Zum aktuellen Stand der MariologieSchwester im Glauben

Maria, die Mutter Jesus ist in der Kirchengeschichte auf ganz unterschiedliche Resonanz gestoßen. Von marianischer Frömmigkeit bis hin zum vorübergehenden theologischen Abseits verläuft die Geschichte der Mariologie. Wie ist die Rolle Marias in der katholischen Kirche heute zu bewerten? Welche theologischen Debatten gibt es um sie und welche Bedeutung kann sie in einer Kirche des 21. Jahrhunderts einnehmen, nicht zuletzt für die Frauen?

Die Zeit nach der Verkündigung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Marias (1854) bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil wird wohl als das „Marianische Jahrhundert“ bezeichnet. Dieses ist gekennzeichnet durch eine überbordende Hypertrophie marianischer Frömmigkeit und Andachtspraxis sowie marianischer Verkündigung und Lehre. Nur zwei exemplarische Details dazu: Ein umfassendes Literaturverzeichnis, das die in dieser Ära verfassten Bücher zu marianischen Themen enthält, würde nach Ansicht von Experten ungefähr 100 000 Bände umfassen. Pius XII. wies voll Stolz darauf hin, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts jährlich 1000 neue marianische Vereinigungen entstanden seien. Und so könnte man im Bericht über marianischen Riesenwuchs fortfahren.

Überall handelte man nach dem Prinzip De Maria numquam satis – ganz frei übersetzt: Übertreibungen in Sachen Maria kann es gar nicht erst geben. Diese Tendenz setzte sich bis zum Zweiten Vatikanum fort. Hier erwarteten viele gewissermaßen deren „Krönung“ mit zwei neuen marianischen Dogmen: Maria – Mittlerin aller Gnaden und Maria – Miterlöserin. Doch es kam ganz anders.

In einer Kampfabstimmung wurde mit äußerst knapper Mehrheit (17 Stimmen) beschlossen, das Thema Maria in das Lehrstück über die Kirche einzuarbeiten (Lumen Gentium [LG], Nr. 52–69). Hinter dieser Entscheidung stand viel mehr als nur die Frage nach der formalen Einordnung der marianischen Thematik. Letztlich ging es darum, ob die „Privilegien-Mariologie“ der letzten Jahrhunderte weitergehen sollte, ob Maria eine selbständige Größe, losgelöst von den übrigen Gläubigen, ist oder „Schwester im Glauben“ (vgl. LG 58), ob sie „über“ der Kirche oder „in“ ihr steht. Entsprechend wurde auch der Wunsch vieler Konzilsväter, die Titel „Mittlerin“ oder gar „Miterlöserin“ von Maria dogmatisch verbindlich auszusagen, abgelehnt.

Diese Entscheidung des Konzils hatte sofort und unmittelbar eine ganz erstaunliche Reaktion an der kirchlichen Basis zur Folge: Es war, als ob sich die meisten Katholiken in Sachen Maria nun einen Mantel abstreifen würden, der ihnen ohnehin nicht mehr gepasst hatte oder der schon lange aus der Mode gekommen war. Fast von heute auf morgen gerieten Maria, marianische Glaubensverkündigung und Frömmigkeitsübungen ins totale Abseits. Es setzte eine „tiefe Krise“ ein, die „einen Kollaps in der Mariologie“ bewirkte (Joseph Ratzinger). Ein Abbruch ohnegleichen fand statt. Karl Barth, der in seinen letzten Lebensjahren ein regelmäßiger Radio-Hörer katholischer Sonntagspredigten war, stellte dabei – berichtet Hans Urs von Balthasar – „mit Befriedigung fest, er habe noch nie eine Predigt über Maria gehört. ‚Also geht es auch bei euch ohne sie‘“.

Nur noch wenige Fachtheologen, die allesamt dem eher „rechten Lager“ zuzuordnen sind, befassten sich weiterhin mit mariologischen Fragen (zum Beispiel Hans Urs von Balthasar, Ratzinger, Wolfgang Beinert, Leo Scheffczyk, Anton Ziegenaus). Das Thema Maria schien erledigt zu sein.

Neues Interesse an Maria

Doch seit etwa Ende der Siebzigerjahre begann die Aufmerksamkeit für Maria allmählich wieder ein wenig zuzunehmen. Man entdeckte in der südamerikanischen Befreiungstheologie, die bald auch in Europa lebhaftes Interesse fand, nicht nur ganz allgemein Wert und Bedeutung der sogenannten Volksfrömmigkeit neu, sondern stellte auch besonders die Maria des Magnifikat („Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen“: Lk 1,52) als wichtige exemplarische „Befreiungsfigur“ für die Kleinen und Armen heraus. Vor allem aber zeigte die – sich nun mit Macht zu Wort meldende – feministische Bewegung und darin die feministische Theologie ein neues Interesse für Maria (vgl. Beinert, Unsere Liebe Frau und die Frauen, 1989).

Für den Feminismus wird an Maria die von der Heiligen Schrift bezeugte „Mütterlichkeit Gottes“ beziehungsweise das, was Andrew Greeley „die weibliche Dimension Gottes“ nennt, anschaulich und konkret. Ein Spitzensatz der feministischen Neuentdeckung Marias, formuliert von einer Protagonistin des Feminismus, Rosemary Radford Ruether, lautet: „Wenn die Menschheit, die aus Männern und Frauen besteht, erlöst werden soll, dann muss der weibliche Teil irgendwie an diesem Erlösungswerk mitarbeitend beteiligt sein“ (Maria. Kirche in weiblicher Gestalt, München 1980, 69).

Die Kirche als Mutter und Braut

Ein weiteres Motiv für die Neuzuwendung zu Maria war und ist ekklesiologischer Art. Dazu ist ein wenig weiter auszuholen: In der ganzen frühen Christenheit wird Kirche nicht in erster Linie (wie dies nachkonziliär der Fall war) als „Volk Gottes“ verstanden. Das auch, aber eben nicht vorrangig. Die Kirche ist vielmehr erstens und vor allem „Mutter“, welche „Kinder“ durch den Glauben (und das Sakrament des Glaubens: die Taufe) „gebiert“ und damit auch Christus neu gebiert, da Gottes Sohn nicht nur in jedem einzelnen Glaubenden neu Gestalt annehmen will (vgl. Gal 4,19), sondern auch alle miteinander „Christus in seiner vollendeten Gestalt darstellen“ (Eph 4,13f) und zum Leib Christi heranwachsen sollen.

Zweitens ist die Kirche, die von Gott und Christus geliebte „Gemahlin, zum Bund mit Gott berufen, zu jenem Bund, der schon bei den alttestamentlichen Propheten mit einem ehelichen Bund verglichen, ja, mit der Hochzeit von Gott und Menschheit identifiziert wird (vgl. zum Beispiel Jes 54,5), kurz: die Kirche ist die „Braut des Lammes“ (Offb 21,2), die „Jungfrau“, die in radikaler Offenheit und Verfügbarkeit für Gott und seinen Ruf bereitsteht. Eben das ist der ursprüngliche Sinn von Jungfräulichkeit, weswegen auch in der ganzen Zeit der Patristik die der Jungfräulichkeit zugeordnete Tugend nicht etwa – wie später – die Keuschheit, sondern der Gehorsam, das Verfügbarsein ist.

Maria contra „grässlich vermännlichte“ Kirche

Dieses eminent geistliche, ja mystische Kirchenverständnis, das sich in den beiden genannten Größen: Mutter und Gemahlin/Jungfrau niederschlägt, findet in Maria ihre personale Gestalt: Wie der Mensch in und durch die Kirche Christus im Glauben empfängt, so hat Maria Christus durch den Glauben empfangen; wie die Kirche (und darin jeder Einzelne) Christus gebiert, so hat Maria ihn geboren; wie die Kirche sich als jungfräulich versteht (vgl. 2 Kor 11,2) und gerade so in Fülle fruchtbar ist, so auch Maria. Das war der Grund, warum in der frühen Kirche Maria und Kirche miteinander identifiziert wurden: Maria ist die Kirche. In Maria wird – so Ratzinger – Kirche „in ihrer persönlichen Form erkennbar. Nicht die Person ist in der Theologie auf die Sache zurückzuführen, sondern die Sache auf die Person“. In diesem Sinne ist Maria die Kirche in Person.

Diese altkirchliche Mariologie als Ekklesiologie war seit dem Mittelalter und erst recht im sogenannten „Marianischen Jahrhundert“ weithin vergessen. Der damit gegebene Verlust einer zutiefst „geistlichen“, ja „mystischen“ Glaubens- und Kirchenerfahrung hatte und hat auch erhebliche Konsequenzen für das konkrete kirchliche Leben. Schon 1955 verteidigte Teilhard de Chardin in einem Brief an Maryse Choisy die Entwicklung des Marienkultes in der Kirche damit, dass dieser einer „grässlich vermännlichten“ Vorstellung des Göttlichen abhilft, aber er hilft auch einer „grässlich vermännlichten“ Kirchenrealisierung sowie einer un-, um nicht zu sagen, anti-mystischen Verwirklichung des Glaubenslebens ab. Dies ist eines der neueren Motive, sich wiederum mit Maria zu befassen.

Das folgende längere Zitat von Hans Urs von Balthasar bringt die Sache auf den Punkt: „Die nachkonziliare Kirche hat ihre mystischen Züge weitgehend eingebüßt, sie ist eine Kirche der permanenten Gespräche, Organisationen, Beiräte, Kongresse, Synoden, Kommissionen, Akademien, Parteien, Pressionsgruppen, Funktionen, Strukturen und Umstrukturierungen, soziologischen Experimente, Statistiken: mehr als je eine Männer-Kirche, es sei denn ein geschlechtsloses Gebilde, in dem die Frau ihren Platz so weit erobern wird, als sie bereit ist, selber ein solches zu werden. Was soll man gar von der ‚politischen Theologie‘ und vom ‚kritischen Katholizismus‘ sagen: sie sind Diskussionsmodelle für Theologieprofessoren und anti-repressive Studenten, schwerlich für eine immer auch aus Kindern, Frauen, Greisen, Kranken und nicht aus bloß saftigen jungen Männern bestehende Gemeinde. Sollten diese typisch männlichen und abstrakten Erfindungen nicht deshalb das Feld beherrschen, weil die innerste Fraulichkeit, die Marianität der Kirche preisgegeben wurde? Ohne Mariologie droht das Christentum unter der Hand unmenschlich zu werden. Die Kirche wird funktionalistisch, seelenlos, ein hektischer Betrieb ohne Ruhepunkt, in lauter Verplanung hinein verfremdet. Und weil in dieser mann-männlichen Welt nur immer neue Ideologien einander ablösen, wird alles polemisch, kritisch, bitter, humorlos und schließlich langweilig, und die Menschen laufen in Massen aus einer solchen Kirche davon.“

Danach besteht also die „grässliche Vermännlichung“ der Kirche nicht etwa in der Nichtzulassung von Frauen zum Weiheamt, sondern in den typisch männlichen Verhaltensweisen, die, jedenfalls im Westen, das kirchliche Leben durch und durch prägen: Machtspiele ausüben, sich als allzuständiger homo faber gebärden, alles aufs Funktionieren und Organisieren kurzschließen, Effizienz als Handlungsmaßstab nehmen, „auf das Renommee des Apparats bedacht sein“ (Karl Rahner), mit rechten oder linken Parolen moralisieren. Wenn Kirche nicht ein frauliches Antlitz annimmt, wenn sie nicht – wie die frühe Theologie sagt – „Maria wird“, werden weitere schlimme Konsequenzen nicht ausbleiben.

Das war und ist der Grund, warum sich in den letzten Jahren eine Reihe von Theologen wieder neu mit der Mariologie befasst haben. Um nur einige größere Werke zu nennen: In den letzten Jahren erschienen allein zwei Untersuchungen zur Mariologie Karl Rahners (Dominik Matuschek, Konkrete Dogmatik, Innsbruck 2012; Andreas Mayer, Karl Rahners Mariologie im Kontext seiner transzendentalsymbolischen Theologie, Münster 2015), wobei Rahner es war, der schon Jahrzehnte zuvor sowohl die anthropologischen wie die ekklesiologischen Konsequenzen der Mariologie besonders hervorgehoben hatte. Während Achim Dittrich sich in einer fast 1200 Seiten umfassenden Studie „Mater Ecclesiae“ mit der Mütterlichkeit der Ecclesia-Maria befasst (Würzburg 2009), stellt Klaus W. Hälbig mit seiner „Krönung der Braut. Gottes Vermählung mit der Welt in Maria“ die „Bräutlichkeit“ der Maria-Kirche nachdrücklich heraus (St. Ottilien, 2014).

Auch ich selbst habe versucht, in der Studie „Maria-Ecclesia“, die Mariologie für verschiedene Gebiete der Theologie, Spiritualität und Kirchenpraxis wieder neu fruchtbar zu machen. Das Axiom des Angelus Silesius: „Ich muss Maria sein / und Gott aus mir gebären, / soll er mich ewiglich / der Seligkeit gewähren“, ein Axiom, das schon auf Origenes zurückgeht, war hier ein wichtiger Leitfaden.

Dialog der Religionen nicht ohne Maria

Ein letztes Motiv für die erst seit kurzem intensivierte neue Beschäftigung mit Maria ist der Dialog mit – auf ganz unterschiedlichen Ebenen gegebener – nichtkatholischer Religiosität. Als „Ikone des Dialogs“ (Michael Fuß) zeigt sich Maria als eine Vermittlungsgestalt. Vermittlung einmal zu Israel. „Alle Mariendogmen führen über Jesus Christus zurück zu der Wurzel Israel. Die Mutter des Messias bildet die Brücke zwischen Altem und Neuem Testament. Maria ist das Realsymbol für die Einheit von Synagoge und Kirche als der einen Braut Gottes. So kann die Theologie in der Person Marias hinter die erste und uralte Aufspaltung des Gottesvolkes zurückgehen: hinter die Aufspaltung zwischen Juden und Christen.“ So lautet die zusammenfassende These der wichtigen Studie von Gerhard Lohfink und Ludwig Weimer „Maria – nicht ohne Israel“ (Freiburg 2013).

Auch der innerchristlich-ökumenische Dialog kann an Maria nicht vorübergehen. Da in ihrer Gestalt „fast alle theologischen Linien zusammenlaufen,“ fallen in der Mariologie „Entscheidungen, die für das Ganze unseres Glaubens aufschlussreich sind. Umgekehrt enthüllen die theologischen Erkenntnisse in der Christologie, in der Ekklesiologie und in der Gnadenlehre ihre Tragweite in der Mariologie“, formulierte Michael Schmaus schon 1955. So gesehen scheint die Mariologie „geradezu der riesige Stein des Anstoßes zu sein, der hinter den bereits ausreichend schweren Dissensen über Amt, Ekklesiologie und Eucharistie noch wartet, um weitere ökumenische Fortschritte endgültig zum Scheitern zu bringen“ (Martin Leiner).

Besser würde ich allerdings formulieren: … noch wartet, um mit ihrer Hilfe herauszustellen, ob und inwieweit die bisherigen Konsense wirklich tragfähig sind. Dabei bin ich nicht einmal so pessimistisch wie Leiner. Denn seit einigen Jahren gibt es auch im evangelischen Bereich ein neues Interesse an Maria. Schließlich – so der evangelische Pfarrer Manfred Gerland – ist es eine „geistliche Armut“, dass Maria jahrhundertelang in den evangelischen Kirchen „noch nicht einmal die Anerkennung und Würdigung bekommen“ hat, die ihr selbst „die Evangelien zukommen“ ließen.

In der Tat, was ist eigentlich das sola scriptura wert, wenn man selbst eindeutigen Aussagen wie „Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter“ (Lk 1,48) die kalte Schulter zeigt? Hier dürfte gegenwärtig eine gewisse Trendwende erfolgen. Zwar scheint mir die Aussage des evangelischen Theologen Michael Heymel: Maria nimmt „in der allgemeinen theologischen und kirchlichen Situation der Gegenwart eine Schlüsselstellung ein“, maßlos übertrieben zu sein, aber die beiden (sehr unterschiedlichen) Konsenspapiere „Communio Sanctorum“ (Deutsche Bischofskonferenz und Kirchenleitung der Evangelisch-lutherischen Kirche Deutschlands) sowie „Maria in Gottes Heilsplan und in der Gemeinschaft der Heiligen“ (Gruppe von Dombes) zeigen ein erstaunliches Einander-Sich-Nähern in Sachen Maria.

Schließlich kann auch der Dialog der Weltreligionen nicht an ihr vorbeiführen. In vielen großen Religionen (vor allem im südamerikanischen und asiatischen Raum) spielen weibliche Gottheiten eine gewaltige Rolle, ob es nun die andinische Pachamama, die Vielzahl hinduistischer Göttinnen oder der fernöstliche Buddha (dessen Vergleichsgröße – wie Michael Fuß, Religionswissenschaftler an der Gregoriana, Rom, gezeigt hat – nicht etwa Christus, sondern Maria ist). Diese Bedeutung weiblicher Gottheiten zeigt – so schon 1939 Karl Prümm –, dass der „Mutterkult“ eine „Menschheitsanlage“ ist und aus diesem Grund die Herausstellung Marias eine „moralische Notwendigkeit“.

Eugen Drewermann konkretisiert: „Eine Welt wie die unsre bedarf seelisch ganz offenkundig der ergänzenden Wahrheit der Großen Mutter, und diese als eine ewige, göttliche Wahrheit (wieder-)zuentdecken und zu bestätigen, ist eine unausweichliche, lebensnotwendige Reaktion des katholischen Glaubens auf das an sich selbst erkrankte Lebensgefühl der Zeit.“ Dieser Dialog mit den Weltreligionen steht noch ganz im Anfang. Aber sicher dürfte sein, dass dabei Maria in Zukunft eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen wird.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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