So kann man sich täuschen! In den siebziger Jahren waren sich die führenden theologisch-literarischen Kulturbeobachter in einem Punkt einig: Die Tradition des Jesusromans gehörte der Vergangenheit an, schien eine Gattung ohne Gegenwart, geschweige denn Zukunft zu sein. „Von Jesus“ sei in der Gegenwartsliteratur „nicht übermäßig viel die Rede“, schrieb Josef Imbach 1978. Schon sieben Jahre zuvor hatte Paul Konrad Kurz kategorisch erklärt, der „Jesusroman“ sei „zu Ende“, da in der nachaufklärerischen Zeit jedweder „unmittelbare Zugang zu einem historischen, in seiner Umwelt und unserer Denkweise gleichermaßen beheimateten Jesus“ verloren gegangen sei. Karl-Josef Kuschel schließlich bestätigte 1978, dass die „Zeit der konventionellen, traditionellen Jesusliteratur endgültig vorbei“ sei. Mit Beginn der achtziger Jahre zeigte sich freilich sehr bald, dass bei aller zutreffenden Analyse die sich daran anschließende Prognose als völlig falsch erwies. Unbefangen, neugierig, wieder und wieder schrieben sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller ganz unterschiedlicher Herkunft an Jesus von Nazareth heran. Man konnte geradezu von einem neuen Boom an Jesusromanen, einer unerwarteten Renaissance Jesu als literarischer Figur sprechen (vgl. Georg Langenhorst:Jesus ging nach Hollywood. Zur Wiederentdeckung Jesu in Literatur und Film der Gegenwart, Düsseldorf 1998). Das Erstaunliche: Dieser Trend hält an, zieht sich auch in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts hinein, verstärkt sich sogar noch. Jahr für Jahr werden zahllose Jesusromane geschrieben, übersetzt, verlegt, verkauft, gelesen. Gegen alle Skepsis der Literaturkritiker und theologischen Beobachter boomt der Markt: Jesus-Literatur ist „in“. Damit ist freilich noch nichts ausgesagt über die literarische Qualität dieser Werke. Nach wie vor spannt sich der Bogen weit aus zwischen „Kitsch und Kunst“. Aber welche Tendenzen zeichnen sich ab? Wo bahnen sich die Jesusromane im 21. Jahrhundert neue Wege? Wo werden inhaltlich wie formal neue Zugänge, Darstellungsformen und Herausforderungen sichtbar?
In der literarischen Annäherung an Jesus greifen die Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu unterschiedlichen Techniken und Perspektiven. Diese formalen Zugänge sind nicht neu, vielmehr werden bereits vorgespurte Traditionslinien weiter fortgeschrieben und variiert. Zunächst fallen zahlreiche Romane ins Auge, die sich den historischen Ereignissen um Jesus aus der fiktiven Perspektive einer biblischen Nebenfigur annähern. Seit der Erfindung dieser Gattung haben sich drei biblische Spiegelfiguren als klare Favoriten hervorgetan. Es ist keine Überraschung, dass sie weiterhin literarisch gestaltet werden.
Da ist zunächst Maria Magdalena, die Erstzeugin der Auferstehung, die in stereotypischer Eintönigkeit immer wieder als vermeintliche Geliebte Jesu porträtiert wird. Der Bogen neuerer Romane spannt sich aus von Regina Berlinghofs „Mirjam. Maria Magdalena und Jesus“ (1997), über den „Maria Magdalena“-Roman (1999 – zitiert wird jeweils das Erscheinungsjahr der deutschen Ausgabe) der schwedischen Erfolgsautorin Marianne Fredriksson, „Maria Magdalena“ der Amerikanerin Margaret George (2003) bis zu Gerald Messadiés „Die Geliebte des Herrn“ (2005) oder „Das Magdalena-Evangelium“ (2006) der Amerikanerin Kathleen McGowan. Die lange Reihe der literarischen Judas-Rezeption mit Namen wie Leonid Andrejew, Carl Sternheim, Ingeborg Drewitz, Walter Jens und anderen findet ihre Fortsetzung in dem Roman „Evangelium der Nacht“ (2003) des Norwegers Svein Woje, verfasst als fiktiv gestalteter autobiographischer Bericht, sowie in dem soeben erschienenen Roman „Das Evangelium nach Judas“ (2007) des Amerikaners Jeffrey Archer. Neben Maria Magdalena und Judas dient vor allem Pontius Pilatus als weitere literarische Spiegelfigur Jesu, so etwa in den vorgeblichen „Memoiren eines Unschuldigen“ „Ich, Pontius Pilatus“ (1999) der Französin Anne Bernet. Nur gestreift werden die Ereignisse um Jesus in dem 2004 erschienenen historischen Roman „Die Geliebte des Pilatus“ von Gisbert Haefs. Zentrale Bedeutung erlangt die an Pilatus gespiegelte Jesusgeschichte in einem der interessantesten der jüngeren Romane: „Das Evangelium nach Pilatus“ (2005) aus der Feder des neuen interreligiösen Kultautors Eric-Emmanuel Schmitt. Auch bisher selten literarisch ausgestaltete biblische Nebenfiguren erhalten in Gegenwartsromanen Profil: der Herrenbruder Jakobus etwa im Roman „Jakobus, Stiefsohn Gottes“ (2002), verfasst von dem Österreicher Nikolaus Glattauer; Paulus, dem der Amerikaner Walter Wangerin den voluminösen Roman „Der Apostel. Paulus, ein Leben“ (2001) widmet; oder gleich die ganze Heilige Familie in dem nur wenig überzeugenden Roman „Das Geschenk“ von Maria Elisabeth Straub (2006), in dem Jesus als Sohn einer inzestuösen Zwangsbeziehung von Maria und ihrem Vater dargestellt wird.
Literarische Spiegelfiguren Jesu können aber nicht nur aus dem biblisch vorgegebenen Personal stammen. Andere Autoren erfinden zeitgenössische Zeugen der damaligen Ereignisse. In „Das Vermächtis der Deborah“ (1999) beschreibt die Engländerin Maggy Whitehouse das Leben einer Cousine und Wegbegleiterin Jesu, die sich mit Judas vermählt und selbst zur Gotteslehrerin wird. Der Italiener Franco Mimmi wählt in „Unser Agent in Judäa“ (2002) einen fiktiven römischen Zeitzeugen zum Chronisten der Ereignisse. Diese Perspektive eines von außen die jüdische Kultur beschreibenden Zeugen findet sich auch in „Das Evangelium des Corax“ (2000) des Amerikaners Paul Park sowie in dem soeben erschienenen Roman „Der Jesuszeuge“ von Christa Karasch (2007). Jesus gespiegelt an biblischen Nebenfiguren oder an fiktiven Zeitzeugen: Eine dritte Traditionslinie aktueller Jesusromane nutzt die Tatsache, dass im Neuen Testament über die Jugendjahre Jesu nichts zu erfahren ist. Diese erzählerische Lücke lädt geradezu ein zu phantasievoller Ausmalung. Zu einem Kultbuch unter Jugendlichen geworden ist das Buch „Die Bibel nach Biff“ (2002), verfasst von dem Amerikaner Christopher Moore. Es hält, was der Untertitel verspricht: „Die wilden Jugendjahre von Jesus, erzählt von seinem besten Freund“. Dieser Roman in der Tradition der Monty-Python-Filme lässt keine Provokation, keinen satirischen Witz, keine Tabuverletzung aus, um die Jesus-Geschichte provokativ-humoristisch zu dekonstruieren. Ganz anders präsentiert sich die überraschende „Jesus-Geschichte“ „Als ich unsterblich war“ (2003) aus der Feder des deutschen Kulturjournalisten und Drehbuchautors Friedrich Ani. In dieser Erzählung schildert er, wie der zwölfjährige Jesus für zwei Tage verschwand und sich zum ersten und einzigen Mal verliebte. Jim Crace schließlich, ein englischer Erfolgsautor, gestaltet in „Die Versuchung in der Wüste“ (1998) den Rückzug Jesu vor seinem eigentlichen öffentlichen Wirken erzählerisch meisterhaft aus.
Zwei noch einmal ganz eigenständige Traditionen der jüngsten literarischen Annäherung an Jesus greifen zu einer grundlegend anderen Form: Sie verlassen den Bereich des vorgeblich historischen Romans und wenden sich dem sakralen Thriller zu. Hier wird eine bunte und spannende Mischung aus aktueller Weltpolitik, gegenwärtigen Religionskonflikten, Medienwelt, postmoderner Alltagserfahrung und Kriminalstory mit Spuren vermeintlich neuer Erkenntnisse über den historischen Jesus vermengt. Fast durchweg geht es um eine Entdeckung, die geeignet scheint, das Dogmengebäude der Kirchen und des Christentums in den Wurzeln zu erschüttern. Oft werden dabei die Zeitebenen der Gegenwart und der Jesuszeit filmhaft ineinander geschnitten. Diese derzeit höchst erfolgreiche Romanform ist ganz und gar als Unterhaltungsliteratur konzipiert, trägt jedoch entscheidend zur Präsenz der Frage nach Jesus in unserer Gegenwartskultur bei. Fast immer erweisen sich die Verfasser solcher Romane zudem als versierte Kenner der biblischen und vor allem der apokryphen Jesusdeutungen. Keine Frage: Dan Browns inzwschen viel untersuchtes ,,Sakrileg“ (2004) ist das bei weitem erfolgreichste Beispiel dieser Tradition. Bereits zuvor gab es jedoch zahlreiche strukturell ganz ähnlich verfasste Werke, so wie es gewiss zahllose an den Erfolg angehängte Folgewerke geben wird. Nur wenige Beispiele seien hier genannt: 1997 erschien „Die Jesus-Verschwörung“ der Französin Eliette Abécassis, ein Roman um eine verschwundene Qumran-Rolle, die angeblich sensationelle Enthüllungen über Jesus enthält. 1998 veröffentlichte Andreas Eschbach seinen später dann auch erfolgreich verfilmten Roman „Das Jesus Video“, in dem die Zeitebenen von damals und jetzt rätselhaft miteinander verschmolzen werden. Im gleichen Jahr erschien der Roman „Die Petrus-Akte“ des Vatikankorrespondenten Andreas Englisch, in dem die apokryphen Petrus-Akten zum Anlass phantastischer Spekulationen werden. Der Franzose Henri Loevenbruck lässt in „Das Jesusfragment“ (2005) einen geheimnisumwitterten Stein zum Träger der letzten Botschaft Jesu werden. Wolfgang Hohlbein schließlich, Deutschlands aktueller Bestsellerkönig im Bereich der Fantasy-Literatur, führt in „Das Paulus-Evangelium“ (2006) auf die Spur unbekannter Paulus-Dokumente.
Eine letzte Gattung bleibt zu benennen, erneut im Bereich des Unterhaltungsthrillers. Wie wäre es, wenn Jesus zurückkehrte in die Welt unserer Gegenwart? Auch die Phantasie anregende Idee eines Jesus redivivus wird zum Anlass aktueller erzählerischer Entfaltung.In „...und der Herr kam zurück“ (1998) inszeniert der Amerikaner Joe de Mers eine wilde und tödliche Verfolgungsjagd auf den vermeintlich zurückgekommenen Jesus, der in unserer Zeit weltlich wie religiös Mächtige nur stört. „Der letzte Tag“ (1998) von Glenn Kleier lässt „Jesa“ als weiblichen Messias in den apokalyptisch gefärbten letzten Tagen des 20. Jahrhunderts auftreten. Eher ironisch-spielerisch entwirft die Französin Christine Arnothy in ihrem Roman „Die Nacht des Lichts“ (1998) die Versuche eines auf die Erde zurückkehrenden Jesus, im Hier und Heute Gehör zu finden. In „Das Blut Gottes“ (2002) spielt der Amerikaner Martinez Hewlett den Gedanken durch, Wissenschaftlern sei es gelungen, aus der dem Turiner Grabtuch entnommenen DNA Jesus wieder zum Leben zu erwecken. Auch in „Die stumme Bruderschaft“ (2005), einem Roman der Spanierin Julia Navarro, steht die Frage nach der Authentizität des Turiner Grabtuchs im Zentrum der Ereignisse. Der Russe Alexej Slapovsky lässt in „Der heilige Nachbar“ (2003) Jesus in einem russischen Provinzstädtchen wiedererscheinen. Respekt- und tabulos, aber auch satirisch-ironisch präsentiert sich schließlich „Das Evangelium nach Jimmy“ (2006), verfasst von dem Franzosen Didier van Cauwelaert, in dem ein genetisch identischer Klon Jesu die Verzweckungen seiner Personen durchbricht und letztlich erneut am Kreuz landet.
Was für ein – hier ja nur exemplarisch entfaltetes – Panorama allein in Bezug auf den deutschen Buchmarkt: breit gespannt, international, differenziert, in vielen Tonlagen und Zugangswegen. Eines belegt die Aufreihung eindrücklich. Das literarische Interesse an Jesus ist größer denn je, auch wenn es immer mehr in den Bereich der Unterhaltungsliteratur rückt. Und ein Zweites verblüfft. Dieser geradezu explodierende literarische Jesusboom findet völlig außerhalb der Kirche statt. Diese Bücher zielen nur zum geringsten Teil auf kirchlich-gläubige Leser, werden so auch weder kirchlich noch theologisch als Phänomen überhaupt wahrgenommen. Umgekehrt spielen wissenschaftliche Theologie oder die Ergebnisse der hoch spezialisierten historisch-kritischen Exegese in den Romanen keine nennenswerte Rolle. Das diffuse, kaum eruierbare Jesusbild in unserer Gesellschaft aber wird von solchen Büchern zumindest unterschwellig maßgeblich mitbestimmt. Theologische Jesusdeutungen müssen sich in diesem vielstimmigen Chor bewähren. Im Blick auf die literarische Jesusrezeption der achtziger und neunziger Jahre fällt eine Verschiebung ins Auge. In diesen Jahren wurden Jesusromane zum einen viel mehr mit explizit literarischem Anspruch und zum anderen vor allem von Schriftstellerinnen und Schriftstellern der älteren Generation aufgrund langjähriger Beschäftigung mit dem Thema verfasst: Luise Rinser, Gertrud Fussenegger, Stefan Heym, Gore Vidal, Tschingis Aitmatow, José Saramago oder Norman Mailer mögen für diese – in sich nicht einheitliche – Traditionslinie stehen. Im Gegensatz dazu stammt ein Großteil der jetzt erscheinenden Romane von jungen, oft bis dato wenig bekannten Autorinnen und Autoren, Scriptwritern, Wissenschaftsjournalisten, die dieser Stoff zu literarischer Gestaltung anregt. Spricht das für ein vor allem markt- und absatzgesteuertes Modephänomen? Ist die gegenwärtige literarische Beschäftigung also primär ein Trend ohne jeglichen literarischen Tiefgang und ohne theologische Ernsthaftigkeit – und dann auch ruhigen Gewissens ignorierbar?
So wenig es möglich ist, allen genannten Werken gleichermaßen gerecht zu werden: Anhand eines exemplarischen Falls soll deutlich werden, dass die Beachtung auch dieser Jesusromane sehr wohl lohnenswert sein kann. Eric-Emmanuel Schmitt (geb. 1960) hat sich innerhalb weniger Jahre als international meistgelesener Erzähler und meistgespielter Dramatiker Frankreichs etabliert. Er hatte in den späten neunziger Jahren zunächst Monologe und Kurzstücke mit religiösen Themen für das Theater verfasst. Nun arbeitete er sie zu kleinen Prosaarbeiten um und stellte sie als „Cycle de l’Invisible“ zusammen. Gerade in Deutschland gelangten diese – bereits in mehr als 30 Sprachen übersetzten – novellenartigen Prosawerke zu großem Erfolg. Die in ihrer Botschaft an Lessings Ringparabel angelehnte „Tetralogie der wichtigsten Weltreligionen“ – so der deutsche Projektname – umfasst zunächst ,,Milarepa“ (1997, dt. 2006), einen buddhistischen Monolog. ,,Monsieur und die Blumen des Koran“ (2001) begründete Schmitts Erfolgsgeschichte in Deutschland, verstärkt noch durch eine kongeniale Verfilmung mit Omar Sharif in der Hauptrolle. Vor allem für dieses Buch erhielt Schmitt 2004 den „Deutschen Bücherpreis“. Im Zentrum steht hier der Sufismus als Quelle zur Versöhnung der abrahamischen Religionen.„Oskar und die Dame in Rosa“ (2002) thematisiert und problematisiert die Wirklichkeitsdeutung des Atheismus angesichts des Sterbens eines krebskranken Kindes. „Das Kind von Noah“ (2004) schließlich widmet sich dem Judentum.
In „Das Evangelium nach Pilatus“ (2000), seinem Roman zum Christentum, bekennt sich Eric-Emmanuel Schmitt offen dazu, Christ zu sein. Seine Verpflichtung auf die in der Tetralogie angestrebte Versöhnung der Religionen entstammt also nicht religiös-postmodernem Pluralismus oder Gleichgültigkeit, sondern christlicher Überzeugung. Aufgewachsen in einer eher säkularisiert-katholischen Familie, galt für ihn in seiner philosophischen Studienzeit nur, was „meine Vernunft und meine Vorstellung von der Vernunft“ (277) gelten ließ, schreibt er im Nachwort zu diesem Roman. Seit einem Bekehrungserlebnis, einer „Nacht in der Sahara im Februar 1989, wo ich als Atheist hineinging und als Gläubiger herauskam“ (266), bekennt Schmitt sich öffentlich dazu, „dass ich auf meine Art Christ bin“ (290). Der Roman ist als Versuch zu lesen,„das Christentum zu prüfen, seinen Beitrag,seine Bedeutung, sein Mysterium zu ermessen“ (291). Schmitt unterteilt seinen 2005 auf Deutsch erschienenen Jesusroman in drei völlig eigenständige Elemente. Am Anfang, präsentiert als „Prolog“, steht die „Beichte eines zu Tode Verurteilten am Abend seiner Verhaftung“ (7). Jesus – Jeschua – selbst tritt also als Sprecher auf, erzählt uns in Ich-Perspektive zentrale Stationen seines Lebens. In den wesentlichen Punkten hält sich Schmitt dabei an die Vorgaben der Evangelien, setzt in sie hinein durch Auslassung, Betonung, Neudeutung jedoch eigene Akzente.
Sein Jesus ist sich seiner Bestimmung nicht sicher. Er ist überrascht darüber, wie Menschen auf seine Botschaft, auf sein Zuhören, auf die ihm „ganz nebenbei“ passierten Wunder reagieren, die ihm eher peinlich, eher hinderlich sind: „vor allem möchte ich nicht, dass sich die Gerüchte verbreiten, die mich jetzt schon belasten , (...) die Kunde von meinen Wundertaten“ (49). Im Rückblick erkennt Jesus: „Meine Bestimmung wurde mir von anderen verkündet“ (11). Mit der Zeit freilich übernahm er die von außen erfolgende Zuschreibung, er sei der Messias. Doch sicher ist er sich nicht. Keine Offenbarung, kein geheimnisvolles Vorwissen hilft ihm. „Ich weiß nicht, wer ich bin“, gesteht er Jehuda gegenüber ein, jenem Judas, der hier als der vertrauteste Jünger, Mitarbeiter bis in den Tod hinein porträtiert wird. „Ich weiß nur, dass mir etwas innewohnt, das größer ist als ich.“ Und dann der entscheidende Kniff des Verfassers: ,,Ich nehme die Herausfforderung an.“, lässt Schmidt Jesus sagen. „Aus tiefstem Herzen setze ich darauf, dass ich der bin, auf den ganz Israel wartet. Ich gehe die Wette ein, dass ich Sein Sohn bin“ (62). Jesus, der selbst darauf wettet, der Messias zu sein – von dieser Perspektive aus wird die Erzählung bis Karfreitag vorangetrieben. Erst dann setzt der Hauptteil ein, das „Evangelium nach Pilatus“. Dieses wird die Wette letztlich nicht so eindeutig auflösen, dass alle Lesenden eine klare Botschaft vermittelt bekämen. Die Tendenz im Blick auf den Ausgang der motivisch am Ende nicht mehr aufgegriffenen Wette ist jedoch eindeutig. Dieser Romanteil besteht aus Briefen, die der römische Statthalter an seinen Bruder nach Rom schickt. Erneut wird hier also in Ich-Perspektive erzählt. In diesen Briefen wird in einem langen Bogen geschildert, wie Pilatus die Ereignisse von der Kreuzigung bis zu seiner eigenen Konversion zum Christentum erlebt. Auch hier – wie in vielen anderen Jesusromanen – wird seine Frau Claudia als Christin geschildert.
Selten in der Motivgeschichte: Hier gelingt es ihr letztlich, auch ihren Mann zu überzeugen. Pilatus – zunächst ganz rational und skeptisch, aber immer sympathisch gezeichnet – glaubt am Ende, selbst keine Chance zu haben, sich dem Glauben der Christen anzuschließen, obwohl er die Auferweckung für möglich hält. Er behauptet, dass es wohl „nur eine einzige Generation von Christen geben wird: diejenigen, die den wieder auferstandenen Jeschua gesehen haben. Ihr Glaube wird mit ihnen erlöschen“. Da Jesus ihm nicht erschienen sei, gehöre er nicht dazu, es sei denn, er müsse „zuerst den Zeugnissen der anderen glauben“. Doch Claudia behält das letzte Wort: „Dann bist du vielleicht der erste Christ“ (254). Pilatus als der erste Christ, weil er der Erste in jener Reihe ist, die selbst nicht Augenzeugen der Ereignisse waren, sondern sich – wie wir – auf deren Zeugnis verlassen muss. Der Roman schließt mit der „Chronik eines gestohlenen Romans“, in dem Schmitt überraschenderweise eine Art Bericht über das Schreiben eines Jesusromans anfügt. Poetologische Überlegungen über das Verfassen eines solchen Werkes stehen neben Berichten über den Raub des Manuskriptes, des Neuschreibens, der Reaktionen auf sein Buchprojekt, ja selbst Bekenntnissen. Was ist sein Ziel? „Ich will diesen Jesus lebendig, nah, intim wiederaufleben lassen, weil seine Gestalt im Laufe der Jahrhunderte hinter den Bildern verblasst ist.“ Dieser Jesus ist „stets der notorische Unbekannte“, und um ihn kenntlich zu machen, habe er sich entschieden: „Ich möchte zuerst den Menschen zeigen, dann vielleicht Gott“ (258).
„Zuerst den Menschen zeigen, dann vielleicht Gott“ – ein Teil der benannten Romane gewinnt seinen Reiz aus der damit benannten Spannung, die Geschichte eines Menschen zu erzählen, der eben mehr ist als nur ein Mensch. Wo und wie sich dieses „Mehr“ darstellen lässt, wird zur theologisch spannenden Frage. Ein anderer Teil der Romane lebt nach wie vor von dem erstaunlicherweise nicht nachlassenden Reiz, den Gottmensch Jesus Christus als Hirngespinst zu entlarven. Diese Romane handeln vom wahren Menschen Jesus, dekonstruieren aber jeglichen Anspruch auf dessen Göttlichkeit. Im breiten Feld dieser pluralen Deutungen muss sich die kirchliche Jesusdeutung profilieren, in dieser Profilierung liegt umgekehrt jedoch ihre Chance. Denn in jedem Fall zeigt sich, wie sehr Jesus eine einzigartig faszinierende Figur bleibt. In seiner unübertroffen reizvollen Christustrilogie „Resurrection“ (1991– 1996) hat Patrick Roth zugleich die eigene Faszination wie auch die Bandbreite der aktuellen literarischen Rezeption treffend gebündelt: Jesus? – „Niemand wie Er!“