige Denker wie den Südafrikaner David Benatar, den Freiburger Karim Akerma oder den Chefredakteur des Philosophie-Magazins Wolfram Eilenberger noch zugespitzt. Sie stellen unter wachsendem Zuspruch fest, dass bislang gar keine haltbare, innerweltliche Rechtfertigung für das Zeugen von Kindern gefunden sei. Das biblische Gebot „Seid fruchtbar und mehret euch!“ erscheint aus dieser Perspektive als Verstoß gegen eine rationale Weltdeutung per se, das „Verebben der Menschheit“ als diskutables Ziel und die Theo- und Anthropodizee als auf neue und überraschende Weise verknüpft. Leider fehlt es in diesem wachsenden Diskurs noch an kompetenten Stimmen aus den Theologien.
In der Summe bleibt also festzuhalten, dass aus religiöser und christlicher Perspektive kein Anlass für übersteigerte anti-atheistische oder anti-humanistische Befürchtungen besteht. Sicherlich wird es auch weiterhin Antitheisten geben, die ihre je persönliche Identität durch die Konstruktion von Feindbildern zu stabilisieren versuchen – aber solche Zeitgenossen sind doch erkennbar auch in Kirchen und Religionsgemeinschaften vertreten. Mehr Beachtung und Wertschätzung verdient die langsam steigende Zahl der konstruktiven Humanisten, die für weltanschauliche Arbeit durchaus auch eigenes Geld und Engagement aufbringen. Wenn ihnen religiöse Erfahrungen mitunter auch nicht (mehr) zugänglich sind, so handelt es sich doch sehr häufig um wunderbare „Menschen guten Willens“, die über eine nur hedonistische Konsumhaltung hinaus wollen, sich für Wissenschaft und Wahrheitsfragen begeistern und Freiheitsräume auszufüllen versuchen.
Dass in Berlin wachsende Mehrheiten der Eltern ihre Kinder über den allgemeinen Ethik-Unterricht hinaus in einem Religions- und auch Lebenskunde-Unterricht anmelden, für den es keine Notenpunkte gibt, darf als ermutigendes Signal für ein durchaus gesellschaftlich wachsendes Interesse an Werte- und Orientierungsfragen verstanden werden. Das Streben der humanistischen Verbände nach der im Grundgesetz angelegten Gleichstellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften verdient nicht nur aus historischen Gründen Unterstützung – auch für die Zukunft ist eine dialogisch-wettbewerbliche Vielfalt religiöser und humanistischer Träger einem Modell vorzuziehen, in dem ein übergriffiger Staat eine zerspaltene Zivilgesellschaft zu ersetzen versucht.
Wenn es auch unwahrscheinlich (und unnötig) ist, dass sich religiöse und nichtreligiöse Menschen über Gott einig werden, so kann die zunehmend empirische und interdisziplinäre Forschung zu den biologischen, kulturellen, geistigen und eben auch transzendenten Dimensionen des Menschen doch zu einem lebendigen, respektvollen und erkenntnisreichen Dialog beitragen. Geschichte muss sich ja nicht dauernd wiederholen.