Zeitgenössische Kunst im kirchlichen Kontext?Durchkreuzte Schönheit

Spitzenkünstler von internationalem Rang haben in den letzten Jahren in Kirchen gearbeitet und ausgestellt. Wie passt das zusammen mit dem von Paul VI. Mitte der siebziger Jahre diagnostizierten Auseinanderdriften von Kunst und Kirche? Und wie kann dieses Spannungsverhältnis – jenseits der Rollenzuschreibungen von Herrin und Magd – heute wirklich produktiv werden?

Der Großteil all jener Felder, die sich in der Schnittmenge von „Kunst und Kirche“ finden lassen, hat viel von seinem Spannungspotenzial eingebüßt. Vieles ist einfacher geworden: Spitzenkünstler von internationalem Rang haben in den letzten Jahren in Kirchen gearbeitet und ausgestellt. Aus finanziellen Mitteln der Kirche sehr hoch dotierte, in regelmäßigen Abständen von ein bis zwei Jahren vergebene Kunstpreise (vgl. dieses Heft, 5), von denen es im Unterschied zu Deutschland in Österreich gleich drei gibt (Msgr. Otto Mauer Preis, Kunstpreis der Diözese Graz-Seckau, Kardinal-König-Kunstpreis), zeugen von einem äußerst hohen Qualitäts-Niveau und dem Förderwillen einer Groß-Institution vor allem junger Kunst gegenüber, bar jedes erkennbaren Eigeninteresses.

In Köln wurde vom Erzbistum ein Diözesanmuseum erbaut, das einzigartig ist und dessen Erbauer, Planer und Betreiber mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet wurden, darunter der Architekt Peter Zumthor mit dem „Pritzker Preis“, dem „Nobelpreis” für Architektur. Seit nunmehr fünf Jahren wird diesem neuen Haus und seinen Ausstellungsgestaltern beinahe ungebrochene Sympathie entgegengebracht.

In jener Stadt ist auch die international bekannteste „Location“ situiert, wenn davon die Rede ist, dass Kunst und Kirche auf der Höhe der Gegenwart sich konfrontieren lassen. Das gilt auch jetzt noch, nachdem der Gründer und langjährige Betreiber der Kunststation St. Peter, Friedhelm Mennekes, nicht mehr verantwortlich ist (vgl. HK, Oktober 2008, 502 ff.). Debatten, wie Kunst in Kirchen auszusehen hätte, haben längst das Binnenmilieu der Fachkreise verlassen und sich auch auf die Feuilleton-Seiten verlagert: Muss „christliche Kunst“ figurativ oder kann sie auch „abstrakt“ sein? Sind farbige Pixel auch in Ordnung, wenn sie wie im Fall von Gerhard Richters Fenster für den Kölner Dom von einem Künstler von Weltruhm stammen? Kann man Heiligenlegenden wie jene der Heiligen Elisabeth ungebrochen in sozialistischer Comic-Manier in ein Kirchenfenster zeichnen (Neo Rauch im Naumburger Dom)?

Die Debatte über „Kunst und Kirche“ beschränkt sich nicht auf den deutschsprachigen Raum, wo sie in den letzten Jahrzehnten doch sehr aus der Defensive heraus geführt wurde. Mittlerweile wehen auch aus dem Süden neue, warme Winde. Benedikt XVI. hat am 21. November 2009, anknüpfend an erste derartige Zusammenkünfte unter Paul VI. im Jahre 1964, Künstler von heute in die Sixtinische Kapelle eingeladen – und es kamen viele mit klingenden Namen: Bill Viola, Jannis Kounellis, Daniel Libeskind, Zaha Hadid, Mario Botta, Arvo Pärt, Peter Stein und andere genossen diesen unvergleichlichen Raum und lauschten der Rede des Papstes über die Schönheit.

Wie passt das zusammen mit dem von Paul VI. Mitte der siebziger Jahre diagnostizierten „Bruch der Moderne“, der seinerzeit als „das Drama unserer Zeit“ (so in dem Schreiben „Evangelii nuntiandi“ von 1975) bezeichnet wurde. Zwei Jahre zuvor hatte er unterhalb der Sixtinischen Kapelle ein Museum ins Leben gerufen, das eine „Collezione d’Arte Religiosa Moderna“ werden sollte.

Beinahe zeitgleich, als 2009 die Künstler in die Sixtinische Kapelle zu Benedikt XVI. gekommen waren, konnte man vom damals neuen Präsidenten des Päpstlichen Kulturrates, Gianfranco Ravasi, die Ankündigung vernehmen, dass sich von nun an auch der Vatikan an der Biennale in Venedig mit einem Länderpavillon beteiligen werde. Für 2011 hat es mit der Realisierung des Pavillons noch nicht geklappt. Immerhin: Man könnte einstweilen Pavillons besonders bepreisen, an denen die Dinge der Religion und des Glaubens verhandelt werden. Wer klagt, dass die Kunst gottlos und säkular geworden sei und von den Geschichten der Bibel nichts mehr wissen wolle, wird selbst in Venedig eines Besseren belehrt.

Der deutsche Pavillon von 2011, der den „Goldenen Löwen“ erhielt, hätte jeden expliziten „Glaubens- und Religionspavillon“, selbst wenn ihn Mario Botta gebaut hätte, mit großer Wahrscheinlichkeit in den Schatten gestellt. Auch wenn man seine exzentrische Auftritte nicht lieben musste: Bedrängender als Christoph Schlingensiefs „Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ lassen sich Lebenswille, die Angst vor dem eigenen Sterben wie auch utopische Entwürfe einer Gegenwelt – und all dies im Kleide einer Kirche – schwerer darstellen. Schade nur, dass Schlingensiefs Kunst zwar im Kunstdiskurs, nicht aber im Diskurs der Kirchen zu seinen Lebzeiten eine Rolle spielte.

Auch an den britischen Pavillon von 2001 sei erinnert, als der mit dem Turner-Preis ausgezeichnete Mark Wallinger eine Christus-Statue im Zentrum hatte, die zur Milleniumsfeier am leeren Sockel am Trafalgar-Square in London stand, flankiert von den berührenden Videos „Angel“ und „Threshold to the Kingdom“. Oder an den tschechischen Pavillon von 2003, als die Künstlergruppe „Kunst-Fu“ mit ihrer Arbeit „Super St. Art“ (eine überdimensionale Christus-Statue als Ringturner) das Verhältnis von Sport und der Begeisterung der Massen, Kult und Stille auslotete. Venedig, die Pavillons und die Kunst gehören allen – warum nicht auch jenen, die Fragen des Glaubens dort suchen? Und was hindert diejenigen, die solche interessieren, sie auch dort zu finden?

In der Tat haben Themenformulierungen wie „Kunst und Kirche“, „Gott in der Kunst“ oder „Religion im künstlerischen Diskurs der Gegenwart“ längst auch die Ausstellungsprogramme der Kunsthallen und Museen erreicht: „Medium Religion“ (ZKM Karlsruhe, 2008/2009; vgl. HK, Februar 2009, 60), „Kraftwerk Religion“ (Hygienemuseum Dresden, 2011), Wunder (Deichtorhallen Hamburg/Kunsthalle Krems, 2011/2012), „Gott sehen“ (Museum Kartause, Ittingen 2007), „Choosing My Religion“ (Kunstmuseum Thun, 2007), „God and Goods. Spirituality and Mass Confusion“ (Villa Manin, Codroipo, 2007), IRREALIGIOUS! Parallelwelt Religion in der Kunst(Graz, „steirischer herbst“ 2011) sind nur einige Ausstellungen der letzten fünf Jahre. Es handelt sich dabei auch nicht nur um Inszenierungsstrategien – oder sind sie es doch?

Auch Künstlerinnen und Künstler, und nicht zu vergessen: die Kuratoren und Kuratorinnen, die Kunstwerke arrangieren und Ausstellungen mit Theorien unterlegen, haben ihre Rolle zu spielen. Dass dabei unterschiedliche Interessen wahrnehmbar sind, liegt auf der Hand: Eine Rede über die Schönheit unter den berühmtesten Fresken der Welt ist eines Papstes würdig und ihm angemessen. Aber eine Monokultur der Schönheit trifft dann doch nicht die vielen Felder der Kunst, auch nicht jene in der Nähe der Religion.

Natürlich hat der Papst keine Monokultur gemeint, nicht zuletzt auch eine ganze Reihe von entsprechenden Abgrenzungen erwähnt. Eine Monokultur würde schließlich dem produktiven Verhältnis von Kunst und Glauben auch keinen guten Dienst erweisen. Benedikt XVI. ging sogar soweit, das Beunruhigende der Kunst hervorzuheben. Georges Braque zitierend sagte er: „Kunst soll stören, Wissenschaft dagegen beruhigt“.

Mitten in die Säkularisierungsprozesse hinein hat die Religion ein unerwartetes Comeback erlebt: der 11. September, Kopftuch-, Kreuz- und Relativismusdebatten, der Karikaturenstreit, Fundamentalismus und Gewalt haben die Politik, Gerichte wie auch die Gesellschaft beschäftigt. Gleichzeitig wird der Ruf nach Werten immer lauter. Darauf muss auch die Kunst reagieren.

Man findet deshalb heute Werke, die sich, auch mit Witz und Ironie, der skeptischen Tradition der späten Moderne verschreiben und selbst die Blasphemie ironisieren. Andere bedienen sich steinbruchartig der religiösen Bildgeschichte oder fangen religiöse Energien bildlich ein, machen die vermeintliche Privatheit der Religion öffentlich, beschwören die Kraft eines religiösen Bildes – oder aber auch der Bildbestreitung – und schaffen Werke, die sensibel sind für existenzielle Formen des Glaubens in den Riten, in der Poesie und im Gebet. Der Grat zwischen der Angst vor einer orientierungslosen Säkularisierung auf der einen und fundamentalistischer Vereinfachung auf der anderen Seite bis hin zum Missbrauch der Religion für Politik und Gewalt ist schmal.

Es ist zuzugeben, dass der Weg der Restauration, wenn man einen Blick auf das beginnende 19. Jahrhundert wirft, geschichtlich gesehen zwar möglich wäre. Aber angesichts der Vielfalt, nachdem Religion plötzlich zu einem Thema im Kunstdiskurs geworden ist, würde man ihn kaum wahrnehmen. Und auch das kann man aus der Geschichte lernen: Restauration hält nicht ewig. Irgendwann bricht all das auf, was verweigert oder ausgeblendet wurde – diese Lehre ist gerade aus dem Verhältnis der Religion zur modernen Kultur und Kunst zu ziehen.

Nicht einfach die leerer werdenden Kirchen mit Kunst füllen

Analoges kann man aber auch für andere Zugänge sagen. Wer behauptet, dass sich Religion in fundamentalistisch-politischer Enge erschöpft, hat ebenso wenig die Vielfalt des Religiösen, die durch Riten gestützte Lebensbewältigung oder die aus heiligen Texten, Liedern, sakralen Räumen oder auch einfach nur aus einer religiösen Erfahrung heraus tief empfundene Poesie und die daraus entstehende Kunst im Blick.

Wie aber kann das Verhältnis von Kunst und Kirche produktiv werden – jenseits der Rollen von Herrin und Magd? Jenseits also von dem Verhältnis zwischen dem einen, der die Wahrheit zu wissen und die Schönheit angemessen beschreiben zu können meint, und dem anderen, der ungeschützt die Finger in die Wunden religiös motivierter Engen, aber auch Energien legen darf? Die Voraussetzungen einer stimulierenden Begegnung wären da nicht gerade vielversprechend.

Auch weiterhin sind die Kirchen Auftraggeber, Förderer und Stifter für die Kunst. Sie sollten sich dieser Rolle freilich auch wieder intensiver widmen, wie etwa im Falle des einmaligen Projektes des Liturgiewissenschaftlers Philipp Harnoncourt. Er hatte anlässlich seines 80. Geburtstages Kunstpreise und Kompositionsaufträge zum Thema „Dreifaltigkeit Gottes“ ausgelobt, für die sich mehr als 600 Kunstschaffende aus Mittel- und Osteuropa beworben haben.

Jedoch: Der gewaltige Transformationsprozess der Kirchen in Mitteleuropa betrifft mit der eigentlichen Kultpraxis das Zentrum jeder Religion. Die leerer werdenden Kirchen mit Kunst zu füllen, ist eine verlockende Alternative – gerade in einem Milieu, das das Ästhetische oft nicht sehr hoch hält. Ihren Charme behalten würde diese Möglichkeit allerdings nur, wenn man auch die geschlagenen Wunden und die eingetretene Verstörung nicht verbirgt. Daraus ein pastorales „Konzept“ abzuleiten, wäre allerdings deren Funktionalisierung. Das gilt etwa für die Welle der „Kulturkirchen“, die sich in Deutschland derzeit formiert. Diese Vorgänge zu verbieten, würde auf der anderen Seite bedeuten, der Religion definitiv den Status des Musealen und Vergangenen zuzuschreiben.

Neue Wege weisen könnte die Gastfreundschaft der Kirchen mit ihren Räumen für entsprechende Ausstellungen. Einen historischen Kirchenraum mit zeitgenössischer Kunst zu bespielen, ist oft viel anregender als ein Museum. Der Anspruch eines Sakralraums, der von einer Gottespräsenz ausgeht, fordert zeitgenössische Kunst dabei allerdings auch stärker heraus – selbst wenn der biblische Gottesbegriff gegenüber der Vorstellung einer Sesshaftigkeit Gottes in einem heiligen Raum durchaus skeptisch bleibt.

Eine produktive Störung durch Kunst im Sakralraum gelingt dort am besten, wo jene Präsenz auch behauptet wird. Im Zentrum des barocken Innsbrucker Doms St. Jakob ist ein rekatholisiertes „Kunstbild“ Lucas Cranachs zu finden, das nach seinem Aufenthalt in einer protestantischen Sammlung zum „Gnadenbild Mariahilf“ avancierte. In der Fastenzeit 2012 war im Zuge des schon seit fast 20 Jahren währenden Projektes „kunstraum kirche“ über dem Hauptaltar ein sieben Meter breites „Abendmahl“ der in Südtirol lebenden deutschen Künstlerin Julia Bornefeld positioniert – ein Foto einer realen Performance, deren Teilnehmer und Teilnehmerinnen, in der Ikonografie exakt angelehnt an Leonardos Abendmahl, vor einer Tafel sitzen, die sich eben voll entzündet hat: „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen!“ (Lk 12,49) – nicht gerade das „Adoro Te Devote“ der eucharistischen Gegenwart.

Feuer und Flucht, Auszug und Hast: Religion ist nicht nur Schönheit, sondern in ihrer biblisch legitimierten Form schlummert diese tiefsitzende Verstörung. Die Interaktion Jesu Christi mit der Weltgeschichte findet im Kreuz seine Zuspitzung. Ausgerechnet mit ihm aber verband man in jüngerer Zeit oftmals nicht viel mehr als einen provozierenden, mitunter blasphemischen Gestus – mit vielen guten Gründen wohlgemerkt.

Streitfall Kreuz

Kann die Darstellung des Kreuzes auf dem Niveau heutiger Kunst gelingen? Wie sehr dieses Symbol und Zeichen plötzlich ein öffentliches Thema sein kann, haben die letzten Jahre gezeigt. Das Kreuz hat nicht nur eine (schein-)liberale Öffentlichkeit beschäftigt. Es wurde auch instrumentalisiert, etwa von Wahlkämpfern in Südtirol vor und im neuen Bozener Museum, in dem Martin Kippenbergers „Frosch am Kreuz“ zum Skandal wurde. Doch bei dem vermeintlichen Schandfleck des grünen Frosches ging es in Wirklichkeit gar nicht um Jesus. Kippenberger hatte, als er noch lebte, mit diesem Werk sein eigenes Suchtproblem thematisiert.

Jenseits der Flügelkämpfe politischer Parteien und anderer Vereinnahmungsstrategien, denen auch kirchliche Amtsträger ausgesetzt sind (oder die sie mitunter auch begrüßen), dringt der Streit über das Kreuz allerdings auch in die Höhe niveauvoller Kulturdebatten vor. Zwar ist der Einspruch des Muslim Navid Kermani, der ihn im Jahre 2009 die Zuerkennung des Hessischen Kulturpreises „in Anerkennung der Lebensleistung für die interreligiöse Kooperation und Schaffung einer Kultur des Respekts“ gekostet hat, fast schon vergessen. Er sei aber noch einmal erwähnt, weil er von der Brisanz dieses Zeichens Zeugnis ablegt, die die Debatten zum Verhältnis von Kunst und Kirche nicht ignorieren sollten.

„Kreuzen gegenüber bin ich prinzipiell negativ eingestellt“, hatte Kermani in der “Neuen Zürcher Zeitung” geschrieben (14. März 2009). Und weiter: „[I]ch kann im Herzen verstehen, warum Judentum und Islam die Kreuzigung ablehnen. Sie tun es ja höflich, viel zu höflich, wie mir manchmal erscheint (…). Der Koran sagt, dass ein anderer gekreuzigt worden sei, Jesus sei entkommen. Für mich formuliere ich die Ablehnung der Kreuzestheologie drastischer: Gotteslästerung und Idolatrie“.

Diese Sätze hatten kirchlichen Widerstand hervorgerufen und „die Presseöffentlichkeit sehr erregt mit insgesamt eher ungünstigem Ausgang für die Kirchenvertreter“ (vgl. dazu: Alex Stock, Visum fovendo contegat. Von Bildern im Religionsverkehr, in: Durchblicke. Bildtheologische Perspektiven, Paderborn 2011, 29– 42, 34). Dabei hatte Kermani, allerorts bemüht um den Dialog zwischen den Religionen, in einer Kreuzbetrachtung Guido Renis aus der Kirche San Lorenzo in Lucina in Rom auch den Satz fallen lassen: „… und fand den Anblick so berückend, so voller Segen, dass ich am liebsten nicht mehr aufgestanden wäre: erstmals dachte ich: Ich – nicht nur: man – (…) könnte an ein Kreuz glauben“.

Gegen die fatale Verquickung der Rhetorik des Leidens mit der des Triumphierens

Ausgerechnet Guido Reni bewegte den kunstkundigen Muslim, dessen bekannte Dissertation mit „Gott ist schön“ betitelt war (Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2000). Eine höhere Synthese zwischen dem islamischen Gelehrten und des Papstes Rede in der Sixtinischen Kapelle? Diese Art des Religionsfriedens wäre wohl höchst fragil.

Und dennoch: Es ist das Kreuz, das christliche Kreuz, das in der Kunst zunehmend verschwindet. [I]ch habe (…) den Zynismus vieler zeitgenössischer künstlerischer Arbeiten satt, denn sie nennen die Dinge nicht beim Namen und schaffen kein Bewusstsein“, so Adrian Paci in einem gerade erscheinenden Interview (in: Kunst und Kirche, Gott ist [k]ein Museum, Nr. 2/2012).

Dieser Satz des aus Albanien stammenden und in Mailand lebenden Künstlers ist auch mit Blick auf seinen Beitrag anlässlich der aktuellen Ausstellung „MITLEID | compassion“ in Graz von Bedeutung (vgl. www.kultum.at/?d=mitleid-compassion). Paci hat in dieser Ausstellung mit einer Kreuzigung überrascht, die einen schlichten Korpus zeigt, wie er millionenfach bekannt ist, doch ohne Blut und ohne Pathos. Sie stellt gleichzeitig die 12. Station eines 14 Stationen umfassenden Kreuzwegs dar, für den der Künstler für die Mailänder Kirche San Bartolomeo beauftragt worden war.

Dieser nimmt fast nichts von dem zurück, was die Ikonografie des Kreuzweges entwickelt hat. Nur zwei Irritationen baut der international arrivierte Künstler ein: Er verzichtet auf jedwede Symbolik (selbst das Kreuz in diesem Kreuzweg fehlt), und er stemmt sich gegen jede Heroisierung des Leidens, gegen die fatale Verquickung der Rhetorik des Leidens mit der des Triumphierens, die der Inszenierung der Passion bis hin zu Mel Gibsons Kinoerfolg „Passion Christi“ (2004) anhaftet. Stattdessen bringt Paci einen anderen, vielleicht viel wichtigeren Aspekt ein, nämlich das Alleingelassen-Werden des Gekreuzigten mit der Frage: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“eine Frage, die auch den Muslim Kermani beflügelt hatte.

Im Gegensatz zur Allgegenwart von Leid und Gewalt ist dieses Thema noch nicht „ausgemalt“. Man wird es in der Kunst vermehrt suchen und zur Sprache bringen müssen, weil alle Menschen diese Erfahrung teilen und sie mit bisherigen Mustern nicht deuten können. Dann ist der Dialog von Kunst und Kirche sinnvoll und fruchtbar.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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