Wissenschaftliche Erkenntnisse über NahtoderfahrungenGleitflug ins Licht

Berichte über Nahtoderfahrungen lösen eine große Faszination aus. Ihre Deutung hängt stark von kulturellen und religiösen Vorstellungen ab. Sogar West- und Ostdeutsche berichten von unterschiedlichen Erfahrungen. Was steckt dahinter?

Tunnel ins Licht
© Jens Goetzke / pixelio.de

Von archaischer Neugier getrieben, möchte der Mensch seit jeher wissen, was nach seinem Ableben geschieht. Die vagen Hoffnungen, eine erschöpfende Antwort auf diese existenzielle Frage zu bekommen, erhalten in unseren Tagen neuen Auftrieb durch Schilderungen von Menschen, die sich in Todesnähe befunden haben und sogenannte Nahtoderfahrungen (NTE) gemacht haben. Das Versprechen, durch sie einen Einblick in eine andere Wirklichkeit, vielleicht sogar in das Jenseits, vermittelt zu bekommen, macht die Beschäftigung mit diesem Grenzbereich so attraktiv. Das war nicht immer so.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Nahtoderfahrungen begann, als Zweifel an jenen Jenseitsvorstellungen aufkamen, die der christlichen Tradition entsprangen. Von 1880 bis in die Dreißigerjahre interessierte sich vor allem die Parapsychologie für Spontanerfahrungen und Sterbebett-Visionen, wobei die Hypothese mitschwang, dass es ein Weiterleben nach dem Tode gebe. Nach einer Periode mangelnden Interesses (etwa 1930 bis 1960) erlebte die Forschung zu Nahtoderfahrungen eine Renaissance, nachdem sich Mediziner und Psychologen für dieses Forschungsfeld zu interessieren begannen.

Die Schweizer Ärztin Elisabeth Kübler-Ross vertrat nach Gesprächen mit Sterbenden die Meinung, dass der Übergang vom Leben zum Tod kein angsteinflößendes, sondern ein schönes Erlebnis sei. Von dieser veränderten Einstellung versprach sie sich eine Enttabuisierung und Humanisierung des Sterbens in unserer Gesellschaft. Der eigentliche Impetus für eine systematische NTE-Forschung ging aber von dem Buch des amerikanischen Psychiaters Raymond Moody mit dem Titel „Life after Life“ (New York 1975) aus, in dem er zahlreiche Berichte Wiederbelebter sammelte und analysierte. Deren frappierende Ähnlichkeit ließ ihn den Begriff „Near-Death Experiences“ prägen. Die charakteristischen Phänomene galten lange Zeit als Richtschnur für die empirische Forschung.

Viele erleben Ruhe und Gelassenheit, Freude und Frieden

Den wissenschaftlichen Diskurs haben sodann Untersuchungen an Patienten beflügelt, die nach einem Herzstillstand erfolgreich wiederbelebt wurden und von ihren Erlebnissen in Todesnähe berichten konnten (Pim van Lommel, Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung, Ostfildern 2009). Nur zögerlich begannen sich in jüngster Zeit auch die Religionswissenschaften und die Theologie mit dieser Thematik zu befassen.

Bis heute fehlt eine einheitliche Definition von Nahtoderfahrungen. Es ist lediglich ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von Merkmalen, ähnlich einer bestimmten Krankheit, die durch verschiedene Symptome gekennzeichnet wird. Doch so viel ist sicher: Es handelt sich um Berichte über außergewöhnliche Erfahrungen mit und ohne Bewusstseinsverlust in lebensbedrohlichen oder anderen außergewöhnlichen Zuständen und Lebenslagen. Sie besitzen allesamt ein hohes Maß an Authentizität.

Die bekanntesten und am häufigsten berichteten Wahrnehmungen und Erlebnisse sind positive Gefühle (bei rund 60 Prozent der Betroffenen): Ruhe, Gelassenheit, Frieden; außerkörperliche Erfahrungen (50 Prozent): Eindrücke, sich selbst von außerhalb des Körpers wahrzunehmen, meist aus einer geringen Distanz, oder dass die Welt von einer erhöhten außerkörperlichen Position wahrgenommen wird (zum Beispiel der Blick über eine Trennwand im Operationssaal auf dahinter liegende Dinge); das Gefühl zu fliegen, zum Beispiel durch einen Tunnel; Lichterscheinungen: Erlebnis von intensiver Helligkeit, umgrenzten Lichtorten oder visionäre Begegnungen mit Licht; Begegnungen (alle jeweils 33 Prozent): Zusammentreffen mit längst verstorbenen Bekannten oder Freunden; Lebensrückblick in einer Art Lebensfilm (20 Prozent): wichtige Stationen des Lebens, positive wie negative, ziehen im Zeitraffer an den Betroffenen vorüber.

Ein wichtiger Ordnungsversuch, der zum Standardinstrument der NTE-Forschung wurde und Eingang in einen Fragebogen fand, stammt von Bruce Greyson. Er erfasst kognitive (Änderungen von Zeitgefühl und Gedankenfluss, Lebensrückblick, Offenbarungen), affektive (Lichterfahrungen, Gefühle von Freude, Frieden und kosmischer Einheit), paranormale (außersinnliche Wahrnehmungen, Präkognitionen, Außerkörper-Erfahrungen) und transzendentale Merkmale (Begegnung mit mystischen Wesen oder Geistern).

Repräsentative Befunde sind äußerst selten. Eine Erhebung des Gallup-Instituts in den USA und eine in Deutschland durchgeführte Studie (Ina Schmied-Knittel, Hubert Knoblauch und Bernt Schnettler, Todesnäheerfahrungen in Ost- und Westdeutschland, in: Todesnähe. Interdisziplinäre Zugänge zu einem außergewöhnlichen Phänomen, Konstanz 1999, 217–250) sprechen von vier bis fünf Prozent der Bevölkerung, die schon einmal eine Nahtoderfahrung gemacht haben. Keinen Einfluss haben erstaunlicherweise Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Beruf, sozioökonomischer Status oder religiöser Hintergrund. Besonders stark streuen die Häufigkeitsangaben bei klinischen Untersuchungen. Hier schwanken die Angaben zwischen sechs und 40 Prozent. In jüngerer Zeit untersuchten Pim van Lommel und seine Mitarbeiter 344 reanimierte Patienten nach einem Herzinfarkt. Von ihnen konnten sich nur 18 Prozent an eine Nahtoderfahrung erinnern; 12 Prozent berichteten von typischen Erfahrungen wie Tunnel-, Licht- und Schwebe-Erlebnissen.

Der Begriff „Nahtoderfahrung“ legt nahe, dass die geschilderten Erlebnisse vorwiegend in Todesnähe auftreten. Dies ist aber nicht der Fall. Es gibt zahlreiche, sehr unterschiedliche Auslöser dafür, wie zum Beispiel Verkehrsunfälle, intraoperative Zwischenfälle, neurologische Erkrankungen, kardiologische Komplikationen, Geburt, Suizidversuche oder Meditationseffekte. In einer repräsentativen Erhebung in Deutschland gab etwa die Hälfte der Befragten an, sich in einer wirklich lebensbedrohlichen Situation befunden zu haben. Nur sechs Prozent waren sich sicher, klinisch tot gewesen zu sein, wobei sich ihr Urteil mehr an ihrer subjektiven Verfassung als an einem objektiven klinischen Befund orientierte.

Offen ist nach wie vor die zentrale Frage, ob sich die Nahtoderfahrungen intensivieren, je näher die Betroffenen an die Grenze zum biologischen, das heißt irreversiblen Tod gekommen sind. Nach heutiger Sicht genügt für die Entwicklung allein schon der subjektive Eindruck und die Überzeugung, dem Tode nahegekommen zu sein.

Historische, ethnologische und soziokulturelle Untersuchungen haben stets die große Bandbreite von Nahtoderfahrungen betont; ihre Ausgestaltung und Deutung hängt größtenteils von kulturellen Einflüssen ab, zum Beispiel den Jenseitsvorstellungen (vgl. Knoblauch, Berichte aus dem Jenseits. Mythos und Realität der Nahtod-Erfahrung, Freiburg 1999).

Während Begegnungen mit anderen Wesen und Lebensräumen beispielsweise ein allgemeines Merkmal zu sein scheinen, tauchen die Tunnel-Erfahrungen und der Lebensrückblick vorwiegend in christlichen und buddhistischen Kulturen auf. Bei den Ureinwohnern von Nordamerika, Australien und den pazifischen Inseln sind sie dagegen äußerst selten.

Es spricht also kaum etwas für die vielfach geäußerte Behauptung, bei Nahtoderfahrungen handle es sich um invariante, universale Phänomene (im Sinne einer philosophia perennis). Selbst innerhalb eines Kulturraums sind die Variationen beträchtlich (Schmied-Knittel, Nahtod-Erfahrungen, in: An den Grenzen der Erkenntnis. Handbuch der wissenschaftlichen Anomalistik, Stuttgart 2015, 164–176).

Dies zeigte sich auch in Deutschland bei einem Vergleich von West- und Ostdeutschen. So gab es etwa negative Erfahrungen sehr viel häufiger unter Ost- als unter Westdeutschen (60 Prozent beziehungsweise 28,6 Prozent). Seltener waren bei Ostdeutschen Außerkörper- und Lichterfahrungen sowie das Gefühl, sich in einer anderen Welt zu befinden. Unterschiede gab es auch in den Deutungsmustern. Die Herkunft der Nahtoderfahrungen deuteten die Ostdeutschen meist nicht-religiös, das heißt agnostisch und atheistisch. Anders die Westdeutschen: Sie bevorzugten „volksreligiöse“ oder „neureligiöse“ Interpretationen, was eher für eine christlich geprägte Weltsicht spricht. Die Berichte sind also geprägt durch die Art und Weise, wie persönliche Erlebnisse entstehen und wie sie auf dem Hintergrund kommunikativ vermittelten Wissens, zum Beispiel über das Sterben, den Tod und das Jenseits, gedeutet und berichtet werden.

Ein erstaunliches Phänomen ist, dass die Berichte vorwiegend positiver Natur sind, und dies, obwohl sich viele Betroffene in lebensbedrohlichen Situationen befunden haben. Negativ gefärbte Erlebnisse (alptraumartige Visionen, Begegnungen mit Dämonen, Gefühle von Angst, Panik oder Trostlosigkeit) sind mit ein bis zehn Prozent relativ selten (Nancy Evans Bush, Dancing past the dark. Distressing near-death experiences, Cleveland 2012).

Naturwissenschaftliche Erklärungsversuche

Nahtoderfahrungen können die Lebensgestaltung zutiefst berühren. Interviews zwei oder acht Jahre nach der Reanimation eines Herzstillstandes ergaben, dass die Angst vor dem Sterben und dem Tod nachließ, dass sich die Einstellung zu gewohnten Lebenszielen veränderte und eine tiefere Spiritualität erwuchs. Es waren gerade diese transformatorischen Effekte, die ein gewaltiges Medienecho hervorriefen und die Jenseitshoffnungen beflügelten.

Die bittere Nachricht aber ist, dass diese empirischen Befunde aus Längsschnittstudien nur auf ein paar wenigen Personen beruhen – in den immer wieder herangezogenen Publikationen stets weniger als zehn (vgl. van Lommel, 2009). Von einem belastbaren Befund kann also keine Rede sein.

Die internationale experimentelle Langzeitstudie „AWARE“ (Sam Parnia u.a., AWARE-Awareness during Resuscitation. A prospective study, Resuscitation 2014, 85: 1799–1805) galt der Frage, ob es während der Bewusstlosigkeit und in der Reanimationsphase von Patienten mit Herzstillstand Außerkörper-Erfahrungen geben kann, ob sie sich also an Personen oder Gegenstände erinnern können, die während ihrer Bewusstlosigkeit um sie waren und die sie von oben, von außerhalb ihres Körpers, gesehen haben.

In 25 Kliniken wurden 2060 Patienten untersucht. Die Anzahl derer, die nach der Reanimation interviewt werden konnten, war mit fünf Prozent überraschend gering. Nahtoderfahrungen hatten nur sieben Patienten, und lediglich zwei Patienten berichteten, die Bilder gesehen zu haben, die oberhalb ihres Körpers von den Studienleitern angebracht waren. Außer der Frage, wie sinnvoll und den Regeln klugen psychologischen Experimentierens gemäß eine solche Studie überhaupt ist, bleibt offen, was damit eigentlich erklärt oder sogar bewiesen werden sollte: ein nicht-ortsgebundenes Bewusstsein, ein nicht-stofflicher Körper oder eine neue bislang unbekannte Daseinsform?

Naturwissenschaftliche Erklärungsversuche aus Neurologie, Biologie und Psychologie sehen in hirnfunktionellen Veränderungen die Hauptursache. Unter mehreren Erklärungsversuchen stehen vor allem drei Hypothesen zur Diskussion (Einzelheiten bei Dieter Vaitl, Veränderte Bewusstseinszustände. Grundlagen – Techniken – Phänomenologie, Stuttgart 2012).

Die sogenannte Hypoxie-Hypothese lautet: Nahtoderfahrungen entstehen durch eine Mangelversorgung des Gehirns mit Sauerstoff (Hypoxie). Dies geschieht in der Regel bei einem Herzstillstand. Über verschiedene Botenstoff-Systeme im Gehirn kommt es zu einer plötzlichen und intensiven Steigerung des Wachheitsgrades des Gehirns und zu Enthemmungsprozessen, die denen gleichen, die bei Fieber, Anästhesie oder unter psychotropen Drogen auftreten.

Eine Vielzahl ungelöster Fragen

Damit erklärt man die Überwachheit, die Beschleunigung der Gedanken und Bilder sowie den filmartig ablaufenden Lebensrückblick. Ähnliche Erfahrungen treten auch bei einem erhöhten arteriellen Partialdruck von Kohlendioxid (Hyperkapnie) auf. Durch die dadurch veränderten Blutgas-Verhältnisse im Gehirn können Lichterscheinungen, Außerkörper-Erfahrungen und mystische Visionen entstehen.

Laut der Schläfenlappen-Hypothese treten bei Stimulation des rechten Schläfenlappens Erlebnisse der Außerkörperlichkeit auf. Werden tiefere Strukturen gereizt, führt dies darüber hinaus zu Schwebegefühlen, mystischen und religiösen Erlebnissen. Nach oder während eines traumatisierenden Ereignisses werden körpereigene Opiate (Endorphine), Neurotransmitter (Botenstoffe) oder beide freigesetzt, wodurch Schmerzfreiheit, Euphorie und Abspaltungserlebnisse entstehen, während gleichzeitig die Sauerstoffspannung im Gehirn abnimmt. Diese beiden Vorgänge führen in ihrer Kombination zu epilepsieähnlichen Entladungen in Strukturen des Schläfenlappens. Dadurch kommt es zu komplexen Halluzinationen und dem Lebensrückblick. Breiten sich diese Entladungen in weitere Hirnareale aus, entstehen neue Halluzinationen (Lichtsensationen, Tunnel-Erfahrung, Begegnung mit außerirdischen Wesen und religiösen Figuren).

Zuletzt gibt es die Neurotransmitter-Hypothese: Dies ist insofern eine partikuläre Hypothese, als sie sich nur auf ein einziges Rezeptoren-System im Gehirn beschränkt und dessen Interaktion mit anderen weitgehend außer Acht lässt. Hierbei spielt der Botenstoff Ketamin eine wichtige Rolle. Durch ihn lassen sich experimentell Tunnel-Erfahrungen, Lichterscheinungen oder Kommunikation mit mythischen Wesen im Sinne einer Modell-Psychose erzeugen.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass bis heute noch kein neurobiologisches Modell existiert, das die Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Nahtoderfahrungen zufriedenstellend erklären würde. Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Einer der schwerwiegendsten ist, dass sich die Forschung immer nur auf einige wenige Merkmale konzentriert hat. Außerdem fehlt ihr die Orientierung an neueren Modellen zur Dynamik von Hirnprozessen, wie sie für veränderte Bewusstseinszustände charakteristisch sind.

Auch psychologische Erklärungsansätze werden vorgeschlagen. Deren Grundgedanken entstammen überwiegend der klassischen Psychoanalyse. Der Mensch könne nicht akzeptieren, dass er sterben muss, und schaffe sich – als Abwehrmaßnahme – eine Gegenvorstellung wie die Vorspiegelung, dass der Geist die Körperhülle verlassen könne und so nicht mehr durch den Tod gefährdet sei. Die akute Krisensituation versetze den Organismus in einen Alarmzustand, der zu einer Übererregung der Wahrnehmungsprozesse führe und diese so von der Wahrnehmung der realen Krisensituation abspalte.

Diese Depersonalisationstheorie, die normale Abwehrprozesse beschreibt, erklärt die Nahtoderfahrungen wohl kaum; denn die Depersonalisationserlebnisse der Betroffenen sind keineswegs von unangenehmen Gefühlen des Realitätsverlustes gekennzeichnet, vielmehr empfinden sie diese als angenehm und real. Grotesk mutet schließlich die Erklärung der Tunnel-Erlebnisse an, die eine Erinnerung an die Passage durch den Geburtskanal darstellen würden.

Allein die subjektive Evidenz soll der Garant für die Echtheit sein

Die wissenschaftliche Ergründung von Nahtoderfahrungen steht heute vor einer Vielzahl ungelöster, vielleicht sogar unlösbarer Fragen. Ein zentrales Problem stellen die Berichte selbst dar. Man weiß heute, dass nur ein winziger Bruchteil der Betroffenen alle Phasen, wie sie beispielsweise von Moody beschrieben worden sind, durchlebt hat. Unklar ist ferner der Entstehungszeitpunkt der Berichte.

Die Nahtoderfahrungen können nicht auftreten, so die Meinung der Neurologen, wenn die Patienten, zum Beispiel während eines Herzstillstandes, bewusstlos werden, denn dieser Vorgang läuft in Sekundenschnelle ab. Ebenso wenig können sie in der Erholungsphase nach der Wiederbelebung auftreten, denn hier kommt es in der Regel zu Verwirrtheitszuständen, konfusen Denk- und Vorstellungsvorgängen. Dies hat nichts zu tun mit der Klarheit des Bewusstseins und der Gedanken, wie sie für die berichteten Nahtoderfahrungen bezeichnend sind. Es gibt also bis heute noch keine befriedigende Lösung der offensichtlichen Diskrepanz zwischen den objektivierbaren physiologischen Beeinträchtigungen und den durchweg positiv getönten Erlebnisberichten.

Die bisherigen Erklärungsversuche sind mehr oder weniger spekulativ und beruhen auf einer sehr schmalen empirischen Basis. Aber nicht nur diese Tatsache sollte zur Spekulationsabstinenz mahnen. Es gibt noch andere schwer zu kontrollierende, ergebnisverzerrende Störfaktoren wie etwa die Pseudo-Erinnerungen der Betroffenen und die Suggestionen der Interviewer. Außerdem fällt auf, dass die Schilderungen reanimierter Patienten immer präziser werden, je weiter die Nahtoderfahrungen zurückliegen. Dies führt zwangsläufig zu nicht enden wollenden Diskussionen über die Art und Weise, wie der Mensch seine ungewöhnlichen Erlebnisse deutet und in den Erfahrungsschatz seiner Lebensgemeinschaft einspeist.

Gerne wird die Wissenschaft dazu benutzt, dem Jenseitsglauben und seinen Vertretern belastbares Material zu liefern, vielleicht sogar dazu verführt, am Beweisspektakel teilzunehmen. Dies geschieht in der Regel so, dass das Fehlen eines wissenschaftlich objektivierbaren Beleges für Nahtoderfahrungen leichtfertig schon als „Beweis“ für eine andere, vielleicht jenseitige Wirklichkeit genommen wird, die sich eben nicht mit den vorhandenen materialistischen Wissenschaftsmethoden erfassen lässt. Diese Art von Denkfehlern findet sich zuhauf in der esoterischen Erbauungsliteratur.

Aber Denkfehler finden sich auch in der wissenschaftlichen Literatur. Da der Zusammenhang zwischen klinischem Tod und Nahtoderfahrungen nicht belegt ist, in den medizinischen Studien aber immer wieder unterstellt wird, ist diese Tautologie nicht zu widerlegen. Wenn man ferner davon ausgeht, dass sie immer dieselbe Merkmalsstruktur aufweist, wird auch nur nach dieser gefragt (zum Beispiel in der Interviewstudie). So kann sie niemals falsifiziert werden, dies aber zu ermöglichen, ist ein Methodenpostulat jeder guten wissenschaftlichen Praxis. Auch wenn man moderne Theorien wie die Quantentheorie zur Erklärung eines vom Körper losgelösten „erweiterten“ Bewusstseins heranzieht, wie Pim van Lommel es tut, bleiben nach wie vor ernste Zweifel an der Zuverlässigkeit der Ausgangsdaten, nämlich der Schilderungen von Nahtoderfahrungen.

Die Existenz eines Jenseits kann dadurch kaum bewiesen werden

Einzig und allein die subjektive Evidenz, die die Erlebnisse für die Betroffenen besitzen, soll der Garant für deren Echtheit sein. Wenn damit aber die Existenz eines Jenseits bewiesen werden soll, wie dies die Thanatologie unserer Tage im Vergleich zur christlichen Theologie weniger zurückhaltend tut, kommt es seitens dieser Jenseitsforscher gleichfalls zu thematischen und konzeptuellen Verhärtungen, die man sonst der materialistisch-naturwissenschaftlichen Weltsicht obstinat zum Vorwurf macht.

Jenseits der verschiedenen erkenntnistheoretischen und weltanschaulichen Positionen (religiös-ontologische, skeptische, parawissenschaftliche und agnostische) birgt die Ergründung von Nahtoderfahrungen neue Erkenntnisquellen. Sie zählen zu den spontanen Bewusstseinsveränderungen und gewähren – unabhängig von der Todesnähe und bei hoher Affinität zur Mystik – Einblicke in mögliche Grenzüberschreitungen unserer Alltagswelt (vgl. Vaitl, 2012). Sie können wie jede religiöse und außergewöhnliche Erfahrung neue Erkenntnisse zutage fördern: individuell, indem sie Transformationen des Bewusstseins in Gang setzen, und wissenschaftlich, indem sie zu alternativen Weltmodellen anregen.

Auch im gesellschaftlichen und multidisziplinären Diskurs gewinnen sie immer mehr an Bedeutung: in der Wissenschaft (Bewusstseinsforschung, kontemplative Neurowissenschaft, Anomalistik), Spiritualität (Ars moriendi, Theologie, Transpersonale Psychologie) und in der Versorgung (Notfall-Medizin, Palliativmedizin, Thanatopsychologie). Dahinter möge das unverzichtbare Desiderat stehen, dass wir metaphysisch Unbehausten wieder zum Nachdenken über die Grenzen unserer Erkenntnis und zum Bestaunen des Geheimnisvollen zurückgelangen.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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