Das Jesus-Bild im JudentumWie gut, dass Jesus Jude war

Im Prinzip ist Jesus von Nazareth für das Judentum kein Thema. Aus apologetischen Gründen hat sich dennoch eine vielfältige Leben-Jesu-Forschung jüdischer Denker entwickelt. Dabei kommt auch das Trennende zwischen Judentum und Christentum zum Vorschein.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, Jesus aus jüdischer Sicht sei kein Erfolgsthema. Der britische Rabbiner Jonathan Magonet (Abraham – Jesus – Mohammed – Interreligiöser Dialog aus jüdischer Perspektive, Gütersloh 2000, 69) formulierte es so: „Tatsächlich ist die Frage, wer Jesus war oder gewesen sein mag, nur für sehr wenige Juden von Interesse. Oder, um noch genauer zu sein, für die meisten Juden hat Jesus so gut wie keine Bedeutung.“ Wo Juden mit Jesus und seiner Wirkungsgeschichte in Berührung kamen, waren die Erfahrungen auch eher negativ. Jahrhunderte der Verfolgung, Unterdrückung, erzwungenen Wanderschaft und Ausgrenzung im Namen Jesu prägen sich ein in die Erinnerung eines Volkes, das es im „christlichen Abendland“ alles andere als leicht hatte. Diese Erkenntnis macht aber auch neugierig auf die Frage, ob es eine substantielle Auseinandersetzung mit Jesus als Person gegeben hat, nicht bloß mit dem Christentum als konkurrierender Religion. William Horbury ist Verfasser des Eintrags „Jesus Christus in der Sicht des Judentums“ in der vierten Auflage von „Religion in Geschichte und Gegenwart“. Er beschreibt die jüdische Position markant: „Es gibt kein einheitliches Bild von Jesus Christus; man kann das Judentum darstellen, ohne ihn überhaupt zu erwähnen. Aus der Antike sind nur wenige talmudische und andere jüdische Berichte über Jesus erhalten. Später befassen sich mittelalterliche Verfasser, oft in apologetischem Kontext, intensiver mit ihm. Schließlich haben moderne jüdische Forscher wichtige Einsichten zur Leben-Jesu-Forschung beigetragen“ (vgl. auch Johann Maier, Jesus von Nazareth in der talmudischen Überlieferung, Darmstadt 1978). Soweit so gut. Beim Stichwort „Leben-Jesu-Forschung“ macht Horbury einen Verweispfeil zu Markus Schröders Artikel zum Thema. Dort wäre mehr über diejenigen Juden zu erfahren, die sich mit Jesus beschäftigt haben. Doch die Lektüre enttäuscht. Schröder entfaltet die ganze Leben-Jesu-Forschung von Hermann S. Reimarus bis Adolf von Harnack,von Rudolf Bultmann bis Gerd Theißen. Aber keiner der jüdischen Forscher der letzten zweihundert Jahre findet namentliche Erwähnung. Kann es sein, dass die Auseinandersetzung des modernen Judentums mit Jesus so unbedeutend gewesen ist? Oder aber wird der jüdische Beitrag zur Leben-Jesu-Forschung so gering erachtet, dass er aus christlicher Sicht keine Erwähnung verdient?

Denn es gibt sie, diese jüdischen Denker, die sich mit Jesus beschäftigt haben: Abraham Geiger, Joseph Klausner, Leo Baeck, Claude G. Montefiore, Robert Eisler, Joel Carmichael, Martin Buber, Schalom Ben-Chorin, Hans-Joachim Schoeps, Pinchas Lapide, David Flusser, Ben Zion Bokser, Robert Raphael Geis, Samuel Sandmel, Hyam Maccoby, Ernst Ludwig Ehrlich, Michael Wyschogrod, Jacob Neusner. Dies sind nicht einmal alle Namen derjenigen, die man hätte aufführen können, wenn man die neuzeitliche Beschäftigung des Judentums mit Jesus hätte darstellen wollen. Es ist die Geschichte einer seit dem 19. Jahrhundert zu beobachtenden „Heimholung Jesu“ in das Judentum: als exemplarischen Juden, als mahnenden Propheten, als Revolutionär und Freiheitskämpfer, als Großen Bruder und messianischen Zionisten (Werner Vogler, Jüdische Jesusinterpretationen in christlicher Sicht, Weimar 1988). Den Anstoß dafür gaben Julius Wellhausen und die historisch-kritische Bibelwissenschaft. Wellhausen hat den Satz formuliert, an dem Christen wie Juden sich in der Folge abgearbeitet haben: Jesus war kein Christ, sondern Jude.

Für jüdische Ohren des 19. Jahrhunderts ein ganz erstaunlicher Satz. Er traf auf eine Gemeinschaft, die im Zuge der Aufklärung nach bürgerlicher Gleichstellung strebte und sich dabei durch die Idee vom „christlichen Staat“ behindert sah. So wird schnell klar, dass diese jüdische Beschäftigung mit der zentralen Figur des Neuen Testaments nicht grundsätzlicher Natur gewesen ist, sondern aus einem apologetischen Impuls erfolgte: dem Wunsch nach Teilhabe an der allgemeinen Gesellschaft ohne Aufgabe der eigenen jüdischen Identität. Wie gut also, dass selbst Jesus Jude war. Abraham Geigers Beschäftigung mit dem jüdischen Jesus und mit dem Christentum ist der Entwurf einer Gegengeschichte. Polemisch in Ton zeigt er Juden des 19. Jahrhunderts auf, warum sie dem Judentum weiter treu bleiben sollten, statt im Christentum eine höhere Stufe religiöser Entwicklung zu erken Gesprächskreis „Juden und nen, die das Judentum nie erreicht habe. So steht Geiger am Anfang einer jüdischen Leben-Jesu-Forschung, die zu einer angemessenen religionsgeschichtlichen Würdigung der jüdischen Quellen aufforderte. Gerade in der ureigensten Domäne der christlichen Theologie, der Interpretation der Gestalt Jesu, sollten Juden als maßgebliche Partner bei der Erforschung des Frühjudentums wahrgenommen werden. Christlicherseits wurden jedoch die Beiträge der jüdischen Jesusforschung nicht als heilsame Infragestellung der eigenen Vorurteile oder gar vielleicht als Gesprächsangebot empfunden, sondern als Anmaßung. In seinem Werk „Das Judentum und seine Geschichte“ von 1863 zeichnet Geiger ein Bild von Jesus als einem der einflussreichsten Pharisäer seiner Zeit (Susannah Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum – Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie, Berlin 2001). Geiger zufolge zeichnete Jesu Reden und Handeln nichts Einzigartiges und Originelles aus. Vielmehr ließen sich alle seine Lehren im pharisäischen Schrifttum wiederfinden. Die frühen Christen dagegen seien aufgrund sadduzäischer Einflüsse und der Aufnahme heidnischer Elemente aus der griechisch-römischen Welt von seinem Glauben und seiner Lehre abgewichen. Geigers Entwurf von Jesus als Pharisäer und dem Christentum als Verrat an Jesu jüdischem Glauben wurde für das moderne Judentum zum beliebten Erklärungsmodell über die christlichen Ursprünge und lieferte zugleich eine Verteidigungsposition gegen die christliche Annahme, dass das Judentum nur eine überlebte Form auf dem Weg zum Christentum sei. In ihrer Wirkung bedingen sich dabei Judentum und Christentum bei Geiger: Es gibt keinen christlichen Glauben ohne das Judentum, doch die Bedeutung des Judentums für die westliche Zivilisation hängt letztlich vom Erfolg seiner „Tochterreligionen“, des Christentums und des Islam, ab.

Adolf von Harnack versuchte im Jahr 1900 in seinen Vorlesungen über „Das Wesen des Christentums“ eine Antwort auf Geiger. Aus Harnacks Sicht ging es gar nicht darum, dass Jesus etwas Neues gelehrt habe. Wichtig war ihm, dass Jesu Lehren „rein“ und „kraftvoll“ verkündet wurden. Man müsse: „nicht an Jesus glauben, sondern wie er glauben, nämlich glauben an die Vaterliebe Gottes und den unendlichen Wert der Menschenseele“. Ein Zeitgenosse Harnacks, Paul Wernle, sagte es so: „Die Religionsgeschichte bewegt sich nicht in erster Linie dadurch vorwärts, dass ganz neue Gedanken auftauchen, sondern dadurch, dass mit alten Gedanken ein ganz neuer Ernst gemacht wird“ (vgl. Johann Hinrich Claussen, „Die Dornenkrone war nicht im Paket“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. Mai 2004). Wer aber Jesus als Revitalisierer versteht, läuft Gefahr, das Judentum zu pathologisieren. Dies hatte Wilhelm Bousset in einer Frühschrift getan, in der er die lebendige Botschaft Jesu vom morbiden Hintergrund der jüdischen Umwelt abzuheben suchte. Ernst Troeltsch hat seinen Freund dafür zu Recht kritisiert: Er habe „die Einzigartigkeit Jesu aus dem Doktrinären in das virtuell Persönliche des Lebensgefühls verlegt“, dabei aber „das Judentum absolut schwarz gemalt“.

Die jüdische Kritik im 19. Jahrhundert zum Beispiel von Joseph Eschelbacher oder Martin Schreiner entzündete sich hauptsächlich an Harnacks These von einem nachexilischen, religiös-nationalen Verfallsprozess Israels zum „Judentum“, die dieser von Julius Wellhausen übernommen hatte, und der aus dieser These resultierenden negativen Beurteilung des Verhältnisses zwischen dem Christentum und dem Judentum als seinem Ursprung. Die jüdische Theologie sah darin eine doppelte Negation des Judentums, das heißt des historischen wie auch des modernen, das ja nur als Teil des „Kontinuums“ der Geschichte des Judentums begriffen werden kann. Aus jüdischer Sicht waren vor allem zwei Gründe für dieses Fehlurteil verantwortlich: Zum einen die Nichtberücksichtigung der Forschungsergebnisse der Wissenschaft des Judentums, insbesondere der Arbeiten zur Beziehung zwischen Jesus beziehungsweise dem Urchristentum und dem zeitgenössischen Judentum (Gösta Lindeskog, Die Jesusfrage im neuzeitlichen Judentum. Ein Beitrag zur Geschichte der Leben Jesu-Forschung, Neuauflage, Darmstadt 1973). Zum anderen mangelnde Kenntnis der rabbinischen Literatur (zum Beispiel Harnacks Gleichsetzung von Halacha und Haggada).

Eine der nachhaltigsten Reaktionen auf die Aufsehen erregende Veröffentlichung der Vorlesungen Harnacks kam von Leo Baeck. Mit handfester Polemik versucht Baeck, aus der Kritik am Christentum, wie Harnack es in seinen Vorlesungen porträtiert hatte, die Grundlinien eines „Wesens des Judentums“ zu entwickeln. Für Baeck war Jesus „eine echt jüdische Persönlichkeit“. Harnacks Leugnung der jüdischen Bedingtheit dieser Gestalt wertet Baeck unter Bezug auf Abraham Geiger als typisches Beispiel der akademischen „Sonderbehandlung“ des Judentums. Er bemängelt die Missachtung, mit der Harnack jüdischer Wissenschaft und Literatur begegnet. Diese Vernachlässigung führt nach Baeck zu einer falschen Sicht des Judentums zur Zeit Jesu und zu einem Fehlurteil über die Pharisäer (Die Pharisäer, Berlin 1934). Gegen Harnacks Darstellung des Judentums zeichnet Baeck das Bild eines „geistigen“ und zutiefst universalen jüdischen Glaubens, der bestimmt ist von ethischen Maßstäben und dessen Frömmigkeit geprägt ist von guten Werken und von Vertrauen. Das „Wesen des Judentums“ liegt für ihn begründet im ethischen Monotheismus der Propheten.

Baecks Beschäftigung mit dem historischen Jesus ist exemplarisch für zahlreiche jüdische Versuche, die Lehre Jesu als integralen Bestandteil der jüdischen Tradition und Geschichte zu begreifen. Baecks Kritik am Christentum entfaltet sich dabei in einem Modell der „Polarität“: dem Gegensatz von „klassischer“ und „romantischer“ Religion und dem Spannungsverhältnis von „Geheimnis“ und „Gebot“ in jeder Religion. Aus dieser Polarität lassen sich dann die Bewertungskriterien für eine tiefer gehende Analyse von Judentum und Christentum ableiten. Für das Christentum identifiziert und unterscheidet Baeck zwei Hauptströmungen der Tradition: Paulus, Augustinus und Martin Luther repräsentieren das Element des „Geheimnisses“, die Domäne der romantischen Religion, – Jesus, Pelagius und Calvin das Element des „Gebots“, die Domäne der „klassischen Religion“. Während nun aber in den „klassischen“ Religionen, denen das Judentum zugerechnet wird, ein vollkommenes Gleichgewicht zwischen „Geheimnis“ und „Gebot“ herrscht, ist das Christentum überwiegend von Paulus und Luther geprägt und verkörpert daher die „romantische“ Religion, die dem Menschen ethische Gestaltungskraft letztlich abspreche. Baecks Typologie entreißt dem Christentum ganze Stützpfeiler, weist aber auch in eine wichtige Richtung zum Verständnis seines Anliegens: die Lehre vom Menschen. Denn nicht in der Person Jesu sei der Unterschied zwischen Judentum und Christentum zu sehen. „Der grundsätzliche Unterschied zwischen Judentum und Christentum, wie er von der paulinischen Theologie herkommt, hat seinen entscheidenden Ausgangspunkt in der Lehre vom Menschen. Es ist die alte biblische Auffassung, (...) dass der Mensch im Gleichnis Gottes geschaffen ist, dass damit eine schöpferische Kraft ihm innewohnt und die Fähigkeit der Entscheidung, die Freiheit ihm gegeben ist, so dass das Gottesgebot als sittliche Aufgabe vor ihn hintreten kann.“ Der Mensch kann in seinem Leben frei zwischen Gut und Böse entscheiden. Irrt er, so kann er umkehren. Und weil er es kann, daher soll er es. Dieser Anschauung steht die Gnadenlehre des paulinischen Christentums mit ihrer Erlösungsbedürftigkeit des Menschen klar entgegen. Und hier, im Bereich des Sittlichen und der Ethik, sei die eigentliche Kluft zwischen Judentum und Christentum zu sehen. So konstatierte gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Rabbinerverband Deutschlands, eine Vereinigung nicht-orthodoxer Rabbiner: solange Christen „an der Überlieferung der Inkarnation, der erlösenden Macht Jesu und an der Verwerfung des Gesetzes als grundlegendem geistigen und ethischen Prinzip festhalten, (...) wird das Christentum nicht frei sein von Elementen, die den Ansprüchen der Vernunft zuwiderlaufen, (...) und es ist unsere Aufgabe, aus dem Reichtum des reinen Monotheismus – und damit aus dem Reichtum reinster Sittlichkeit – etwas beizutragen zur menschlichen Kultur im Allgemeinen und zu unserer deutschen Kultur im Besonderen.“

Widerstand gegen eine autoritative Deutung des Christentums

Im Mittelpunkt des Streites aber stand die Frage nach der Messianität Jesu. Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang Harnacks Wendung, das Evangelium Jesu sei „nichts Neues“ gewesen, zitiert. In Anknüpfung an diese Aussage betonten die jüdischen Theologen und Wissenschaftler, die Elemente, die Juden- und Christentum voneinander scheiden, seien erst durch Paulus in das Christentum hineingetragen worden. Aus jüdischer Sicht waren das erstens die christliche Vereinnahmung Jesu durch die dogmatische Auslegung seiner Lehren im Sinne der Logos-Christologie; zweitens die Einschränkung des Konzeptes des Monotheismus durch die Lehre von der Trinität; und drittens die Entleerung des ethischen Gehalts der Verkündigung Jesu durch die Dogmatisierung. Die Entstehung des Dogmas wurde auf die Verdrängung des Judentums beziehungsweise des Judenchristentums durch das universale Christentum von Paulus’ Gnaden und die durch diesen Prozess in Gang gesetzte Entwicklung zurückgeführt. Das verweist nicht nur auf einen unwiderlegbaren Zusammenhang zwischen der jüdischen Position und der von Harnack vorgetragenen Dogmenkritik. Viel wichtiger ist, dass hier jüdische Kritik am paulinischen Christentum und liberale protestantische Theologie sich in ihrem Widerstand gegen die etablierte, autoritative Deutung des Christentums im Katholizismus und im konservativen Protestantismus treffen. Die Betonung zentraler Stiftergestalten in Religionen trifft auf jüdisches Missbehagen. Während für Harnack die Besonderheit des Christentums in der „Kraft der Persönlichkeit Jesu“ selbst liegt, setzt Hermann Cohens Kritik genau an dieser Frage an: Braucht Religion überhaupt die Bindung an eine Stiftergestalt? Auf dem „Weltkongress für freies Christentum und religiösen Fortschritt“ spricht er unter dem Titel „Die Bedeutung des Judentums für den religiösen Fortschritt“ (Jüdische Schriften, Band 1, Berlin 1924, 18–35) und sagt: „Alle Anknüpfung der Religion aber an eine Person setzt sie der Gefahr des Mythos aus. Denn der Grundsinn des Mythos ist die Personifikation alles Unpersönlichen. Darin bewährt sich die Unterscheidung, welche das Judentum überall vom Mythos an sich durchzuführen sucht, dass sie die höchste Tat, die sie von Gott erwarten kann, die Vereinigung seiner Kinder in Eintracht und Treue, durchaus nicht von einer Person erwartet.“ Die konstruktive jüdische Kritik an Harnack hob vor allem auf die Kontinuität zwischen vor- und nachexilischem Judentum und auf die daraus folgende konstitutive Beziehung zwischen Jesus und dem Judentum seiner Zeit ab. Gewährleistet diese Kontinuität doch – gerade auch im Blick auf den theologischen Gehalt –, dass das Judentum keineswegs als eine überflüssig gewordene Vorstufe des Christentums betrachtet werden kann, sondern vielmehr die heute noch entscheidende Basis für das Christentum darstellt. Die Belege für Jesu rabbinisch-jüdische Herkunft und seine profunden Kenntnisse in diesem Bereich dienten zugleich als Argument für die Existenzberechtigung eines modernen Judentums in der christlich dominierten Kultur der Gegenwart: „dass unserer Religion in einem jeden Kulturstaate mit den christlichen Konfessionen gleiches Recht, im Geistesleben der Kulturvölker Raum zugestanden und dass es anerkannt werde, dass sie eine Bereicherung des nationalen Geistes bedeutet“. Der Jerusalemer Bibelwissenschaftler Yehezkel Kaufmann (Goleh ve-Nekar, Tel Aviv 1929, 342) hat dies so umrissen: die Haltung Jesu zur Tora ist die gleiche wie die der Meister der Halacha und Haggada, die der pharisäischen Tradition folgten. Die Tora ist die ewig währende Basis ihrer eigenen Haltungen und Lehren, sogar wenn sie scharf von der wörtlichen Bedeutung abzuweichen scheinen. Jesus glaubte, dass seine Lehren nur eine Vervollständigung oder eine Verdeutlichung der Lehren der Tora seien, Wegweiser, die uns Menschen dazu einladen, wie wir leben und uns in ihrem Geist verhalten sollen.

Jüdische Herkunft als Teil der Heilsgeschichte

Die hier exemplarisch vorgestellten Argumente sind keineswegs vergangen. Auch moderne christliche Theologen stehen vor der Herausforderung zu erklären, wie Jesus etwas Neues stiften konnte, wenn sich für alles, was er gesagt und getan hat, jüdische Parallelen finden lassen. In seinem Buch „Die Religion der ersten Christen“ (2002) beschreibt der Heidelberger evangelische Theologe Gerd Theißen das Innovative bei Jesus als eine „Revitalisierung“ des Alten. Seine Originalität läge darin, das Alte „von einem zentralen Inhalt, dem Glauben an den einen und einzigen Gott, her neu belebt“ zu haben. Wir haben gesehen: Genau das war auch die Auffassung von Harnack und anderen im 19. Jahrhundert und sie bietet wiederum Anhaltspunkte für christlich-jüdische Verständigung, wenn sie jenseits des dogmatischen Anspruchs vom kerygmatischen Christus bleibt. Ganz unverfänglich jedoch ist sie nicht. Denn wenn man Jesus ein Mehr an Vitalität zuspricht, muss man dann nicht im Umkehrschluss seiner jüdischen Umwelt und dem sich daraus entwickelten modernen Judentum Lebendigkeit absprechen? Dem gegenüber steht die Sicht Samuel Sandmels (We Jews and Jesus, New York 1965), Professor am Hebrew Union College Cincinnati. Seiner Ansicht nach ermöglichen die neutestamentlichen Schriften gar keinen Blick auf den historischen Jesus, sondern geben nur einige karge Fakten. Einerseits war Jesus Lehrer, doch andererseits war dessen Lehre ohne erkennbare Originalität. Einerseits hielt Jesus sich für den Messias, doch andererseits starb er den römischen Märtyrertod. So gesehen ist aber der historische Jesus nicht fassbar, man könne über ihn nur berichten, was die Evangelisten über ihn schrieben. Diese Haltung vertritt auch Ernst Ludwig Ehrlich (Eine jüdische Auffassung von Jesus, in: Willehad Paul Eckert und Hans Hermann Henrix [Hg.], Jesu Jude-sein als Zugang zum Judentum, 1976, 35–49): Die neutestamentlichen Quellen sagen zu wenig über den Menschen und Juden Jesus aus, weil sie im Glauben und im Blick auf den Christus verfasst worden sind. Der historische Jesus kann durch die Rückfrage hinter das neutestamentliche Kerygma nicht ermittelt werden.

Zu dieser generellen Einschränkung Sandmels und Ehrlichs kommt eine Kritik an einigen Formen jüdischer Würdigung Jesu. Gegenüber einigen jüdischen Stimmen der Leben-Jesu-Forschung, die der Gestalt Jesu Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit zumessen, weist Sandmel mit Nachdruck darauf hin, dass diese Attribute für einen religiösen Juden allein Gott zukämen, jedoch niemals einem Menschen. Menschen aber können nach jüdischem Verständnis bestenfalls „groß“ sein. Solche „Größe“ misst Sandmel Jesus bereitwillig zu: „Nur ein Jude, der einzigartige Qualitäten auf sich vereinigt, könnte andere Juden von seiner Wiederauferstehung überzeugt haben.“ Damit ergibt sich für ihn folgendes Bild: Jesus war ein bedeutender Mann für seine Zeit, doch er war kein vollkommener Mensch, und auch als bedeutender Mann nimmt er keine Sonderstellung ein, denn das Judentum hat viele große Männer hervorgebracht. Irgendeine religiöse Würde kommt Jesus nicht zu, als Phänomen und fester Bestandteil der abendländischen Kultur sei er aber unübersehbar auch für Juden. Und Ehrlich fügt als Einsicht hinzu: „Das Judentum hat niemals den einen Lehrer gekannt, nur die Kette der Lehrer, den Strom der Tradition. Es hat sich stets dagegen gesträubt, einen einzigen Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.“

Die Leben-Jesu-Forschung von Christen und Juden kommt durch das Buch Benedikts XVI. in den Genuss ganz neuer Aufmerksamkeit. Denn Joseph Ratzinger ist der historische Jesus zu mager geworden, den die Wissenschaft der letzten zwei Jahrhunderte übrig gelassen hat. Interessant ist der jüdische Anlass: Das Buch „Ein Rabbi spricht mit Jesus“ von Rabbiner Jacob Neusner (München 1997). Die jüdische Beschäftigung mit Jesus kann also auch Christen motivieren, über Jesus nachzudenken, und sich daran zu erinnern, dass seine jüdische Herkunft kein kultureller Zufall war, sondern ein Teil der Heilsgeschichte (Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer des vatikanischen Kolloquiums über die Wurzeln des Antijudaismus im christlichen Bereich am 31. Oktober 1997, in: Hans Hermann Henrix und Wolfgang Kraus, Die Kirchen und das Judentum, Band 2: Dokumente von 1986–2000, Paderborn/Gütersloh 2001, 109). Dabei sollten wir in Erinnerung behalten, warum Juden anfingen, diesen Jesus näher kennen zu lernen: Juden wollten Juden bleiben und trotzdem Teil der christlichen Gesellschaft sein. Wie gut also, dass Jesus Jude war. Benedikt XVI. hat dem auferstandenen Christus gerade wieder neuen Glanz für die Kirche verliehen. Der jüdische Blick geht auf einen von uns, der es weit gebracht hat, als Mensch den Menschen Gottes Willen nahezubringen.

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