Herr Hartl, Sie sprechen bei Veranstaltungen, aber auch im Internet über den Glauben. Viele Menschen orientieren sich an dem, was Sie sagen. Sind Sie ein Seelsorger?
Johannes Hartl: Das würde ich nicht sagen. Ich bin ein Inspirator, ich gebe Ideen weiter. Seelsorge ist etwas Ganzheitlicheres.
Herr Hennecke, was ist denn Seelsorge, wenn das, was Herr Hartl macht, keine Seelsorge ist?
Christian Hennecke: Wenn Sie, Herr Hartl, bei einer Konferenz zu Tausenden von Leuten reden, dann sprechen Sie auch die Seelen dieser Menschen an. Ich würde auch für mich sagen: Wenn ich vor Menschen rede, vermittele ich nicht nur Informationen. Ich will einen Raum eröffnen, in dem eine Begegnung mit Christus möglich wird, in dem sich Ideen und Blickwinkel verändern. Vielleicht ist das auch Seelsorge, aber nicht so institutionalisiert, wie man es klassischerweise versteht.
Seelsorge impliziert ein Verhältnis, bei dem eine Person aktiv ist und andere Personen passiv. Eine Person ist der Hirte, die anderen sind die Schafe. Michel Foucault hat den Begriff der Pastoralmacht geprägt. Herr Hennecke, haben Sie als Seelsorger Macht über Menschen?
Hennecke: Nein, ich habe keine Macht über andere. Mein Gegenüber ist doch kein Topf, in den ich etwas hineinlege, sondern es kommt eine Interaktion zustande. Auch wenn ich einen Vortrag oder eine Predigt halte, ist das immer ein Resonanzgeschehen.
Herr Hartl, haben Sie Macht über Ihre Zuhörer?
Hartl: Natürlich übe ich Einfluss aus, aber es ist ein Einfluss, dem der Einzelne sich freiwillig aussetzt.
Hennecke: Es hängt von mir ab, wie ich mit dieser Einflussmöglichkeit umgehe. Selbstverständlich gibt es Personen, die durch die Art, wie sie reden, Macht ausüben. Wenn ich vor Menschen spreche, dann ist ihre Aufmerksamkeit zunächst mal auf mich gerichtet, die Person, die da spricht. Dann hängt es von mir ab, wie ich damit umgehe. Will ich in einen Dialog treten und davon erzählen, was mir wichtig ist – oder möchte ich die Leute zu irgendetwas bekehren?
Ich glaube, Herr Hartl möchte die Leute schon zu etwas bekehren.
Hartl: Bekehren ist ein starkes Wort. Ich versuche, Herzen zu gewinnen.
Das ist eine klare Intention.
Hartl: Selbstverständlich. Ich habe auch Schwierigkeiten mit einem Konzept von Dialog, das davon ausgeht, dass man keinen propositionalen Gehalt vermitteln möchte. Worum soll es dann bei einem Dialog gehen? Vielleicht nur um Befindlichkeiten. Natürlich trete ich mit Thesen auf, von denen ich zu überzeugen versuche. Die Frage ist nur, ob das mit lauteren Mitteln geschieht, oder ob ich versuche, zu manipulieren. Grundsätzlich ist doch der Anspruch, zu überzeugen, der Sprache selbst inhärent.
Hennecke: Ich glaube nicht, dass ich jemanden zu irgendetwas bekehren kann. Diese Macht habe ich nicht. Wenn ich den Anspruch erheben würde, Macht über die Herzen der Menschen zu besitzen, würde ich mich zu etwas Göttlichem machen. Da ist die Schwelle zum Missbrauch von Macht nicht weit, für die unzählige Fälle sexualisierter Gewalt in unserer Kirche bittere und zutiefst beschämende Belege sind. Natürlich ist es meine Absicht, in Gesprächssituationen einen Raum zu eröffnen, in dem eine Begegnung mit Christus stattfinden kann. Aber ob das wirklich geschieht, habe ich nicht in der Hand. Es gibt Situationen, in denen man spürt, dass eine Kraft aufbricht, die nicht von mir stammt, aber auch nicht von meinen Gesprächspartnern. Man könnte sagen, es ist die Geisteskraft. Dann werden Menschen berührt. Aber machen kann ich das nicht.
Hartl: Wir dürfen bloß keine falsche Bescheidenheit haben, eine These vertreten zu wollen. Die Menschen werden doch heute von ganz unterschiedlichen weltanschaulichen Thesen bombardiert. Sie haben ein Recht darauf, zu erfahren, wofür genau wir als Christen eigentlich stehen. Wenn wir das nicht mehr vermitteln können, müssen wir uns nicht wundern, wenn wir an Relevanz verlieren.
Hennecke: Natürlich wollen die Menschen von der Botschaft des Glaubens hören. Es gibt aber in den verschiedenen kirchlichen Szenen ganz unterschiedliche Stile, wenn vom Glauben gesprochen wird, und das ist auch in Ordnung so. Die Frage ist nur: Bleibt der Andere dabei frei oder nicht?
Nun ist Ihnen, Herrn Hartl, von einigen Theologen vorgeworfen worden, diese Freiheit des Anderen eben nicht zu respektieren, sondern etwa bei der Mehr-Konferenz auf unkritische Begeisterung zu setzen, die Leute sozusagen unredlich mitreißen zu wollen.
Hartl: Ich würde mich freuen, wenn es in der Kirche noch viel mehr gelänge, Menschen mitzureißen. Wir haben gerade nicht das Problem, dass wir zu viele mitreißende Orte haben. Die Leute kommen freiwillig und zahlen sogar Geld dafür. Niemand ist gezwungen, zu kommen. Wenn jemand äußert, ich sähe aus wie ein amerikanischer Freikirchenprediger, weil ich einen engen Anzug trage, oder dass bei uns eine Lightshow verwendet wird, muss ich sagen: Das sind doch keine theologischen Argumente. Oft wird uns von Kritikern auch unterstellt, wir würden andere Formen abwerten. Niemand von der „Mission-Manifest“-Bewegung oder der Mehr-Konferenz hat behauptet, dass jetzt die ganze Kirche so aussehen müsse. Oft heißt es: Die Volkskirche hat doch auch ihre Berechtigung. Ja, wer sagt denn das Gegenteil? Woher kommt dieses Gefühl der Bedrohung?
Herr Hennecke, man hat Herrn Hartl und das Buch „Mission Manifest“ auch kritisiert, weil dort zu klare Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen Bekehrten und noch zu Bekehrenden gezogen würden. Ist die Kritik berechtigt?
Hennecke: Wir müssen schon ernsthaft darum ringen, welches Weltverhältnis wir als Christen haben. Auch ich glaube, dass Christus für alle gekommen ist und dass alle Menschen es verdient haben, ihn kennenzulernen. Aber was ist mit denen, die das nicht tun? Wie blicken wir auf die säkulare Welt? Ist das alles des Bösen? Als Leiter eines Seelsorgeamtes ärgere ich mich schon über ein Buch wie das „Mission Manifest“…
Herr Hartl, verstehen Sie, warum Herr Hennecke sich über Ihr Manifest ärgert?
Hartl: Dass ein Seelsorgeamtsleiter mit unseren Aussagen Mühe hat, kann ich schon verstehen. Wir haben ja ein dramatisches Problem mit der Seelsorge in Deutschland. Und im „Mission Manifest“ vertreten wir darum auch dramatische Thesen darüber, was sich ändern müsste. Im Moment sind wir dabei, jeden zu taufen, jeden zur Kommunion zuzulassen und jeden kirchlich zu trauen – egal, was er glaubt. Dadurch generieren wir eine millionengroße kirchensteuerzahlende Mitgliedschaft, während es gleichzeitig immer weniger an persönlicher Glaubenssubstanz gibt. Das zeigt sich ja auch deutlich an der Zahl der Priesterberufungen. Das Problem unserer Kirche ist, dass das Zielfoto nicht klar ist. Im Herzen des Menschen werden jeden Tag Grundsatzentscheidungen getroffen. Uns geht es um die Entscheidung für Jesus Christus. Es kann uns als Kirche doch nicht egal sein, ob wir Menschen nur irgendwie erreichen oder ob sie an einen Punkt kommen, an dem sie sich im Herzen selbst entscheiden. Nur weil wir noch eine Volkskirche sind, die sehr stark auf Sakramentenkatechese setzt – allerdings auf einem sehr basalen Niveau –, bleibt uns dieses Thema nicht erspart.
Hennecke: Ich bin doch nicht deswegen verärgert, weil ich eine bestimmte Form von Volkskirche weitertreiben möchte! Ich würde sagen, dass wir in den Bistümern schon viel weiter sind, als Herr Hartl unterstellt. Wir setzen doch nicht einfach auf die Fortsetzung der Volkskirche. Die Bemühungen um neue Formen des Kircheseins sind schon längst da. Natürlich müssen wir von einem Kirchenverständnis wegkommen, das sich nur am Sakramentenempfang orientiert und nicht nach persönlichen Entscheidungen fragt. Gleichzeitig würde ich nicht so stark eine Grenze ziehen zwischen denen, die glauben, und denen, die nicht glauben. Das finde ich sehr problematisch. Ich möchte Menschen, die zweifeln und kritische Nachfragen an den Glauben haben, nicht die Tür vor der Nase zuschlagen. Sondern ich würde fragen, an welcher Stelle die Menschen an ihrem Glaubensweg stehen und was sie brauchen, um in ihrer Beziehung zu Christus zu wachsen.
Hat dieser Glaubensweg eigentlich Stufen? Gibt es da Anfänger und Fortgeschrittene?
Hartl: Natürlich kann man soziologisch anhand von unterschiedlichen Kriterien messen, inwiefern der persönliche Glauben für das Leben eine Rolle spielt. Und es gibt auch äußere Kennwerte. Die Kirche hat immer auch Wert auf solche Kriterien gelegt. Die Tatsache, dass der Sakramentenempfang im ganzen Land runtergeht, sagt etwas. Heißt das schon, dass jemand, der jeden Sonntag in die Kirche geht, wirklich in allem ein Jünger Jesu ist und ihm nachfolgt? Vielleicht nicht. Viel interessanter finde ich aber wie gesagt: Was ist unser Zielfoto? Das ist heute in der Kirche oft weniger klar, als wir meinen. Ich meine, das Zielfoto muss sein, dass Menschen den Glauben in seiner ganzen Schönheit erleben und ihn in allen Bereichen ihres Lebens umsetzen können.
Muss man sonntags in die Kirche gehen, um ein guter Katholik zu sein?
Hennecke: Wenn Menschen beginnen, den Weg des Christseins zu gehen, zählt für mich nicht die Frage, ob sie etwas müssen. Ich möchte wieder den Raum dafür öffnen, dass sie es können und wollen.
Hartl: Wir leben tatsächlich schon lange nicht mehr in einer Zeit, in der Menschen das Gefühl haben, sie müssten in die Kirche gehen. Die Leute wählen heute aus Angeboten. Und wir sollten viel selbstbewusster auf das Angebot hinweisen, das wir haben. Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, das unsere Botschaft eigentlich extrem attraktiv ist und auch nichts an Attraktivität verloren hat. Wenn die Menschen trotzdem nicht kommen, sollten wir darüber nachdenken, warum das so ist.
Und warum ist das so?
Hartl: Eines der Probleme ist unser Kirchensteuersystem. Das ist wie bei einem Dönerstand am Hauptbahnhof, der immer den gleichen Betrag verdient – unabhängig davon, ob er einen oder hundert Döner am Tag verkauft. Warum sollte sich dieser Dönerladen überlegen, ob das Angebot überhaupt zur Nachfrage passt? Ich unterstelle niemandem böse Absichten. Aber so ein System bringt automatisch schlechte Qualität hervor.
Beim Verkauf von Dönern ist der Erfolg ja leicht zu kontrollieren, aber wie misst eine Kirche ihren Erfolg?
Hartl: Natürlich kann man nicht in das Herz der Menschen schauen. Aber Führung muss auf belastbare Zahlen reagieren, sonst macht sie nur einfach ins Blaue hineingesprochene Absichtserklärungen. Wenn man nicht misst, hört man auf, zu führen. Man kann die Besucher einer Veranstaltung zählen, die Teilnehmer an einem Gottesdienst, die Anzahl von Taufen. Und dann kann man sich fragen: Dienen die Maßnahmen, die wir gerade ergreifen, dazu, diese Zahlen zu verbessern, oder nicht? Wenn nicht, braucht man eine neue Strategie und eine Zieldefinition. Das ist so schwer nicht: Das Ziel muss sein, Menschen, die dem Glauben fernstehen, für den Glauben zu erreichen. Wenn man dieses Ziel nicht im Blick hat, erübrigen sich alle anderen Strategien auch.
Hennecke: Wir sprechen in Deutschland zuweilen hysterisch davon, dass jedes Jahr weniger Menschen in die Kirche gehen. Aber was sagt das aus? Die Zeiten, in denen man aus Zwang oder Konvention in die Kirche gegangen ist, sind vorbei. Die Menschen sind frei, das zu tun, was für sie relevant ist. Ist es vor diesem Hintergrund viel oder wenig, was wir heute statistisch erheben? Natürlich sollten wir ein Zielfoto haben: dass Menschen Christus und den Reichtum des Lebens erfahren dürfen. Die Frage, die wir heute als Kirche beantworten müssen, ist: Wie geht es für Menschen weiter, die Kontakt mit dem Glauben aufgenommen haben, die etwa einen besonderen Gottesdienst erlebt haben, die berührt sind? Und wie können wir diejenigen, die ihren Glauben leben, so stärken, dass sie einen relevanten Unterschied in der Gesellschaft machen? Wir reden immer vom Relevanzverlust der Kirche, aber in ethischen Fragen, in Fragen der Solidarität und des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft wird völlig zu Recht viel von uns erwartet. Denn die konsequente Zuwendung zum Nächsten ist unser Auftrag als Christinnen und Christen. Beten allein reicht nicht, deshalb tun wir als Kirche ganz viel für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land.
Herr Hartl sprach eben von der Zahl der Priesterberufungen. Herr Hennecke, machen Sie sich Sorgen um den Nachwuchs?
Hennecke: Wir werden in den nächsten Jahren massive Probleme bei der Nachwuchsgewinnung bekommen. Junge Leute können sich nicht vorstellen, diesen Dienst zu tun. Es wäre aber zu platt, zu sagen: Die sind alle nicht mehr gläubig. Möglicherweise sind heute Menschen, die für das Evangelium brennen, auch an anderen Orten zu finden als in Priesterseminaren. Könnten wir es nicht so machen, dass wir mit Menschen zusammenleben, ihre Gaben und Charismen erkennen, und dann auf sie zugehen? Was für eine Form von Gemeinde wäre das, in der so etwas geschieht? Wir stehen da vor einem großen Umbruch. Die jetzt kommende Diasporakirche ist nicht einfach die Fortsetzung des Bisherigen unter anderen Vorzeichen.
Hartl: Der Priestermangel ist eine Folge des Mangels an entschiedenen Christen. Wir brauchen einen größeren Pool von entschiedenen Christen, dann wird es auch mehr Männer und Frauen geben, die sich die Frage nach dem geweihten Leben stellen. Wir kommen auch hier an der Aufgabe nicht vorbei: Was muss passieren, dass Menschen, die dem Glauben fernstehen, zu überzeugten Nachfolgern Jesu werden? Aus tausend überzeugten jungen Männern werden wahrscheinlich hundert sich die Frage nach dem Priestertum stellen, werden wahrscheinlich am Schluss zehn Priester werden. Wenn wir zehn neue Priester wollen, ist es einerseits wichtig, am Donnerstag für die Berufungen in der Kirche zu beten, andererseits müssen wir uns überlegen: Wie kommen wir an tausend überzeugte junge Männer?
Hennecke: Ich habe mit dem Mangelbegriff ein echtes Problem. Wenn es in einem Bistum wie unserem hundert Priester auf 592.000 Katholiken gibt, dann werden wir vom Rest der Welt darum beneidet. Wozu sind Priester da? Die Eucharistie ist unser Zentrum, aus dem wir leben. Allerdings wird es in den nächsten Jahren auch viele Orte geben, wo überhaupt keine Menschen mehr da sind, die Eucharistie feiern wollen, wo wir wieder am Anfang eines Glaubensweges stehen und neu die Frage stellen: Wie wird man überhaupt Christ?
Herr Hartl, in dem kirchlichen Umfeld, in dem Sie sich bewegen, sollte es diese entschiedenen Christen ja geben ...
Hartl: Schon jetzt kommt ein immer größerer Prozentsatz der wenigen, die in ein Priesterseminar eintreten, aus den sogenannten Bewegungen und neuen geistlichen Gemeinschaften. Allerdings werden Menschen, die sich im Zuge einer Bekehrung auf den Weg hin zum geweihten Leben gemacht haben, auch von einem Leitbild pastoralen Arbeitens angezogen, das wiederum persönliche Bekehrungen zum Ziel hat. Ich kenne nicht wenige junge Leute, die das Priesterseminar wieder verlassen oder als Priester resigniert haben, weil sie sagen: Das, was ich gerne tun würde, nämlich Menschen für den Glauben zu begeistern, das darf ich nicht – entweder, weil es nicht dem Leitbild des Bistums entspricht, weil ich ersticke an anderen Aufgaben oder weil das Kirchensteuermodell mich zwingt, an alle Menschen Sakramente auszuteilen, auch wenn bei ihnen kein Glaubensfundament existiert.
Hennecke: Was heißt es denn, auf Bekehrung zu setzen? Man kann sich doch nicht fragen: Wann kriege ich den anderen endlich bekehrt? Das ist mir zu unvermittelt. Da braucht es viel Geduld, die Bereitschaft, mit Leuten unterwegs zu sein.
Hartl: Aber wir haben doch das komplett gegenteilige Problem. Man kann doch sein Kind taufen lassen, ganz egal, was man glaubt. Man kann sich kirchlich trauen lassen, ganz egal, was man glaubt, und dann machen wir ein riesiges Tamtam darum, wenn eine solche kirchlich geschlossene Ehe dann scheitert. Wir geben uns überhaupt keine Mühe. Wir werfen die Sakramente einfach raus. Ich frage Sie als Leiter eines Seelsorgeamtes: Wenn ein Priester, wie kürzlich ein Freund von mir, sagen würde: Nein, wir taufen euer Kind nicht automatisch, sondern laden euch erst einmal zu einem Glaubenskurs ein: Was meinen Sie, wie lange es dauert, bis da ein Anruf vom Generalvikar kommt, dass er das aber sofort bleiben lassen soll?
Hennecke: Natürlich sagen die wenigsten, die um die Sakramente bitten: Christus ist mein Herr, deswegen möchte ich dieses Sakrament empfangen. Aber umgekehrt ist es ja auch nicht so, dass diese Menschen einfach an nichts glauben. Ob wir da immer die Sakramente feiern müssen oder ob in manchen Situationen auch eine Form des Segens passen würde, kann man sich natürlich fragen. Wir haben die Wirkung der Sakramente seit dem Konzil von Trient im Sinne des ex opere operato verstanden: Der Empfänger muss nur keinen Widerstand leisten, das war das Mimimum. Und wir haben dieses Minimum zur Norm gemacht. Das ging auch, weil es in der Volkskirche ja keine Alternative gab. Ich sehe aber in den Kirchengemeinden, in denen ich unterwegs bin, durchaus eine große Sorge um die Weitergabe des Glaubens – aber auch eine Ohnmacht und ein Nichtwissen, wie das gelingen könnte. Einfach die Praxis aus den Gemeinschaften und Bewegungen auf die Gemeinden zu übertragen, wird aber nicht funktionieren: Denn bei den Gemeinschaften ist schon der Zugang mit einer klaren Entscheidung verbunden.
Hartl: Es ist jedenfalls einfach eine Mär, dass wir in Zeiten der Optionalisierung des Glaubens etwas gewinnen, wenn wir unsere Angebote niederschwelliger machen. Das Gegenteil ist der Fall. Natürlich könnte man die Eintrittsschwellen ein bisschen höher ziehen. Das wird mehr Leute anziehen. Man sieht es selbst bei Klöstern: Klöster, die das geistliche Leben stärker betonen und in strengerer Observanz leben, haben in der Regel mehr Nachwuchs. Die Menschen entscheiden sich heute ganz bewusst zu höchst aufwendigen Lebensstilen. Ich denke zum Beispiel an die Bewegung des Veganismus. Ich erlebe selten Veganer, die sagen: Ja, aber wir wollen nicht elitär wirken, da kommt zum Schluss gar keiner mehr, wir wollen niemandem Druck machen, vegan zu werden ... Nein, die sind überzeugt davon, was sie tun. Wir erleben weltweit den Trend, dass das, was die Soziologen hot orthodoxy nennen, wächst, quer durch die Religionen und Konfessionen: Ein emotional entschiedenes, freudiges Feststehen in dem, was man glaubt.
Hennecke: Ich bin gegen jede Form eines elitären Christentums. Für mich geht es nicht darum, ob etwas niedrig- oder hochschwellig ist, sondern ob es mich anzieht. Es stimmt, dass Menschen keine kalte Glaubenswirklichkeit wählen. Emotionalität ist wichtig: „Brannte nicht unser Herz“, heißt es im Evangelium. Menschen fühlen sich angezogen von Dingen, die sie berühren. Aber es gibt da eine Vielfalt von Stilen und Kulturen in unserer Kirche, die alle berührend sein können – von Gregorianik bis Taizé.
Hartl: Ich höre in der Kirche ständig, es gebe unglaublich viele Formen und eine große Pluralität. Schön und gut. Es gibt viele Formen, aber neunzig Prozent davon sterben gerade aus. Lasst uns doch mal anschauen, welche zehn Prozent denn funktionieren und welches Geheimnis dahintersteckt. Ich glaube, das hat auch mit den Inhalten zu tun. Die Sprachfähigkeit und Willkommenskultur müssen so niedrigschwellig sein wie möglich. Aber der Inhalt darf nicht niedrigschwellig sein. Wir müssen die Leute nicht nur ansprechen, sondern auch irgendwohin führen wollen: nämlich in eine tatsächliche Begegnung mit Jesus Christus.
Herr Hartl meint, neunzig Prozent der Angebote sind dabei, zu sterben. Müssten Sie im Seelsorgeamt da bei bestimmten Dingen, die nicht mehr funktionieren, Sterbehilfe leisten?
Hennecke: Herr Hartl hat insofern recht, als die Leute anspruchsvoller geworden sind. Auch den alten Menschen reicht es nicht, zum Seniorennachmittag mit Streuselkuchen zu kommen. Ich sehe das bei meiner Mutter. Die ist 88 und auch anspruchsvoll. Die will Substanz im Glauben erfahren.
Wenn Dinge sterben, hat das auch Auswirkungen für die Kirche am Ort. Herr Hartl, Sie sprechen Menschen aus dem ganzen deutschen Sprachraum an: Welche Rolle spielt für Sie die klassische Pfarrei?
Hartl: Für uns als Familie spielt sie natürlich eine Rolle. Menschen machen in ihrer Biografie Erfahrungen an Orten, die sie in der digitalen Welt nicht machen können. Das Leerwerden der Kirchen, das Zusammenlegen von Gemeinden ist darum einfach dramatisch. Ich höre da zu viele Beschwichtigungen von Kirchenleuten, dass es doch nur ein Gestaltwandel sei. Es ist ein Gestaltwandel, der im Laufe von einer oder zwei Generationen ein Vakuum zurücklassen wird. Ich bin kein Feind der Volkskirche. Sie hätte viele Chancen, wenn man sie richtig nutzen würde. Vor allem für alte Leute und Kinder ist die Kirche am Ort unverzichtbar. Aber es wäre eigentlich auch für die Menschen dazwischen ein Idealzustand.
Herr Hennecke, stimmt das, erleben wir gerade einen dramatischen Prozess, der am Ende ein Vakuum zurücklassen wird?
Hennecke: Das sehe ich nicht so. Die Kirche am Ort ist wesentlich. Aber sie hängt nicht zwingend mit den Strukturen zusammen, die wir bisher hatten. Natürlich kann ich nicht einfach ein Megagebilde schaffen und sagen: Ihr seid jetzt Gemeinde. Aber wir fragen: Wie können Menschen vor Ort unterstützt werden, aus der Kraft des Geistes Kirche zu gestalten und gemeinsam das Evangelium zu leben?
Geht das auch ohne Priester?
Hennecke: Ja, das geht zunächst mal immer ohne Priester, weil wir ja wohl Manns genug sind, um unseren Glauben zu leben. Die Hauptamtlichen, die Priester, können dann helfen, dass das gut gelingt. Auch hier sind die Formen ganz unterschiedlich: Ein Bistum bestand schon immer aus mehr als nur aus Pfarreien: Da gibt es Gruppen, Verbände, Gemeinschaften, Orden. Die Menschen haben die große Freiheit, dorthin zu gehen, wo sie sich zugehörig fühlen. Wie groß die Strukturen sein müssen, um das zu beherbergen, das ist noch unklar.
Aber das Vakuum, das Herr Hartl kommen sieht, das sehen Sie nicht?
Hennecke: Das suggeriert, dass flächendeckend alle Christen sein müssen, weil sie es schon immer waren. Die Frage muss doch sein: Wie können wir es fördern, dass aus den Orten, wo Christen sind, Orte der Ausstrahlung und des Wachstums werden? Dann habe ich keine Not damit, dass es nicht überall so ist, wie es früher war. Menschen ordnen sich zu. Entfernungen sind heute relativ. Leute reisen in weit entfernte Wallfahrtsorte. Und dann suchen sie Menschen vor Ort, mit denen sie das teilen können, was sie erlebt haben. Da entsteht eine fluidere Form von Kirche als die klassische, flächendeckende Volkskirche.
Es gibt im Moment eine Debatte um den Synodalen Weg in Deutschland. Die einen wollen, dass in diesem Rahmen vor allem über Neuevangelisierung geredet wird, die anderen möchten über Themen wie die kirchliche Sexualmoral reden ...
Hartl: Wenn die Kirche jetzt keine Antwort findet, wie es gelingt, dass Menschen sich in Zukunft für Jesus entscheiden, dann sind alle anderen Fragen komplett irrelevant. Und deswegen ist dieser Synodale Weg in der Tat aufgerufen, sich über das Thema Evangelisation Gedanken zu machen. Alle anderen Themen sind nachgeordnet.
Viel sagen aber: Die Sexualmoral treibt die Leute von der Kirche weg. Müsste man da nicht tatsächlich etwas ändern, um überhaupt wieder Menschen gewinnen zu können?
Hartl: Ich gehe seit 40 Jahren in katholische Gottesdienste und habe in dieser Zeit keine einzige Predigte über Sexualität gehört. Die Kirche spricht überhaupt nicht über Sexualmoral. Dabei ist das ein wahnsinnig wichtiges Lebensthema. Es ist doch zum Lachen: In den frühen Siebzigern haben die deutschen Bischöfe gesagt: Was in „Humanae Vitae“ steht, ist nicht zeitgemäß, das kann man nicht verkündigen. Heute müssen Sie nur mal in einen Bahnhofskiosk gehen und Frauenzeitschriften durchblättern. Sie werden keine Mühe haben, in einer von fünf Zeitschriften einen Artikel über natürliche Empfängnisregelung zu finden. Immer wenn die Kirche versucht, sich an den Zeitgeist anzubiedern, geht der Schuss nach hinten los. Warum nicht kühn sagen: Wir stehen für komplett andere Werte, wir verteidigen die und wir laden herzlich dazu ein? Es gibt viele Leute, die von der Art, wie Sexualität in unserer Gesellschaft gelebt wird, eher abgetörnt sind. Die fragen nach Alternativen. Wenn wir dann verdruckst rumreden und sagen, das muss jeder mit seinem Gewissen ausmachen, erreichen wir nichts. Das machen die ja sowieso!
Hennecke: Wenn jemand mit einem ernsthaften Seelsorger ins Gespräch kommt, ist doch klar, dass es auf der einen Seite eine kirchliche Lehre gibt, aber auf der anderen Seite Menschen in ihren Wirklichkeiten versuchen müssen, eine Entscheidung zu fällen. Und meine Aufgabe als Seelsorger ist es, diese Entscheidung zu ermöglichen. Im Übrigen gibt es wichtigere moralische Fragen als die nach der kirchlichen Sexualmoral, etwa die Frage nach Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern oder zwischen Generationen.