Feministisch die Bibel auslegen, das bedeutet: Frauen ins Zentrum stellen“ – so hat es die Neutestamentlerin und engagierte feministische Theologin Luise Schottroff (gestorben am 8. Februar 2015) auf den Punkt gebracht. Für sie war die Beschäftigung mit der Bibel ein Ringen um das missverstehbare, manchmal auch missverständliche Wort der Schrift, das oft genug in der Geschichte des Christentums dazu verwendet wurde, Frauen kleinzuhalten, das aber dennoch als gute und befreiende Botschaft von Gottes Gerechtigkeit hörbar gemacht werden kann und muss.
An der Notwendigkeit, „Menschenrechte für die Frau“ außerhalb und innerhalb der Kirchen einzuklagen, wie schon 1974 Elisabeth Moltmann-Wendel emphatisch mit dem wohl ersten deutschsprachigen Sammelband biblischer und theologischer Beiträge zum Thema formulierte, besteht auch heute, vier Jahrzehnte später, kein Zweifel. Verschoben und weiterentwickelt aber haben sich die Themen, Methoden und Perspektiven; neue Begrifflichkeiten bestimmen den Diskurs. Auch der geografische Horizont hat sich enorm erweitert: Zu den nach wie vor dominanten Stimmen aus Nordamerika und Nordwesteuropa sind vermehrt Stimmen von Frauen aus Ost- und Südeuropa und vor allem auch aus den Ländern der gesamten südlichen Hemisphäre getreten. Und wo von „christlich-feministischer Exegese“ die Rede ist, macht dies darauf aufmerksam, dass sich inzwischen auch im deutschsprachigen Raum Ansätze jüdisch-feministischer Revisionen der eigenen Traditionen entwickelt haben und Aufbrüche islamischer Theologinnen zu einer Neubewertung des Koran (und seiner Auslegungsgeschichte) unter Frauenperspektive stattfinden.
Im deutschsprachigen Raum ist die feministische Bibelwissenschaft über einige Institutionen derzeit gut verankert. An der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster und an der Theologischen Hochschule der Bayerischen Landeskirche in Neuendettelsau gibt es jeweils einen Lehrstuhl für Altes Testament und Theologische Frauenforschung beziehungsweise Feministische Theologie. An der Theologischen Fakultät Bern (Schweiz) wird „lectio difficilior“, eine elektronische Zeitschrift für feministische Exegese herausgegeben. Das Katholische Bibelwerk Stuttgart, das mit der Bibelwissenschaftlerin Katrin Brockmöller seit Ende 2014 erstmals von einer Frau geleitet wird, lässt in seinen drei Zeitschriften und in anderen seiner Veröffentlichungen schon seit vielen Jahren auch Frauenperspektiven zu Wort kommen.
Die Kategorie Gender erreichte die feministisch-bibelwissenschaftliche Diskussion zuerst in den USA, dann auch in Nordwesteuropa gegen Ende der Achtzigerjahre. Sie wurde aufgegriffen, um einen offenkundigen Sachverhalt präziser benennen zu können: Auch in den Gesellschaften, in denen die Bibel entstanden ist, bestimmen soziale Muster darüber, wie sich weibliche beziehungsweise männliche Identität zu bilden hat und welche Geschlechterrollen Frauen beziehungsweise Männer in der Interaktion miteinander einzunehmen haben. Gender bezeichnet dann das Bündel von Rollen und Erwartungen, die in der jeweiligen Gesellschaft vorgeben, was eine Frau oder einen Mann ausmacht; Gender bezieht sich auf das Geschlecht eines Menschen, insofern es „sozial gemacht“ ist. Wenn beispielsweise Jeremia daran erinnert, dass sein Vater hocherfreut war, als er die Nachricht erhielt, ein Knabe, ein Sohn sei ihm geboren (vgl. Jer 20,15), dann hätte die klassisch-feministische Auslegung dieses Verses das Unsichtbar-Machen der Mutter des Kindes beklagt. Sie hätte darin die Bestätigung gefunden, dass der Bibel mit einer „Hermeneutik des Verdachts“ begegnet werden muss (ein Begriff, den Elisabeth Schüssler-Fiorenza in den feministisch-theologischen Diskurs eingebracht hat) und Frauen nur durch die feministische Kritik hindurch zur „guten Nachricht“ der Bibel vorstoßen können.
Was sich durch die Gender-Perspektive ändert
Eine „gegenderte“ Analyse würde demgegenüber darauf abheben, dass die Freude des Vaters dem entspricht, was in einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung zu erwarten ist, dass diese Freude die vorhandenen gesellschaftlichen Muster aber auch wiederum bestätigt und stabilisiert. Der gegenderte Blick auf den Vers könnte sodann bei der doppelte Benennung des neugeborenen Kindes als „Knabe“ und als „Sohn“ ansetzen und zeigen, dass die Bezeichnung mit „Knabe“ das Kind nach seinem Geschlecht (Sex) benennt, die Bezeichnung mit „Sohn“ dagegen eine familiale Beziehung (Gender) in den Vordergrund stellt. Das bedeutet aber insbesondere auch, dass das Neugeborene nach bestimmten Kriterien als „männlich“ identifiziert und ihm damit ein Geschlecht (Sex) zugewiesen wurde. Auch im Alten Israel begann die soziale oder kulturelle Prägung von Sex durch Gender mit der Benennung des Geschlechts eines Neugeborenen.
Unter der Gender-Perspektive könnte man des Weiteren die gesellschaftlichen und auch psychischen Folgen bedenken, die die Bevorzugung männlicher Nachkommen für die Erziehung von Knaben wie Mädchen haben. Auch die Frage, wie stark das Selbstbild von Frauen im Alten Israel von der gesellschaftlichen Erwartung, Mutter von Söhnen zu werden, geprägt gewesen sein muss und welcher Druck auf den Frauen gelastet haben wird, gehört in diesen Zusammenhang.
Wenn gegenwärtig Exegetinnen (oder Exegeten) ihre eigene Arbeit als „gender-sensibel“ oder „gender-bewusst“ bezeichnen, dann ist damit oft dieser umrisshaft vorgestellte Ansatz einer Auslegung biblischer Texte (oder auch einer Rekonstruktion der Sozial- oder Religionsgeschichte der biblischen Epochen) gemeint. Frauen stehen dabei nicht mehr selbstverständlich im Zentrum, können aber auch unter der Gender-Perspektive durchaus ins Zentrum gerückt werden.
Allerdings muss die Rede von Frauen (und analog die von Männern) differenziert werden. Denn: In den Blick kommen unter dieser Perspektive ja „Frauen“, insofern sie von einer Gesellschaft „gemacht“ sind, „Frauen“ (und „Männer“) als Produkte gesellschaftlichen Handelns, von dem sie bestimmt werden, das sie aber auch aktiv ratifizieren, wenn sie Gender im Alltag vollziehen. Der für die feministische Theologie und Exegese selbstverständliche Ausgangspunkt bei der Diskriminierung von Frauen aufgrund ihres weiblichen Geschlechts umfasst unter der Gender-Perspektive immer schon die Verstrickung von Frauen in das Sex/Gender-System der Gesellschaft, in der sie leben.
Die Gender-Forschung treibt die Analyse des Sex/Gender-Systems aber noch weiter. So wirft sie die Frage auf, ob die Ordnung der zwei Geschlechter und die Praxis der Heterosexualität nicht ebenfalls als Produkt gesellschaftlicher Konventionen zu betrachten ist, die aufgrund ihrer Persistenz den Anschein von „Natürlichkeit“ gewonnen haben.
Die biblischen Texte etwa, die homosexuelle Praxis ächten oder verbieten (Lev 18,22; 20,13; Röm 1,26-28), sind ja nicht vom Himmel herabgefallenes Wort Gottes, das eine vom Schöpfergott intendierte ewige Naturordnung offenbart, sondern Ausdruck menschlichen Ringens um die Vorstellung einer gottgewollten Ordnung unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen. Der erste Schöpfungsbericht, der von der Erschaffung des männlichen und weiblichen Menschen zum Zwecke der Fortpflanzung erzählt, verankert eine für die Zeit seiner Entstehung als sinnvoll erkannte Sex/Gender-Struktur im Willen Gottes – aber darf der „Wille Gottes“ zeit- und kontextlos gedacht werden? Wenn das Matthäusevangelium (Mt 19,12) Jesus darüber nachsinnen lässt, dass es drei Arten von „Eunuchen“ gibt, solche von Geburt an, solche, die von Menschen dazu gemacht wurden, und solche, die sich um des Himmelreiches willen zu Eunuchen gemacht haben, dann öffnet sich hier der Spalt zu einem Geschlechterdiskurs, der mehr als zwei Geschlechter kennt und Fragen des sexuellen Begehrens beziehungsweise der sexuellen Praxis mit umfasst, die nicht nur auf die Position des asketischen Sexualverzichts als Alternative zum ausschließlich ehelichen Gebrauch der Sexualität reduziert werden können.
Vielfalt der Leser_innen
Bibelauslegung ohne Interessen gibt es nicht. Insofern hat die feministische Exegese von Anfang an Wert darauf gelegt, offenzulegen, mit welchen Interessen sie an die Bibel herangeht, und die Interessen herausgearbeitet, von denen etwa die lehramtliche Auslegung des Neuen Testaments in der Frage des Ausschlusses der Frauen vom Priesteramt geleitet ist. Die feministische Exegese hat sicher auch dazu beigetragen, dass in der „Mainstream“-Exegese diese hermeneutische Einsicht wachsen konnte. In der Bibelwissenschaft der letzten Jahrzehnte wurde sie mit einem neuen methodischen Schwerpunkt verbunden, dem der Rezeptionsgeschichte oder dem dezidierten „Interesse“ an der Instanz der Leser_innen (der Unterstrich deutet den gender-gap an, der auf das Geschlecht der Lesenden als relevant hinweist, es aber gleichzeitig nicht festschreiben will).
Zwei großangelegte Projekte sind hier zu nennen, die unter dem Vorzeichen feministischer Exegese diese Bewegung zu den Leser_innen vollzogen haben. Die Enzyklopädie „Die Bibel und die Frauen“ ist eine auf zwanzig Bände konzipierte Reihe, die von vier Theologinnen mit unterschiedlicher Muttersprache (Irmtraud Fischer, Österreich; Adriana Valerio, Italien; Mercedes Navarro Puerto, Spanien; Christiana de Groot, USA) herausgegeben und von vier Verlagen parallel in jeweils einer dieser Sprachen publiziert wird.
Die Reihe will die Erträge feministischer und gender-bewusster Arbeit an den Schriften der Bibel verbinden mit Forschungen zur Rezeptionsgeschichte der Bibel aus Frauensicht. „Frauensicht“ kann hier, so für die Bände zur Bibel selbst und zu den frühjüdischen Schriften am Rand der Bibel, für das rabbinische Judentum oder die sogenannte „patristische“ Zeit, bedeuten, dass heutige Auslegerinnen sich diesen antiken Schriften mit besonderem Blick auf die darin greifbaren Gender- beziehungsweise Geschlechter-Konstellationen zuwenden.
Ab der Spätantike gibt es aber auch bereits Frauen, die sich als Autorinnen in unterschiedlichen literarischen Gattungen mit der Bibel auseinandergesetzt haben. Die schon vorliegenden Bände zum Mittelalter (6.1 und 6.2), zu Humanismus und Gegenreformation (7.2), zum „langen“ 19. Jahrhundert (8.2) und zum 20. Jahrhundert (9.1) kommen auf bekannte Namen wie die mittelalterlichen Mystikerinnen zurück, präsentieren aber auch manches bisher kaum bekannte Material, etwa über die toskanische Ordensfrau Maria Clemente Ruoti (17. Jahrhundert) und ihre „spirituellen Komödien“ zu biblischen Themen (7.2) oder über orthodoxe Frauen und die Bibel im Russland des 19. Jahrhunderts (8.2). Ein Schwerpunkt liegt auf europäischen Beispielen, aber einbezogen wurden auch etwa die Bibelauslegungen auf dem Congress of Jewish Women in Chicago im Jahr 1893 (8.2) oder Entwicklungen weltweit im 20. Jahrhundert (9.1).
Post-Kolonialismus
Das zweite Großprojekt ist der „Wisdom Commentary“, eine Kommentarreihe zu allen Schriften des Katholischen Bibelkanons, die von der amerikanischen Neutestamentlerin Barbara E. Reid (Chicago) koordiniert wird und in englischer Sprache erscheint. In an die sechzig Einzelbänden soll zu jedem Buch der Bibel ein feministischer Kommentar entstehen, der eine textorientierte Analyse mit einer hermeneutischen Kontextverortung der jeweiligen Ausleger und Auslegerinnen in verbindet.
Dadurch wird die Rezeptionsperspektive bewusst gemacht, von der her aktuelle gender-relevante gesellschaftspolitische, ökologische, interreligiöse Themen mit den biblischen Texten ins Gespräch gebracht werden. Einer der drei im Herbst 2015 erschienenen ersten Bände, der Kommentar zum Buch Micha, nimmt zum Beispiel die weltweit brisante Frage nach Land, Landbesitz, Landausbeutung, land grabbing, ökologisch verantwortetem Umgang mit Land zum Leitmotiv der Auslegung dieser prophetischen Schrift und denkt die Thematik auf die Folgen speziell für Frauen hin weiter. Die meisten Autor_innen stammen aus dem akademischen Umfeld, aber hier wurde bereits darauf geachtet, gezielt Stimmen aus den zahlreichen sich in den USA zu Wort meldenden minority groups zu gewinnen. Dazu tritt das Konzept der contributing voices, kleinen Textbausteinen, die zu Einzelaspekten des biblischen Textes einen Kurzkommentar beisteuern und von Eingeladenen auch aus dem nichtakademischen Bereich verfasst werden, um auf diese Weise das Spektrum der Stimmen und Perspektiven noch einmal zu erweitern. In diesem Sinn stellt sich das Kommentarprojekt der Herausforderung, Gender-Fragen nicht auf Geschlechterfragen engzuführen, sondern „intersektionell“ mit anderen Identitätsmarkierungen wie ethnischer Herkunft oder Hautfarbe, aber auch sexueller Präferenz, ökonomischen Verhältnissen oder gesundheitlichen Einschränkungen zusammen zu analysieren.
Postkoloniale Bibelkritik geht von der Instrumentalisierung der Bibel bei der Missionierung und Kolonisierung der Länder des Südens durch christlich-hegemoniale Mächte Europas aus. „Als die ersten Missionare nach Afrika kamen, besaßen sie die Bibel und wir das Land. Sie forderten uns auf zu beten. Und wir schlossen die Augen. Als wir sie wieder öffneten, war die Lage umgekehrt: Wir hatten die Bibel und sie das Land“ – so zitiert Musa Dube, feministische Neutestamentlerin aus Botswana, den südafrikanischen Bischof und Kämpfer gegen die Apartheid in Südafrika, Desmond Tutu. Wer sich dies bewusst macht, kann die Bibel nicht mehr unkritisch als Buch des Glaubens lesen, sondern entdeckt, dass literarische Struktur und Inhalte bestimmter biblischer Erzählungen kolonialer Logik entgegenkommen.
Musa Dube, die derzeit wohl bekannteste postkolonial arbeitende Exegetin, verweist hier insbesondere auf die Figur der Rahab im Buch Josua (Jos 2+6). Rahab, die als Hure Herrin ihres eigenen Hauses ist, versteckt die beiden von Josua nach Jericho geschickten Späher bei sich und täuscht den Suchtrupp des Königs von Jericho über deren Aufenthalt. Sie bekennt sich zum Gott Israels und bittet darum, wenn Josuas Streitmacht die Stadt erobert, mit ihrer Familie verschont zu werden. Aus einer biblischen „Binnenperspektive“ ist Rahab eine Konvertitin zum Gott Israels, die die größere Macht des einzigen und wahren Gottes anerkennt, aus einer postkolonialen Perspektive gerät ihr Handeln ins Zwielicht:
Warum desolidarisiert sie sich mit ihren eigenen Landsleuten? Warum redet sie den beiden Spionen nach dem Mund? Warum kollaboriert sie so umstandslos mit dem Feind? Ist Rahab, die Hure, des Weiteren nicht auch Symbolfigur des „willigen“ Landes, das sich seinen Eroberern gegenüber bereitwillig öffnet? Über die Figur der Rahab kann eine breite innerbiblische Linie der Abgrenzung von anderen Völkern, insbesondere von „Kanaan“ in den Blick kommen, die wiederum zum Beispiel unter dem Apartheids-Regime in Südafrika mit dazu beitragen konnte, dieses zu legitimieren. Post-koloniale Bibellektüre deckt solche Strukturen und Mechanismen auf und will dazu beitragen, sie nachhaltig zu überwinden.
Dabei bleibt sie als Kritik von Texten und Literatur nicht auf bestimmte Inhalte, etwa die Landthematik, beschränkt, sondern verbindet sich mit textanalytischen Perspektiven und Methoden, die zur Destabilisierung der Annahme eines eindeutigen Textsinns beitragen oder bisher ungehörte Stimmen im oder hinter dem Text hörbar zu machen suchen. Wer zum Beispiel mit Musa Dube das Buch Ruth postkolonial liest, kann auf die dichotomische Zeichnung der Länder Moab und Judäa aufmerksam werden. Zwar ist Moab ein fruchtbares Land, das die hungernde judäische Familie von Elimelech und Noomi aufnimmt, aber letztlich sterben die Söhne dort (Rut 1,5), während neues Leben erst wieder in Judäa geboren wird (4,13). Und auch die Figur der Moabiterin Ruth gerät unter postkolonialer Perspektive ins Zwielicht: Ist sie nicht ähnlich wie Rahab eine, die im Gefolge ihrer judäischen Schwiegermutter Noomi den Diskurs der dominanten Kultur/Religion (Israels) nur nachplappert wie ein Papagei, aber ihre Identität darüber verliert?
Für eine postkoloniale Bibelrezeption, die an ihrer Gender-Sensibilität festhalten will, erscheint deshalb die Moabiterin Orpa, die nicht mit Noomi geht, sondern bei ihrem Volk bleibt (vgl. Rut 1,14), als die geeignetere Figur. Orpas Version der Begebenheiten, die das Ruth-Buch aus der Sicht Israels präsentiert, muss hörbar werden – was jedoch nur noch über die Stimme heutiger Interpretinnen möglich ist und die Grenzziehungen zwischen wissenschaftlicher Exegese und story telling sowie zwischen dem kanonischen Bibeltext und seinen Aktualisierungen kreativ in Bewegung bringt.
Dabei soll und darf es nicht bei einer bloßen Umkehrung der Gewichtungen bleiben, sondern es ist ein „dritter Raum“ oder eine „hybride“ neue Dimension zu finden, in der Dichotomien überwunden und gleichsam in einen neuen Aggregatszustand überführt werden können.
Tanach – Bibel – Koran
Mit den Potsdamer neuen Institutionen für jüdische Studien beziehungsweise jüdische Theologie einerseits, den Instituten und Zentren für islamische Theologie (Tübingen, Erlangen-Nürnberg, Frankfurt, Münster und Osnabrück) andererseits sind in Deutschland erstmals Bedingungen für einen akademischen Dialog der drei monotheistischen Religionen „auf Augenhöhe“ geschaffen. Die Tagung zur „Rolle von Frauen in Leitungspositionen innerhalb von Glaubensgemeinschaften“, die im Herbst 2015 in Potsdam stattfand, dokumentierte das Interesse der dort ansässigen Institutionen des progressiven Judentums, der Frauen ansichtig zu werden und sie zu vernetzen, die in den letzten Jahrzehnten in Europa, Israel und Amerika in jüdischen Gemeinden Leitungspositionen erlangen konnten. Eine Auseinandersetzung mit der Bibel, dem Tanach, spielte auf der Tagung allerdings kaum eine Rolle – zu selbstverständlich mag es inzwischen sein, das Rabbinerinnen über Bibeltexte predigen oder Kantorinnen Psalmen intonieren. Dagegen stehen die islamische Theologie insgesamt und mit ihr die islamischen Theologinnen mitten in Suchbewegungen hin zu Ansätzen einer Hermeneutik des Koran, die ihn als Buch nicht nur der Barmherzigkeit, sondern auch der Geschlechtergerechtigkeit erschließen lassen.
Hier können christlich-feministische Bibelwissenschaftlerinnen derzeit manche gemeinsamen Fragen und Themenfelder entdecken. Im interreligiösen Gespräch (nicht nur) zwischen Frauen zeichnet sich allerdings auch ab, dass ein enges Fokussieren auf den Vergleich der Heiligen Schriften die theologische, institutionelle, religionspraktische, aber auch öffentlich-politische Eigendynamik der jeweiligen Religionsgemeinschaft nicht angemessen zu würdigen vermag. „Frauen ins Zentrum stellen“ bedeutet hier, sich miteinander auf einen langen Weg des wertschätzenden Austauschs über die ganze Bandbreite des Gemeinsamen wie Trennenden zu begeben, ein Weg, der vielleicht zu neuen „hybriden“ Räumen führt.