Das Zusammenleben von Menschen verschiedener kultureller und religiöser Prägung gehört zum Alltag des indischen Lebens. In jüngster Zeit ist in den Medien immer wieder von Auseinandersetzungen und Gewaltakten die Rede, die von radikalen religiösen Gruppen ausgehen und sich gegen Angehörige anderer Religionen richten. Passiv betroffen sind immer häufiger indische Christen, die mit 2,3 Prozent Anteil an der Bevölkerung eine kleine Minderheit sind. In den letzten beiden Jahren beherrschten Berichte über Angriffe von radikalen Hindugruppen gegen Christen im Bundesstaat Orissa im Norden Indiens und in einigen anderen Bundesstaaten die Schlagzeilen und erweckten den Eindruck, als ob das interreligiöse Zusammenleben in Indien fast ausschließlich von Gewalt bestimmt sei.
Dieses Bild ist aber nur zum Teil zutreffend. Denn auch heute gilt noch, dass im indischen Subkontinent, anders als im mehr säkularisierten Europa und Nordamerika, die Religionen gesellschaftlich und weltanschaulich bestimmende Kräfte geblieben sind. Überall in Indien finden sich Tempel, Moscheen, Kirchen und andere heilige Orte, die täglich von Tausenden von betenden Menschen und Pilgern besucht werden. Die meisten Inder verbindet diese Haltung der Ehrfurcht vor dem Heiligen, die sich in allen Religionen Indien findet, mehr als das Herausstellen der Unterschiede unter den verschiedenen Glaubenstraditionen.
Die vorrangige Frage ist nicht so sehr, wie wir uns von den anderen unterscheiden, sondern: Was verbindet uns und was haben wir gemeinsam in unserem Glauben, im Gebet, in Meditation und in den Ritualen? In diesem holistischen Ansatz drückt sich auf der einen Seite die Sehnsucht nach Harmonie aus, auf der anderen Seite führt sie oft zu einer synkretistischen Vermischung von Elementen verschiedener religiöser Traditionen. So ist beispielsweise die Religion, die wir heute Hinduismus nennen, lebendiger Ausdruck dieser Tendenz, Elemente aus verschiedenen Traditionen zu verbinden.
In Indien bestehen viele informelle Kontakte zwischen Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit in der alltäglichen Begegnung, im respektvollen Umgang mit den Verschiedenheiten in Religion und Weltanschauung, in Glückwünschen zu den jeweiligen Festen und manchmal auch im gemeinsamen Feiern derselben. Diese grundlegende Achtung vor der ethnischen, kulturellen und religiösen Verschiedenheit und Vielfalt bildet eine immer noch weitgehend von der Mehrheit der Inder geteilte Grundüberzeugung. In ihr zeigt sich das typisch indische Verständnis einer „säkularen Gesellschaft“, die eine Chance eröffnet, dass Menschen verschiedener ethnischer, kultureller und religiöser Zugehörigkeit ohne die Dominanz nur einer Gruppe miteinander friedlich leben können.
Im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils haben die in der „Vereinigung Asiatischer Bischofskonferenzen“ (FABC) zusammenarbeitenden katholischen Kirchen in Asien den interreligiösen Dialog, neben der Aufgabe der Inkulturation und der Option für die Armen, zur zentralen Aufgabe der katholischen Kirchen in Asien erklärt. Die indischen Bischöfe unterstützen diese Ausrichtung der FABC, wenn sie erklären: „Interreligiöser Dialog ist nicht nur eine kirchliche Tätigkeit unter anderen. Der Dialog ist vielmehr eine konstituierende Dimension für das Leben und die Mission jeder authentischen Ortskirche. In Übereinstimmung mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil bedeutet Kirchesein heute, eine Glaubensgemeinschaft im Dialog mit anderen Religionsgemeinschaften zu sein.“
Seit 1966 gibt es eine nationale Kommission, die ursprünglich „Kommission für den Dialog mit anderen Religionen und Nicht-Gläubigen“ hieß, seit 2005 die Bezeichnung „Kommission für Religiöse Harmonie“ trägt und ihren Sitz bei der Katholischen Bischofskonferenz Indiens (CBCI) hat. In den Regionen und Diözesen, sowie in den verschiedenen Ordensgemeinschaften gibt es ähnliche Kommissionen, die mit der nationalen Einrichtung in Delhi zusammenarbeiten.
Seit 2005 hat die nationale Kommission ein neues Leitbild, das ihre Aufgabe so umschreibt: „Verwurzelt in den Werten, die Jesus gebracht hat und in Antwort auf den Kontext unserer Zeit, setzt die Kommission für Religiöse Harmonie der katholischen Bischofskonferenz Indiens sich für den Aufbau einer Gesellschaft ein, in der religiöse, ethnische, kulturelle, ideologische und andere Identitäten und Traditionen Indiens durch die schöpferische Interaktion zur Förderung von Harmonie und das Wohlergehen aller angenommen und gefördert werden.“ Als Verhaltenskodex im aktuellen Dialog werden „guter Wille“, „Begegnung auf der Basis von Gleichheit“, „gegenseitiger Respekt“, „Bereitschaft zur Kooperation“ und „Einsatz für Harmonie“ gefordert.
Der aktuelle Dialog soll sich in einer herrschaftsfreien Begegnung im gegenseitigen Miteinander vollziehen, wobei es darauf ankommt, dem jeweils anderen Spiegel zu sein und gemeinsam mit den Angehörigen der anderen Religionen sich auf die Pilgerschaft zum letzten Ziel zu machen. In einer Vielzahl von Konferenzen und Schulungsangeboten für verschiedene Alters- und Lebensgruppen versucht die Kommission, das Anliegen des Dialogs und den Aufbau einer harmonischen Gesellschaft möglichst weit zu verbreiten.
Dabei liegt der Schwerpunkt nicht mehr in erster Linie auf den Austausch von religiösen und theologischen Inhalten, sondern eher auf einem Dialog des Lebens, in dem eine Vielzahl von Aspekten wie Kunst, Musik, Theater zur Sprache kommen, die den eher formellen Dialog über religiöse Inhalte, Riten und heilige Schriften ergänzen und fruchtbar machen. Die Kommission für Harmonie gibt eine eigene Zeitschrift „Fellowship“ heraus, die mit einer Auflage von 10 000 Exemplaren halbjährlich erscheint und Angehörige verschiedener Religionsgemeinschaften und gesellschaftlicher Gruppierungen erreicht.
Der Dialog mit den Hindus hat Vorrang
In Indien liegt für die Christen der Schwerpunkt des interreligiösen Dialogs traditionell auf dem Dialog mit den Hindus, die mit 80 Prozent Anteil an der Bevölkerung eindeutig die Mehrheitsreligion des Landes stellen. Als christliche Theologen in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich für den interreligiösen Dialog öffneten, waren daher ihre ersten und vorrangigen Partner Hindus. Bei ihren Versuchen, das Christentum in indische kulturelle und religiöse Traditionen zu inkulturieren, suchten indische Theologen ihre Anknüpfungspunkte vorrangig und fast ausschließlich in hinduistischen Traditionen.
D.S. Amalorpavadass (1932–1990), der Pionier auf dem Gebiet der Inkulturation in der indischen Kirche und Gründer des „Nationalen, Biblischen, Katechetischen und Liturgischen Institut“ (NBCLC) in Bangalore, suchte seine Vorgaben ganz selbstverständlich in der hinduistischen Tradition der Brahmanen. Bei den Ansätzen, eine indische inkulturierte Liturgie zu entwickeln, wurden von ihm und den mit ihm zusammen arbeitenden Theologen Elemente aus der hinduistischen Tradition aufgegriffen. An die Stelle von Kerzen traten Öllampen, im liturgischen Gesang wurden das wiederholende Singen von Bhajan eingeführt, der zelebrierende Priester hockte auf dem Boden vor einem aus einem niedrigen Tisch bestehenden Altar in einer hinduistischen Sanyasis nachempfunden liturgischen Kleidung.
In Indien sind in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Dialogzentren entstanden, darunter mehrere in der Form christlicher Ashrams. Die katholische Ashram-Bewegung versucht durch die Aufnahme von Elementen aus hinduistischen Traditionen des monastischen Lebens, der Meditation und eines ökologischen Lebensstils einen Beitrag zu einer Indisierung des katholischen Ordenslebens zu geben. In diesem Jahr wird in Indien und im Ausland des 100. Jahrestags der Geburt von Henri Le Saux (1910–1973), besser bekannt unter dem von ihm angenommenen Namen Abishiktananda, gedacht, der 1950 zusammen mit Jules Monchanin (1895–1957) in Kulithalai in der Nähe von Tiruchirappalli den Shantinavam-Ashram errichtete.
Nachfolger von Abishiktananda als Ashram-Meister (Acharya) des Shantinavam-Ashrams wurde der englische Benediktiner Bede Griffiths (1906–1993), unter dessen Leitung der Ashram sich der benediktinischen Camaldoli-Kongregation anschloss und so eine größere institutionelle Stabilität erlangte. 1957 gründete der aus Belgien stammende Zisterzienser Francis Maheu in den Bergen Keralas den Kurisumala-Ashram, in dem die Liturgie im syro-malankarischen Ritus gefeiert wird. Der schon 1928 von Jack Winslow, einem anglikanischen Missionar, in Puna gegründete „Christa Prema Seva Ashram“ wurde 1972 als ökumenische Einrichtung von anglikanischen und katholischen Ordensschwestern neu belebt. Die erste Leiterin (Acharya) wurde Vandana Mataji von den Schwestern vom Heiligen Herzen Jesu, die später in Rishikesh den Jivandhara-Ashram gründete.
Zu einem wichtigen Dialogzentrum wurde der Maitri-Bhavan, der von dem indischen Jesuiten Ignatius Puthiadam zusammen mit der Indischen Missionsgesellschaft in den achtziger Jahren in Varanasi, der heiligen Stadt der Hindus, gegründet wurde. Die Kongregation der Franziskanischen Missionarinnen Mariens unterhält seit 1986 den Ishalaya-Ashram, der zunächst in Chennai angesiedelt war und dann im Jahr 2000 nach Palamaner im Bundesstaat Andhra Pradesh umsiedelte. Nach dem Vorbild des Heiligen Franziskus bemüht sich dieser Ashram um die Entwicklung einer Spiritualität der Geschwisterlichkeit, die sich für Frieden und Harmonie mit allen Menschen und mit dem Gesamt des Kosmos einsetzt, indem sie Meditation mit sozialem Einsatz verbindet.
Die indischen Karmeliten unterhalten seit 1980 in Coimbatore das interreligiöse Zentrum „Divyodaya“, das Programme für die Schulung von Jugendlichen im interreligiösen Dialog, aber auch im sozialem Engagement sowie Forschungsprojekte durchführt. Einen bemerkenswerten Beitrag zum Dialog leistete der ebenfalls zu den indischen Karmeliten gehörende George Koovackal, der die „Gemeinschaft der Boten des Friedens und der Harmonie“, eine ordensähnliche Gemeinschaft für Brüder und Priester, gründete, die 2006 vom Erzbischof von Delhi zunächst als „fromme Vereinigung“ anerkannt wurde und bei Erreichung der Zahl von 40 Mitgliedern kirchenrechtlich als religiöse Kongregation anerkannt werden kann.
Ziel der Gemeinschaft ist es, das Anliegen des interreligiösen Dialogs in der indischen Kirche zu fördern und wach zu halten. In Bangalore unterhalten die Jesuiten seit 1974 den Ashirvad-Ashram als „Bewegung für interreligiöse Harmonie“. 1977 wurde die katholische Ashram-Vereinigung (Ashram Aikiya) gegründet, um die Zusammenarbeit und den spirituellen Austausch unter den Ashrams zu fördern.
Viele Entwicklungen und Veränderungen im interreligiösen Dialog lassen sich am Schicksal des Aikiya Alayam Ashram festmachen. Gegründet wurde er in den frühen siebziger Jahren vom Jesuiten Ignatius Hirudayam in Madras, heute Chennai, als Zentrum für Inkulturation und interreligiösen Dialog. Im Ashram lebten, meditierten und studierten mehr oder weniger dauerhaft Ordensleute beiderlei Geschlechts. Indischen und ausländischen Forschern wurde die Gelegenheit geboten, Studien zu den verschiedenen Religionen durchzuführen. Auch eine Schule für südindische klassische Musik und Tanz befand sich auf dem Gelände. Hiruduyam war auch ein Pionier in der Entwicklung neuer Formen tamilischer Liturgie, für die er Texte schrieb und vertonte, wobei er aus den Schätzen der klassischen indischen Kultur und Spiritualität schöpfte.
Um den Ashram bildete sich eine Dialoggruppe von Christen und vorrangig Hindus, die sich regelmäßig traf, miteinander diskutierte und auch neue Formen gemeinsamen Gottesdienstes entwickelte. Aikiya Alayam Ashram war in seiner Aus–richtung auf das Gespräch mit der klassischen Tradition der indischen Hochkultur und des Hinduismus brahmanischer Prägung ein Musterbeispiel für die Orientierung der ersten christlichen Ashrams in Indien.
Mit dem Tod von Ignatius Hirudayam, der mit seiner starken Persönlichkeit den Ashram geprägt hatte, endete auch die Periode, in der der christlich-hinduistische Dialog in erster Linie ein Dialog mit der hinduistischen Hochkultur brahmanischer Provenienz war. Um dem Wandel im interreligiösen Klima in Indien Rechnung zu tragen, wurde die Form des Ashram-Lebens aufgegeben und die Gebäude in ein „Institut für den Dialog mit Kulturen und Religionen“ umgewandelt und zum Sitz der regionalen theologischen Ausbildungsstätte der tamilischen Jesuiten bestimmt. Der Dialog, der in der Vergangenheit sich oft an historisch überholten und idealisierten religiösen Vorstellungen orientiert hatte, wurde abgelöst durch die Behandlung von Themen, die sich mit dem aktuellen Verhältnis der Religionsgemeinschaften befassten.
Die Teilnehmer des interreligiösen Dialogs kommen jetzt nicht mehr ausschließlich aus der religiösen Elite, sondern umfassen auch Aktivisten aus den sozialen und politischen Gruppen, die bunt gemischt aus Angehörigen der höheren Schichten, aber auch aus Kastenlosen bestehen. In Antwort auf die Zunahme religiös motivierter Gewalt konzentriert das Institut seine Arbeit vornehmlich auf die Untersuchung des Zusammenhangs von Religion und Gewalt.
In jüngster Zeit ist die christliche Ashram-Bewegung in die Kritik geraten. Der häufigste Vorwurf gegen die Ashram-Bewegung ist, dass sie eine Fluchtbewegung vor den Härten der gegenwärtigen indischen Gesellschaft darstelle und sich zu wenig mit den aktuellen sozialen, wirtschaftlichen, politischen und religiösen Spannungen und Herausforderungen auseinandersetze. Oft wird auch kritisiert, dass in den christlichen Ashrams zu viele Elemente aus der hinduistischen Tradition der Brahmanen übernommen würden.
Christliche Ashrams in der Kritik
Die kritischen Stimmen kommen vor allem aus den Reihen der Dalits, der Kastenlosen, die in der katholischen Kirche mit etwa 70 Prozent die größte Gruppe darstellen. Die Dalits bemängeln, dass die indischen Theologen bei ihren Bemühungen um die Inkulturation des Christentums in Indien zu unkritisch Elemente aus der Hochkultur der Brahmanen übernommen und dabei die gesellschaftliche Realität in Indien nicht ernst genug genommen hätten, in der die Dalits weiterhin diskriminiert und ausgegrenzt werden. Die Dalits lehnen eine an der indischen Hochkultur sich orientierende Inkulturation, von ihnen „Sanskrit-Theologie“ genannt, strikt ab. Für die Dalits kann eine inkulturierte Theologie nur dann relevant sein, wenn sie die Elemente des Leidens und der Ausgrenzung, die im Leben dieser Menschen so beherrschend sind, aufgreift.
Bei aller berechtigten Kritik an Formen des Ashram-Lebens ist der auch in Deutschland durch viele Meditationskurse bekannte Jesuit Sebastian Painadath weiterhin ein Verfechter dieser Form eines sich an hinduistischen Vorgaben orientierenden spirituellen Lebens. Der von ihm 1987 gegründete Sameeksha-Ashram in Kalady versteht sich als Zentrum indischer Spiritualität und des interreligiösen Dialogs. Die Initiative hat insoweit auch offizielle Anerkennung durch die Jesuitenprovinz von Kerala gefunden, als sie das Zentrum zugleich als regionale theologische Ausbildungsstätte betreibt. Es zieht viele Christen, Hindus, Muslims und Buddhisten an, die den einfachen Lebensstil, die kontemplative Atmosphäre, die Gastfreundschaft, die Stille des Waldes, das vegetarische Essen und die Möglichkeiten zur Meditation und persönlichem Gespräch schätzen gelernt haben.
Der christlich-islamische Dialog spielt innerhalb der Aktivitäten der katholischen Kirche Indiens im interreligiösen Dialog eine eher bescheidene Rolle, was angesichts von 140 Millionen Muslimen (12 Prozent Anteil an der Bevölkerung) überraschend ist. Pioniere auf diesem Gebiet waren die Jesuiten, die 1977 eine Arbeitsgruppe „Jesuiten unter Muslimen in Indien“ (JAMI) gründeten, die 1983 in eine gesamtindische Organisation umgewandelt wurde, die den Namen „Vereinigung für Islamstudien“ (Islamic Studies Association [ISA]) übernahm. Zu den von ISA in Angriff genommenen Aufgaben gehört das Einbringen der Islamwissenschaft in die Lehrpläne der theologischen Ausbildungsstätten, die Publikation einer eigenen Zeitschrift „Jami Notes“, seit 1983 „Salaam“ genannt, die theologische Reflexionen beinhaltet und über die Zusammenarbeit in sozialen Fragen und über Dialogtreffen berichtet.
Die meisten Aktivitäten von ISA geschehen in ökumenischer Zusammenarbeit mit dem protestantischen „Henry Martyn Institute“ von Hyderabad. Da Christen wie Muslime in Indien Minderheiten darstellen, könnte man annehmen, dass die Zusammenarbeit zwischen ihnen als eine Stärkung ihres Einflusses gegenüber der hinduistischen Mehrheit eine vorrangige Option sein sollte. Aber manchmal hat man den Eindruck, dass indische christliche Theologen den Islam, ähnlich wie die Hindus, nur als eine „von außen“ gekommene „fremde“ Religion ansehen. Es ist nicht ohne Ironie, dass die Christen, die selber von radikalen hinduistischen Gruppen mit demselben Vorwurf konfrontiert werden, sich diese Einstellung zum Islam zu eigen zu machen scheinen.
Der wachsende Einfluss der Hindutva-Ideologie in den letzten Jahren belastet das Zusammenleben der religiösen Minderheiten mit der hinduistischen Mehrheitsreligion. Betroffen von den negativen Auswirkungen sind auch die Anstrengungen auf dem Gebiet des interreligiösen Dialogs, die zu einer Verbesserung des Miteinanders und gegenseitigen Verständnisses und Respekts geführt hatten, die jetzt wieder in Frage gestellt werden. Die Vertreter der Hindutva-Ideologie wollen keinen Dialog. Ihre Grundeinstellung, dass nur ein Hindu ein echter Inder sein kann, verhindert jede Form einer dialogischen Begegnung auf der Basis der Gleichheit.
Nach ihrem Verständnis steht es nur Hindus frei, missionarisch tätig zu werden, um indische Mitbürger, die zum Christentum, Islam, Buddhismus oder anderen Religionen übergetreten sind, die „Rückkehr“ in die „Religion ihrer Väter“ zu ermöglichen. Die gewaltsamen Aktionen gegenüber den religiösen Minderheiten, und hier im besonderen gegenüber den Christen, zeigen, dass die Vertreter der Hindutva-Ideologie die verfassungsmäßige Ordnung Indiens nicht länger respektieren, sondern ihre Vorstellungen mit massiver Gewalt durchzusetzen versuchen.
Innerhalb der christlichen Theologie führten die Gewaltakte gegen Christen im Bundesstaat Orissa 2008 und 2009 zu einem erneuten Nachdenken über die theologischen Grundlagen des Verhältnisses zu den anderen Religionen und zum interreligiösen Dialog. Die seitens hinduistischer Kritiker erhobenen Vorwürfe gegen die christliche Sozialarbeit unter der Stammesbevölkerung, die darin letztlich nur versteckte Missionsanstrengungen der christlichen Kirchen sehen wollen, macht ein Überdenken der Motivation, der Durchführung und Außendarstellung dieser Dienste notwendig.
Selbstkritisch wird von christlicher Seite eingeräumt, dass die spirituelle Dimension im sozialen Einsatz oft zu wenig sichtbar gewesen sei und die Einsätze zu sehr die materiellen Aspekte auf Kosten einer Spiritualität der Armut betont hätten. Zugleich wird gefordert, die so konfliktreichen Themen wie etwa das Verhältnis von Dialog und Mission und von Zeugnis und Konversion im Hinblick auf die Ereignisse der jüngsten Zeit neu zu reflektieren.
Der interreligiöse Dialog in Indien wird immer stärker durch Kontroversen um das Thema der Bekehrung beziehungsweise Konversion, verstanden als Religionswechsel, belastet. Während auf der einen Seite die Verfechter der grundsätzlichen Legitimität von Bekehrungen von einer Religionsgemeinschaft zu einer anderen betonen, dass es sich hier um ein unveräußerbares Menschenrecht handelt, kontern die Gegner, dass in der Realität die meisten Bekehrungen mit unlauteren Mitteln und durch materielle Anreize zu Stande kämen.
In den Jahren unmittelbar nach Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils hat es in der indischen Kirche eine Vielzahl von Initiativen auf dem Gebiet des interreligiösen Dialogs gegeben. Es war so etwas wie ein neuer Frühling, eine Zeit, in der mit viel Enthusiasmus und kreativen Ideen neue Formen des religiösen Miteinanders entwickelt wurden. Die Hochstimmung des Aufbruchs zu neuen Ufern ist in den darauf folgenden Jahrzehnten weitestgehend verflogen und hat einer nüchternen Neuorientierung Platz gemacht. Es hat sich deutlich gezeigt, dass es schnelle Erfolge auf dem Feld des interreligiösen Dialogs und der Entwicklung neuer Formen des interreligiösen Umgangs nur auf Kosten der Nachhaltigkeit geben kann.
Die Zunahme religiös motivierter Gewalt am rechten Rand fast aller Religionsgemeinschaften hat weiterhin dazu beigetragen, die Möglichkeiten, Durchführung und Ziele des interreligiösen Dialogs schärfer zu fassen. Die Vielzahl von Aktivitäten auf dem Gebiet des interreligiösen Dialogs in Indien in den verschiedenen Dialogzentren und christlichen Ashrams belegt aber auch, dass das Anliegen des Dialogs in der indischen Kirche tief verankert ist, lebt und kreativ auf die neuen Herausforderungen reagiert.
Eine Erkenntnis aus den Entwicklungen der letzten Jahre besteht darin, dass es notwendig ist, Ausbildungsprogramme zu entwickeln, um die Jugend, die Studenten und besonders den Ordens- und Priesternachwuchs früh für das Anliegen des interreligiösen Dialogs zu motivieren und zu schulen. In einer Reihe von Diözesen in Indien gibt es solche Programme, bei denen in Kurz- und Langzeitprogrammen Einführungen in die Welt der anderen Religionen gegeben werden, sich interreligiöse Gebetsgruppen bilden und in Ferienmaßnahmen das interreligiöse Zusammenleben in Freizeit, Spiel und Feiern eingeübt wird.
In Schulen werden beispielsweise langfristige kulturelle Programme für Harmonie durchgeführt, bei denen ein bestimmtes Thema für Schüler verschiedener Religionszugehörigkeit in Musik, Theater, bildender Kunst und in Essays dargestellt wird, wobei einzelne Schulen miteinander wetteifern und die besten ausgezeichnet werden. Ein Beispiel für die Förderung des interreligiösen Dialogs und einer Spiritualität des Dialogs ist die „Bewegung für nationale Neuorientierung“, die von Swami Sachidananda Bharathi, einem ehemaligen Luftwaffenpilot und Angehörigen der Syro-Malabarischen Kirche, im Dharma Bharati Ashram in Mulanthuruthy in Kerala gegründet wurde und Programme zur Friedensmeditation, moralische Neuorientierung und nationaler Erneuerung anbietet.