Die unkomfortable Lage der KirchenkritikZwischen den Fronten

In einem gesellschaftlichen Kontext verstärkt artikulierter Religionskritik und in der Situation kircheninterner Reorientierung lohnt sich auch ein genauerer Blick auf die spezifischen Anliegen einer Kirchenkritik von innen. Sie ist nicht zuletzt ein Indikator für die Plausibilität von Religion in der Gesellschaft.

Ein zentraler Gegenstand von Religionskritik ist die Kritik an der Sozialform der Religion, ihrer institutionellen Gestalt. Religionskritik ist oftmals Kirchenkritik. Aber sie geht doch nicht darin auf. Die Auseinandersetzung mit der mangelnden Übereinstimmung zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Religionen kann sich aus ganz unterschiedlichen Motiven speisen: Sie gilt oft als Beleg für die Hinfälligkeit des religiösen Anspruchs generell. Wo die Realisierung derart zu wünschen übrig lässt, kann gar nichts Tieferes dahinter stehen – so die Mutmaßung. Kirchenkritik ist dann die Instanz einer Delegitimierung von Religion insgesamt, wie dies in den Diskursen des so genannten Neuen Atheismus in jüngerer Zeit beobachtet werden kann.

In vertauschter Blickrichtung, also aus der Perspektive der Kirchenkritik, ist damit aber noch nicht alles gesagt. Denn es gibt neben der Kirchenkritik „von außen“ auch eine solche „von innen“, also aus den Reihen der Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst. Dieser geht es nicht um die pauschalisierende Kritik und „Erledigung“ des Religiösen an sich. Sie stellt vielmehr den Versuch dar, Nuancen und Differenzierungen einzutragen in das herrschende Verständnis des religiösen Anspruchs und seiner sozialen Realisierung in Gestalt von Kirchen und Glaubensgemeinschaften.

In einem gesellschaftlichen Kontext verstärkt artikulierter Religionskritik und in einer Situation kircheninterner Reorientierung lohnt sich ein genauerer Blick auf die spezifische Lage solcher Kirchenkritik „von innen“. Man kann in ihr eine Blaupause für langfristig gewachsene Grundprägungen der kirchlichen Institution, aber auch einen Indikator für die Plausibilität von Religion in der Gesellschaft erkennen.

Alte Konfliktlinien werden unübersichtlicher

Lange Zeit wurde unter Kirchenkritik vor allem solche aus linkskatholischer Richtung verstanden: Walter Dirks, die „Frankfurter Hefte“, sich selbst so nennende Basisgruppen wie die Initiative „Kirche von unten“, die „KirchenVolksBewegung“, der „Freckenhorster Kreis“ – sie alle stehen für eine Auseinandersetzung mit den kirchenamtlich vertretenen Lehrpositionen und entsprechenden kirchenpolitischen Richtungsentscheidungen. Kriterium der Kritik ist die unterstellte Realitätsferne des kirchenamtlichen Handelns und Denkens in Bezug auf eine konkrete gesellschaftlich-soziale Lage und deren Erfordernisse.

„Gerechtigkeit“, „Emanzipation“, „Befreiung“ sind die Stichworte, unter denen eine bessere Passung des kirchlichen Handelns angesichts der politischen und sozialen Herausforderungen der Gegenwart eingefordert werden. Selbstverständnis dieser Spielart der Kirchenkritik ist eine hohe Identifikation mit den sachlichen Anliegen des christlichen Anspruchs. In der Regel wird der Kirche weiterhin die Rolle zugesprochen, gesellschaftliche Umsetzungsinstanz für diese Gehalte zu sein.

Die Kirchenkritik „von links“ ist aber nicht länger allein. Es gibt auch Formen der Kritik, die man eher am rechten Rand und im konservativen Spektrum kirchlicher Zugehörigkeit verortet. Dies trifft etwa für die Kritik zu, welche sich der Präfekt der römischen Glaubenskongregation von solcher Richtung her einhandelt, wenn er trennscharfe Bedingungen für den Dialog mit Integristen und Traditionalisten formuliert, oder für die Kritik von Seiten neuer geistlicher Bewegungen am offenbar zu dominanten Vertretungsanspruch katholischer Verbände innerhalb des deutschen Laienkatholizismus. Auch hier wird eine unterstellte Gestalt idealer Kirchlichkeit der real vorfindlichen entgegengehalten und daraus eine zum Teil vehemente Infragestellung aktueller Amtspraxis formuliert.

Neben „links“ und „rechts“ gibt es aber auch noch die Mitte. Damit aus der kirchlichen Mitte deutliche Kritik geäußert wird, bedarf es bestimmter Kontextbedingungen, die in der gegenwärtigen Lage der katholischen Kirche gegeben sind, nämlich das von der Kirchenleitung gesendete Signal, dass Kritik willkommen ist und nicht a priori als Nestbeschmutzung angesehen wird. So vernimmt man in jüngerer Zeit vermehrt „offene Worte“ und „Verbesserungsvorschläge“ aus kirchlichen Gremien (Diözesanräten, Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Verbänden), die in ihrer Schonungslosigkeit überraschen und vor nicht allzu langer Zeit unvorstellbar gewesen wären.

Eine weitere, gegenwärtig festzustellende Spielart der Kritik ist jene „von oben“. Wenn Papst Franziskus über Zustände an der Kurie spricht, priesterliche Verhaltensweisen brandmarkt und sexualethische Schwerpunktsetzungen in Frage stellt, ist das Koordinatensystem der Kirchenkritik um eine spektakuläre Variante bereichert. „Predigen in der Todeszone“ betitelte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ einen Beitrag, in dem das Phänomen beschrieben wird, dass hohe Amtsträger lange Zeit beschwiegene Kritikpunkte offen ansprechen und damit die Rezeptionschancen für diese Kritik mit einem Mal frappierend erhöhen.

Wenn nun Kirchenkritik heute nicht nur aus einer Richtung, sondern aus unterschiedlichem Blickwinkel zur Sprache kommt, wird damit eine klassisch vorhandene „Blockkonfrontation“ porös. Alte Konfliktlinien werden zwar unübersichtlicher. Andererseits sind damit aber feinere Selbst- und Fremdwahrnehmungen möglich. Man definiert sich nicht mehr nur im Gegeneinander, sondern ist, wo der „Gegner“ von einst seinerseits ein mehrdimensionales Antlitz zeigt, zu einer Befragung und Neujustierung der eigenen Positionen gezwungen. Das gilt für alle Seiten. Es ist ein fruchtbarer Effekt, weil er für eine sachlichere Diskussion über die eigentlichen Anliegen der Kritik sorgt.

Die unkomfortable Lage des Kritisierenden

Wer die Kirche kritisiert, sich der Glaubensgemeinschaft aber dennoch zugehörig fühlt, steht unter einer doppelten Spannung: Er wird zunächst den Widerstand der kirchlichen Institution zu spüren bekommen. Dies muss nicht bis hin zu disziplinarischen Konsequenzen gehen, wie dies für Theologen und Priester immer wieder der Fall gewesen ist. Bereits die unterschwellig wahrnehmbare Einordnung als „widerspenstig“ oder „randständig“ kann zu Ausgrenzungserfahrungen führen, die deswegen schwerwiegend sind, weil mit dem Bereich der Religiosität eine existenzielle Dimension gegeben ist, die anderswo kaum vorliegt. Schnell wird dem Kirchenkritiker aus dem Innern seiner eigenen Glaubensgemeinschaft vorgeworfen, doch eigentlich gar nicht mehr richtig dazuzugehören. Er muss einen Aufwand betreiben um klarzustellen, dass seine Kritik nicht gegen die religiöse Sache geht, sondern aus seiner Sicht in deren ureigenem Interesse liegt.

Von der anderen Seite, das heißt aus der Gesellschaft heraus, wird der Kritisierende hingegen mit einem ganz anderen Verdikt konfrontiert. Aus einer Außensicht nämlich macht sich der Kirchenkritiker oftmals noch viel zu sehr gemein mit den kritisierten Zuständen und trägt dadurch zu ihrer Legitimierung bei. Konsequenter, so die Annahme, wäre es doch, die Seiten zu wechseln und aus der Kirche auszutreten. Gegenüber solchen Vorhaltungen muss der Kritiker verdeutlichen, dass man nicht das Kind mit dem Bade ausschütten muss, sondern den sachlichen Grund der Kirchenzugehörigkeit zu trennen hat von der Realgestalt, unter der sich Kirche in einer bestimmten historischen und sozialen Situation darstellt und verwirklicht. Wenn man die Reformträgheit des Katholizismus sieht, fällt es vielen freilich schwer, diese Spannung auszuhalten.

Deutlich wird, wie diametral verschieden jene Erwartungen und Wahrnehmungen sind, unter welchen Kirchenkritik steht. Gegenüber dem Religionskritiker mag man dem noch kirchlich eingebundenen Kritiker einen schwereren Stand zubilligen. Er muss den Druck des Sozialkörpers aushalten, den er mit seiner Kritik verändern will und dem er damit eine „Wunde“ zufügt, dem er aber selbst weiterhin angehört. Er ist – als Glaubender – angewiesen auf das, was er kritisiert; seine Kritik hat deshalb die Kosten zu tragen, die sie verursacht. Kirchenkritik ist selten billig, wenn sie aus dem Innern der kirchlich noch Engagierten kommt. Das sollten vor allem kirchliche Amtsträger und Vorgesetzte beachten, auch wenn sie selbst zu den Kritisierten gehören mögen.

Während Kritik an Institutionen im politischen Bereich allgemein für gut und notwendig befunden wird, trifft dies für die Kirche (noch) nicht in demselben Maße zu. Die Institution Kirche profitiert von einem Nimbus des Sakrosankten, der es verhindert, dass Maßstäbe der Kontrolle, der Transparenz, der Rechenschaftspflicht, kurz: der guten Regierungsführung (good governance) an sie angelegt werden, wie dies für andere Institutionen gang und gäbe ist.

Es müsste auch die Kirche keineswegs in ihren Grundfesten erschüttern. Im Gegenteil: Institutionenkritik ist unter den Bedingungen der Moderne eine Notwendigkeit, denn in ihr drückt sich der Freiheitsanspruch des Menschen aus. Dessen Bereitschaft, sich in überindividuelle Verbünde und Gemeinschaften einzugliedern und anzupassen, bemisst sich auch an der Durchlässigkeit der institutionellen Gebilde für die Mitgestaltungs- und Partizipationswünsche der Einzelnen. Im politischen Bereich hat sich aus dieser Anerkenntnis der prinzipiellen Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen die Demokratie entwickelt.

Menschen können wohl unterscheiden zwischen Politik und Religion und wissen, dass die Gegenstände der Mitbestimmung auf beiden Feldern nicht deckungsgleich sein müssen. Wo Religion aber hinter kritischen Anfragen und dem Wunsch nach mehr Kontrolle bestimmter amtlicher Vollzüge voller Misstrauen sogleich religionsfeindliche Absichten wittert und sich in eine Wagenburgmentalität begibt, wird kirchliches Handeln zu einer Gegenwelt, die mit den üblicherweise erlebten Standards wenig zu tun hat.

Bedeutung von Kirchenkritik heute

Aus diesen Beobachtungen ergibt sich eine Herausforderung: Es muss theologisch durchdacht werden, wie die religiöse Institution „Kirche“ ausgehend vom neuzeitlichen Anspruch des Menschen auf Freiheit und Selbstbestimmung verstanden werden kann. Eben diese Ansprüche machen ja den moralischen Kern des Menschenrechtsethos aus, welches die Kirche seit der Enzyklika „Pacem in terris“ (1963) so lebhaft unterstützt. Die Ekklesiologie ist das Feld, auf dem solche Neuorientierungen stattfinden müssen. Die Herausforderung ist gewaltig, denn allein ein Weiterdenken im Fahrwasser einer Communio-Ekklesiologie wird nicht ausreichen, um die emanzipatorischen Gehalte des modernen Freiheitsdenkens aufzugreifen.

Hier zeigt sich wohl ein Ursprung für den schlechten Ruf der Kirchenkritik – dass sie nämlich nur als Nestbeschmutzung verstanden werden kann, wenn die kirchliche Institution, basierend auf dem Gedanken ihrer Sakramentalität, als schlechthin unangreifbar und als ein in sich homogener Sozialkörper angenommen wird. Kritik, der Wunsch nach Kontrolle, auch die Teilung der unterschiedlichen ausgeübten Gewalten entspringen hingegen der Überzeugung, dass der Institution nicht als solcher bereits normativer Wert zukommt, sondern insofern, als sie die Assoziation der vielen Freiheitsansprüche Einzelner darstellt, die in ihr in einer bestimmten Absicht – die religiös „Hoffnung“ heißt – zusammenkommen.

Im Konzilsbeschluss „Dignitatis humanae“ (1965) hat die Kirche im Kontext der Religionsfreiheit die Freiheit des Gewissens ausführlich gewürdigt, und zwar mit genuin theologischen, nicht nur pragmatischen Gründen. Heute muss man feststellen, dass diese Würdigung erst den Anfang einer noch ausstehenden, grundständigen Vermittlung von modernem Freiheitsethos und christlicher Glaubenslehre bildet. Die kluge und innovative Lehre zum eigenen Wert des Gewissensurteils in Bezug auf die religiöse Überzeugung müsste nun aber theologisch „entregionalisiert“ und auf das Ganze des Glaubens bezogen werden. Der Sache nach wäre das schlüssig, denn wer an der einen Stelle die Würde der menschlichen Person prinzipiell mit seiner Gewissensfähigkeit begründet, wird dies an anderer Stelle nicht ausblenden können.

Wo es aber um ekklesiologische Fragen geht, also die Einbindung der Gläubigen in den Gemeinschaftszusammenhang der Kirche, um das Verhältnis von Individuum und Institution und um Fragen der Legitimation der Institution, zeigt sich, welche Herausforderung der Menschenrechtsanspruch in seinem ethisch-moralischen Kern für die Kirche weiterhin darstellt: Müssen nicht auch hier die Berufung des Menschen zur Freiheit und seine prinzipielle Selbstbestimmungsfähigkeit in Rechnung gestellt werden?

Im Unterschied zu allen „organischen“ Gemeinschaftsbegründungen und einem Verständnis von Kirche, das zunächst nicht beim Menschen ansetzt, sondern bei der Institution, wird der Horizont sichtbar, in dem dogmatisch-theologisch weiter zu denken ist. Dass hier nicht vermittelt werden kann, soll gar nicht gesagt sein: Eine Institution, die viel älter ist als die Menschenrechte, hatte ihr Selbstverständnis eben schon formuliert, bevor der Menschenrechtsanspruch in die Welt kam. Es erscheint aber nicht als schlüssig, die Menschenrechte außerhalb der Kirche – und auch dort ja nur mit selektiven Prioritäten – gut zu heißen, sie aber für den kirchlichen Innenraum per se nicht als Maßstab anzuerkennen. Die schale Reputation der Kirchenkritik gründet auch in solchen grundlegenden theologischen und theologiehistorischen Hypotheken.

Was ist „gute“ Kirchenkritik?

Kirchenkritiker sind schnell in einer Lage, sich dafür rechtfertigen zu müssen, dass sie überhaupt Kritik äußern. Hilfreich sind deshalb Kriterien, die erkennen lassen, wann es sich um „gute“ Kritik handelt. Dies betrifft nicht die inhaltliche Richtung der Aussagen von Kritik, sondern markiert einen Qualitätsstandard, der es unabweisbar macht, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Vor allem zwei Momente sind dabei zu nennen, und zwar Stil und Methode der Kritik.

Der Stil „guter“ Kirchenkritik lässt sich zunächst am Sachinter­esse der Kritik erkennen: Es geht ihr nicht darum, persönliche Rechnungen zu begleichen, sondern um Anliegen der Kirche selbst. Mit der Kritik wird eine Anwaltschaft für das Gesamt der Glaubensgemeinschaft wahrgenommen, auch wenn in der Sache der Streit um die vertretene Position erforderlich ist.

Ecclesia semper reformanda

Zum Stil guter Kirchenkritik gehört hingegen nicht unbedingt die harmonische, irenische Kommunikation, die vorgibt, keinem weh zu tun – und sich oftmals auch noch auf den vermeintlich ähnlichen Kommunikationsstil Jesu beruft. Eine deutliche, auch schroffe Markierung der Position ist dann gerechtfertigt und sogar wünschenswert, wenn sie dem Ziel sachbezogener Verständigung dient und mit der Bereitschaft einhergeht, dem anderen weiterhin Gehör zu schenken. Große Kirchenkritiker wie Franz von Assisi oder Martin Luther, die in der Rückschau gerne „Reformer“ genannt werden, haben sicherlich eher das deutliche Wort als den quietistischen Kammerton gepflegt.

Der methodische Weg der Kritik ist ebenfalls ein Signum guter Kritik. Das betrifft insbesondere den Umgang mit Historie und Quellen: Die gegenwärtige Gestalt des Glaubens ist kein Zufallsprodukt oder Ergebnis rein in der Gegenwart verankerter Optionen und Positionen. Sie verdankt sich einer Herkunft, ohne von dieser bis in jede einzelne Ausprägung vorherbestimmt zu sein. Der Bezug auf die „Vorgeschichte“ – das geschichtliche Erbe – der aktuellen Sozialgestalt von Kirche ist deshalb ein notwendiges Charakteristikum für eine ernst zu nehmende Kritik. Dass dieser Bezug auf das Vorgängige seinerseits nicht unhistorisch, sondern mit Sensibilität für die Kontingenz von Geschichte stattfindet, gehört wesentlich zu einem hermeneutisch geschulten Geschichtsbewusstsein.

Ebenso gilt es, einen kritischen Umgang mit den Quellen zu praktizieren, die man für die Kritik heranzieht: Privatmeinungen sind von allgemein geprüften und erprobten Positionen zu unterscheiden. Persönliche Erfahrungen können nur selten als solche eine Basis für allgemeine Urteile sein, wohl aber kann die mit der subjektiven Erfahrung geweckte Sensibilität für Mangelzustände der entscheidende Auslöser sinnvoller Kritik sein.

Kritik, die erfolgreich sein will, geht nicht isoliert vor, sondern im Austausch. Sie schottet sich nicht ab, sondern behält den „Gegner“ als denjenigen im Blick, mit dem demnächst wieder zu kooperieren ist. Sie ist sich gewahr, dass die Gehalte ihrer Kritik nochmals eingebunden sind in einen größeren historischen Entwicklungsprozess einer nicht endenden Suche nach einer Wahrheit, die sich nur in einzelnen historisch-sozialen Situationen konkretisiert. Das nimmt diesen Gehalten nicht ihren momentan legitimen Stellenwert, aber es zwingt doch zu einem eher dialogischen Prozedere, das ohne die apodiktische Attitüde der garantierten Letztgültigkeit auskommt.

Kirche ist, wie der Religionssoziologe Michael N. Ebertz gesagt hat, die „institutionalisierte Spannung von Amt und Charisma“ und damit ein „auf Dauer gestellter sozialer Ausnahmezustand“. Damit ist ein Paradox beschrieben, das es auszuhalten gilt: Als eine Institution inmitten der Gesellschaft nimmt die Kirche teil an Prozessen sozialer Verfestigung und Beharrung, wie sie jeder Institutionenbildung eigen sind. Von ihrem thematischen Auftrag her aber ist sie zur ständigen Infragestellung dieser Verfestigungen herausgefordert.

Die Theologin Luise Schottroff hat herausgearbeitet, dass diese Herausforderung die Wurzel des Christentums darstellt. Die Jesusbewegung ist demnach als ein religionskritisches Korrektiv zu verstehen, das die traditionellen Zugehörigkeitsmodelle (innen/außen) sowie die Verständigung über die Reichweite des religiösen Anspruchs (partikular/universal) sprengt. Indem die neue religiöse Bewegung um Jesus von Nazareth jeweils konsequent für ein Überschreiten der gruppenbezogenen und ethnischen Grenzlinien eintritt, könnte man bereits den Übergang von dieser Frühform christlicher Nachfolge zur Urkirche als einen „Verrat“ am eigentlichen Impuls Jesu deuten. Auf jeden Fall wird durch solche Perspektiven deutlich, dass Kritik ein unverzichtbarer Antriebsmotor des Christentums ist.

Kirchliche Reform- und Erneuerungsbewegungen des Mittelalters, Vertreter der Mystik, aber auch die in den sozialen Bewegungen des Christentums ab dem 19. Jahrhundert engagierten Laien bilden dieses kritische Potenzial, das die Kirche immer wieder an die besonderen Bedingungen erinnert, unter denen sie überhaupt nur soziale Institution sein kann. Auch viele enttäuschte, mitunter verletzte, aber weiterhin still auf die Glaubwürdigkeit der Sache des Glaubens setzende Zeitgenossen, in deren Kritik sich die Rückseite eines Wunsches nach Teilhabe zeigt, gehören zu den Akteuren solcher Kritik.

Die lockerer werdende Bindung von Kirchenmitgliedern zur institutionellen Gestalt ihrer Kirche ist unterschiedlich beschrieben worden: Wähnte man in den siebziger Jahren die größte Gefahr durch die „Syndikalisierung“ der Kirchen (Josef Isensee), also die verstärkte und besser organisierte Teilhabe der Laien und hauptamtlichen Mitarbeiter im kirchlichen Dienst, wechselte das Vokabular später und man sprach von der Ausfransung klarer Bekenntnisse durch die Patchwork-Religiosität der Gläubigen. Die neunziger Jahre erlebten den Aufstieg des sozialwissenschaftlichen Säkularisierungs-Paradigmas, mit dem der strukturelle Bedeutungsverlust von Religion in modernisierten Gesellschaften habhaft gemacht werden sollte.

Eine bestimmte Spielart der Gefährdung institutionalisierten Christentums steht bislang weniger im Fokus – der drohende Verlust des orientierenden Impulses durch die im religiösen „Massengeschäft“ kaum zu vermeidenden Routinen und Gewohnheiten. Für Kirchenkritik wird es Stoff geben, solange es die Kirche als Institution in Zeit und Gesellschaft gibt, denn es geht ihr im Kern darum, wie Sören Kierkegaard es beschrieb, „das Christentum wieder einzuführen – in die Christenheit“.

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