In der Zeit der Reformation, als sich die katholische Kirche harter Kritik ausgesetzt sah, entwickelten die Jesuiten eine außergewöhnliche Art des Marketings. Sie entdeckten das Theater. In bombastischen Aufführungen, ausgestattet mit Musik, Ballett, Dutzenden von Schauspielern und Statisten, pompösen Kostümen und Showeffekten wurde das Publikum in Atem gehalten. Die Forschung zählt etwa 7650 Stücktitel, die in den 200 Jahren nach der Reformation entwickelt wurden.
Die Bühne wurde von Heiligen und christlichen Märtyrern bevölkert, aus dem Schnürboden flogen Engel herab und mit infernalischem Lärm tat sich der Boden der Bühne auf und verschluckte die Geister der Hölle. Die Kirche wurde mit beeindruckender Vehemenz als triumphierende Siegerin gezeigt und an vielen Orten kam es zu Spontanbekehrungen. Anwesende Landesfürsten waren von den dargestellten Höllenqualen so sehr beeindruckt, dass sie noch an Ort und Stelle eine Wiederaufnahme in die katholische Kirche erflehten.
Eine große Zeit also, für die Kirche und das Theater, vielmehr das Theater der Kirche. Und so mancher weint dieser Zeit hinterher. Auf „kath.net“ wird stolz erzählt: „Das europäische Theater ist nicht aus der griechischen Antike hervorgegangen, wie oft behauptet wird, sondern aus der Osterverkündigung. ,Der Herr ist auferstanden!‘ war und bleibt die spannendste Aussage, die einem Menschen auf der Bühne über die Lippen geflossen ist.“ Und weiter: „Bis in unsere Tage wirkt das Erbe des christlichen Theaters fort. Ja, als Ganzes betrachtet, kann man das europäische Theater nur als christliche Kunstform sehen, wenn man es wirklich verstehen will. Es wurde entwickelt, um dem Zeugnis der Auferstehung eine Stimme zu leihen.“ Ganz im Sinne der Apostelgeschichte (Apg 4,20): „Unmöglich können wir schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben.“
1773 aber, mit der Aufhebung des Ordens der Jesuiten, endet diese Erfolgsstory bereits. Wie herb mussten die Kirche die Worte Gotthold Ephraim Lessings treffen, der in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ 1767 schrieb: „Die Helden des christlichen Trauerspiels sind mehrenteils Märtyrer. Nun leben wir aber in einer Zeit, in welcher die Stimme der gesunden Vernunft zu laut erschallet, als dass jeder Rasende, der sich mutwillig, ohne alle Not, mit Verachtung aller seiner bürgerlichen Obliegenheiten in den Tod stürzet, den Titel eines Märtyrers sich anmaßen dürfte.“ Lessing schwang sich schließlich zu einer Forderung auf, die nicht gefallen konnte: „[M]ein Rat – man lasse alle christliche Trauerspiele unaufgeführet …“ - und er begründete dies damit, dass der Charakter des wahren Christen gänzlich untheatralisch sei.
Sicher noch schlimmer trafen die Worte Johann Wolfgang von Goethes, der 1798 schrieb: „Man muss etwas zu sagen haben, wenn man reden will. Ich bedaure immer unsere guten Kanzelmänner, welche sich seit 2000 Jahren durchgedroschene Garben zum Gegenstand ihrer Tätigkeit wählen müssen.“
Über Jahrhunderte wollte die Kirche mit ihrem Theater die Menschen bekehren und ihnen vor Augen führen, was passiert, wenn man sich der Sünde hingibt – und sie hatte Erfolg damit. Und plötzlich tauchen aus dem Bühnenboden die Geister, die man nicht gerufen hatte, auf und machten die getane Arbeit mit Worten wie „der Glaube ist nicht der Aufgang, sondern das Ende allen Wissens“ zunichte.
Aber nicht nur am Inhalt der Geschichten wurde gezweifelt, sondern auch an ihren Verfassern. Schrieb da nicht Heinrich Heine am Beginn seines Wintermärchens: „Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, ich kenn auch die Herren Verfasser; ich weiß, sie tranken heimlich Wein, Und predigten öffentlich Wasser.“ Und noch einmal Goethe: „(…) nennen sich Christen und unter ihrem Schafspelz sind sie reißende Wölfe“. Er meinte damit nicht nur die katholischen Priester, auch die Protestanten mussten sich herbe Kritik gefallen lassen.
Prompt setzte eine Welle der Gegenwehr ein. Priester wetterten gegen die Zügellosigkeit des Theatervolks und ließen nicht lange mit Gegendarstellungen auf sich warten. Im so genannten Hamburger Theaterstreit wurde in einer theologischen Untersuchung die Frage aufgeworfen: „ob ein Geistlicher, insonderheit ein wirklich im Predigt-Amte stehender Mann, ohne ein schweres Ärgernis zu geben, die Schaubühne besuchen, selbst Komödien schreiben, aufführen und drucken laßen, und die Schaubühne so wie sie itzo ist, verteidigen könne?“
Der Verfasser dieser Streitschrift – hier theologische Untersuchung genannt – schrieb: „Dem äußeren Anschein nach ist der Sieg auf der Seite der Freunde des Theaters. Sie behaupten, dass das Theater ein vorzügliches Verbesserungsmittel des menschlichen Herzens sei. Die Freunde des Schauplatzes sagen, es ist ein Tempel der Tugend und eine Schule der guten Sitten, er flöße ihnen die zärtlichsten, edelsten, die erhabensten Empfindungen ein (…) Da ich meinen Platz unter den Gegnern nehme, so muss ich offenherzig bekennen: Mein Gewissen, mein Amt und Charakter verstatten mir nicht, bei solchen Dingen einen Zuschauer abzugeben. Ich glaube Gründe genug zu haben, zu behaupten, dass die Stücke von der Art sind, dass sie keine andere, als schädliche Eindrücke in den Seelen der Zuschauer hinterlassen können.“
Und mit finsteren Worten blickt er auf den moralischen Zustand der Schauspieler: „[M]an lernet den Ehebruch, wenn man ihn siehet, eine Frau, welche mit einem keuschen Herzen ins Schauspiel kam, gehet mit einem unreinen davon, da sie von Lastern gereizet worden. Wie sehr werden die Sitten befleckt, (…) bei denen, die an den Gebärden und Stellungen der Schauspieler ein Vergnügen haben.“
Mit Ärger musste die Geistlichkeit sehen, dass all ihre mahnenden Worte nichts halfen, ja dass die Freunde des Schauspiels darüber nur spotteten. Mit Schrecken mussten sie erleben, wie die Aufklärung an ihren Grundsätzen rüttelte und den Glauben in Frage stellte.
Die Kluft wurde immer größer, der Schlagabtausch immer härter. Das Klima war vergiftet. „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Immanuel Kant) bedeutete vielleicht nur, dass man Fragen stellen wollte. Viele große Theologen haben daraufhin gefragt und um Antworten gerungen. Und keiner will nun behaupten, dass Fragen in der Kirche – in der katholischen wie in der evangelischen – nicht erlaubt wären. Und doch hatte die Kirche auf viele Fragen ihre Antworten, ihre Wahrheiten, die plötzlich nicht mehr akzeptiert wurden. Dies wollte man sich jedoch nicht gefallen lassen, die kirchlichen „Wahrheiten“ durften nicht in Frage gestellt werden. 1778 wurde Lessing die Zensurfreiheit für die „Beiträge“ (Veröffentlichungen in: „Fragmente eines Ungenannten“) aberkannt; gleichzeitig erhielt er ein generelles Publikationsverbot für das Gebiet der Religion.
Der Streit zwischen den Parteien – hier die Kirche, dort das Theater – wurde immer heftiger. Beschuldigungen hier, Anfeindungen dort. Juristen mussten eingeschaltet werden. Ein nicht mehr enden wollender Streit zwischen zwei Nachbarn, die sich einst so sehr mochten und die bis heute nicht mehr wirklich zusammengefunden haben – und wie ich glaube, sich auch nicht mehr wirklich finden werden.
Der Mensch mit all seinen Unzulänglichkeiten ist unser gemeinsames Thema
Nun ja, man besucht sich gegenseitig, wobei man eher einen Bischof in der Oper oder im Theater sieht als einen Theaterschaffenden in der Karfreitagsliturgie. Auch gibt es einen so genannten Dialog zwischen Kirche und Kunst, aber das richtige Gesprächsthema lässt sich sehr schwer finden: Zu tief sind die Gräben. Manchmal begegnet man sich freundlich, oft hegt die eine gegen die andere Seite alte Vorurteile, doch meistens steht man sich fremd gegenüber – oder noch schlimmer, man hat das Interesse aneinander verloren.
In einer Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz aus dem Jahr 1980 wird davon gesprochen, dass das vordem einheitliche Welt- und Menschenbild verloren gegangen sei und der Mensch von den Künstlern auf Rationalität und Funktionalität eingeengt werde. Es heißt dort: „Die Auflösung eines umfassenden Menschenbildes, das der vollen Wirklichkeit gerecht wird und in gewissem Rahmen auch leitbildhaft wirken kann, ist in der Entwicklung der modernen Kunst ständig fortgeschritten.“ Weiter heißt es: Da der Mensch Gottes Ebenbild sei, bedeute die Zerstörung des Menschenbildes auch eine Zerstörung des Gottesbildes. In meinen Augen klingt aus einer solchen Aussage immer noch ein tiefes Misstrauen gegen die Arbeit der heutigen Künstler heraus.
Ein „umfassendes Menschenbild, das der vollen Wirklichkeit gerecht wird“, kann ich mir auf der anderen Seite auch tatsächlich nicht vorstellen. Persönich ist mir die Vorstellung fremd, dass Gott uns Menschen ähnlich sei. Ich fühle mich eigentlich ganz wohl dabei, wenn ich mir kein Bild von Gott mache und fühle mich darin durch die Bibel auch bestätigt. Auch wenn es im Buch Genesis heißt, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat (Gen 5,1), halte ich mich lieber an: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, (…) ist“ (Ex 20,4).
Aber auch hier regt sich Widerspruch, denn meine Neugierde ist grenzenlos und so gelingt es mir nicht, von dem, was auf Erden ist, loszulassen und es nicht zu hinterfragen. Die Frage Georg Büchners: Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet? – treibt mich um. Diese Frage ist auch die Triebfeder meiner Arbeit. Bis heute kann ich mir den Menschen nicht wirklich erklären. Also suche ich weiter, bringe Menschen auf die Bühne und betrachte meine Arbeit als meine persönliche Art zu forschen.
Ich glaube im Übrigen nicht daran, bei dieser Forschung an ein Ende oder gar zu einem Ergebnis zu kommen. Eines aber ist sicher: Es geht mir und vielen anderen Regisseuren und Schauspielern nicht um die Zerstörung des Menschenbildes. Es geht darum zu fragen. Da stolpere ich nun allerdings über einen Satz, den Johannes Paul II. in seinem „Brief an die Künstler“ 1999 so formulierte: „Werden etwa nicht im religiösen Bereich die wichtigsten persönlichen Fragen gestellt und die endgültigen existenziellen Antworten gesucht?“ Ich möchte antworten: Bei „den wichtigsten persönlichen Fragen“ treffen wir uns. Hier, bei der Suche nach Antworten, könnte unser gemeinsamer Ansatzpunkt sein. Aber im Gegensatz zu Johannes Paul II. glaube ich nicht, dass wir zu einer endgültigen Antwort gelangen. Wer nach „Menschenbildern“ sucht, findet eine Vielzahl von Antworten – nicht aber das wahre Menschenbild. Also suchen wir weiter – möglicherweise gemeinsam. Der Mensch mit all seinen Unzulänglichkeiten ist unser gemeinsames Thema.
In den langen Jahren meiner Tätigkeit als Leiter der Passionsspiele in Oberammergau bin ich immer wieder auf Menschen getroffen, die mich nachhaltig beeindruckt und beeinflusst haben. Als Kind schon sah ich den in den frühen sechziger Jahren entstandenen Film von Pier Paolo Pasolini „Das 1. Evangelium – Matthäus“. Pasolini gelang damals ein Meisterwerk, das er, der „abwegige Katholik“, einem Papst, Johannes XXIII., widmete. Als ich die Widmung im Nachspann des Filmes las, begann ich seinerzeit, im Alter von 15 Jahren, mich über Johannes XXIII. zu informieren. Das Wort „Aggiornamento“ verstand ich damals nicht, aber den Geist dieses Wortes verstand ich – und war beeindruckt.
1977 versuchte der Oberammergauer Bildhauer Hans Schweighofer, die Passionsspiele zu reformieren und wieder stand ein Kirchenmann dahinter. Kardinal Julius Döpfner hat die Oberammergauer zur Reform gedrängt. Ihm verdanken wir, das sich die Passionsspiele in den letzten Jahrzehnten veränderten und sich von dem ihnen anhaftenden Antijudaismus befreien konnten. Schließlich ist mir der Theologe Ludwig Mödl, der mich bei der Textarbeit der Passionsspiele 2000 und 2010 begleitet hat, zu einem der wichtigsten Berater geworden. Auch jüdische Rabbiner und protestantische Theologen waren unverzichtbare Gesprächspartner.
Gut, wir hatten bei den Passionsspielen ein gemeinsames Thema, das machte es uns leicht. Ich bin sicher, wir könnten auch weitere Themen finden, wenn wir uns nur mehr aufeinander einlassen und gegenseitig akzeptieren würden.