Die Gülen-Bewegung ist „die am schnellsten wachsende Strömung unter Bürgern mit türkischen Wurzeln“ (Günter Seufert, Überdehnt sich die Bewegung von Fethullah Gülen?, SWP-Studien, Berlin 2013) in Deutschland. Weltweit in über 170 Ländern sind Vereine und Initiativen der Bewegung, die von dem türkischen charismatischen Prediger Fethullah Gülen inspiriert sind, erfolgreich, und dies vor allem in den Bereichen Wirtschaft, Medien und Bildung. In Deutschland betreiben Gülen nahestehende Träger weit über 300 Kultur- und Bildungsvereine und außerschulische Nachhilfeeinrichtungen (Bekim Agai, in: Ursula Boos-Nünning u. a. [Hg.], Die Gülen-Bewegung zwischen Predigt und Praxis, Münster 2011, 29), fast 30 Schulen, viele Kindertagesstätten, 15 Dialoginstitutionen, je etwa ein Dutzend Akademiker- und Unternehmerverbände sowie die internationale Mediengruppe World Media Group AG in Offenbach am Main, unter deren Dach Zeitungen (wie Zaman Avrupa), Radio- und Fernsehsender (wie Samanyolu TV Avrupa und Ebru TV), Zeitschriften (zum Beispiel Fontäne) wie auch beispielsweise das Deutsch-Türkische Journal (DTJ), ein Online-News- und Debatten-Portal, vereint sind. Viele der Nachhilfevereine, etwa die Pangea-Bildungszentren, sind im Academy Verein für Bildungsberatung e.V. (Frankfurt am Main) organisiert. Tatkräftige Unterstützung kommt aus der mittelständischen Wirtschaft.
Im Bundesverband der Unternehmervereinigungen (buv, seit 2010) sind etwa zwanzig regionale Mitgliedsverbände mit rund 5000 Unternehmen registriert. Die Homepage nennt folgende Zahlen: Zwanzig Mitgliedsvereine, 3000 Mitglieder und 40 000 Mitarbeiter (http://buv-ev.de). In der Türkei haben sich die Unternehmer unter dem Dach der TUSKON („Turkish Confederation of Businessmen and Industrialists“) zusammengetan. Hier und in den Schul- und Kursgebühren liegen die Haupteinnahmequellen der Gülen-Bewegung (vgl. dazu auch Helen R. Ebaugh, Die Gülen-Bewegung. Eine empirische Studie, Freiburg 2012).
Seit Ende 2013 ist die Stiftung Dialog und Bildung in Berlin das offizielle Gesicht der Bewegung in Deutschland. Kaum eine andere islamische Bewegung wird so kontrovers beurteilt wie die Gülen-Bewegung. Sie besteht aus einem inneren Kreis von Schülern und engagierten freiwilligen Mitarbeitern, mit Unterstützern und informellen Sympathisanten sollen es weltweit mehrere Millionen Anhänger sein. Das Netzwerk übt nach innen eine strenge Disziplin, versteht sich jedoch nicht als politische oder ideologische „Organisation“, ebenso wenig als religiöser Orden oder Bruderschaft, sondern als „eine einmalige und einzigartige moderne soziale Bewegung“. Die freilich ist nicht säkular, sondern religiös motiviert: „Die treibende Kraft hinter ihren uneigennützigen Aktivitäten ist die Religion“ (M. Enes Ergene, Das neue Gesicht des Islam. Die Bewegung um Fethullah Gülen, Offenbach 2008). Von Befürwortern wird ihr aktives Engagement für Bildung als wichtiger Beitrag zur Förderung und zur Integration der durch sie angesprochenen türkischen Milieus bewertet. Ihre Bildungseinrichtungen werden weithin gelobt, von „Traumschulen“ ist die Rede. Die Gülen-Bewegung gilt als moderne, reformorientierte Bewegung mit einem moderaten Islamverständnis – liberal, unpolitisch und dialogisch.
Außen- und Innenwahrnehmung
Kritiker hingegen weisen auf die Intransparenz der hierarchischen Strukturen und die mangelnde Kommunikation über die Bedeutung des religiösen Hintergrunds für die Ziele der Bewegung hin. Manche werfen ihr gar eine verborgene Agenda vor und sprechen von einer sektenähnlichen Organisation, oder sehen in Fethullah Gülen einen islamistischen Wolf im demokratischen Schafspelz. Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg legte 2014 eine gründliche Bestandsaufnahme zum Thema vor und attestiert der Bewegung, es bleibe „die Diskrepanz zwischen dem nach außen hin vermittelten Bemühen um Konsens und Dialog und der religiös-ideologischen Grundlage, auf welcher sich das Handeln der Gülen-Bewegung insgesamt vollzieht und die auch für den Bildungsbegriff Gülens prägend ist“ (Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, Bericht über die Prüfung tatsächlicher Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen der Bewegung um den türkischen Prediger Fethullah Gülen, Stuttgart, Juli 2014, vgl. www.verfassungsschutz-bw.de).
Zur Geschichte
Fethullah Gülen wurde 1941 (oder 1938) in einem religiös konservativen Umfeld im Nordosten der Türkei geboren und genoss nur wenige Jahre staatlichen Schulunterricht, während er in staatsunabhängigen islamischen Medresen eine traditionelle religiöse Bildung erhielt. Er schloss sich der sufischen Nurculuk-Bewegung an und konnte als Imam und Wanderprediger seit den sechziger Jahren immer mehr Menschen begeistern, sich für die Verbindung von islamischer Frömmigkeit und gesellschaftlichem Engagement einzusetzen. Ein wichtiges Mittel waren neben seinen Büchern die Predigten, die auf Audio- und Videokassetten weite Verbreitung fanden und nicht zuletzt auf die aufstrebende türkische Mittelschicht einen wachsenden Einfluss nahmen. In den siebziger Jahren entstanden die ersten „Lichthäuser“ (ışık evleri), geschlechtergetrennte Wohngemeinschaften, in denen motivierte Schüler und Studenten zusammen leben und im Sinne der Ideen Gülens gefördert werden.
Gülen stellte sich trotz einer Inhaftierung nach dem zweiten Militärputsch in der Türkei 1971 auf die Seite der herrschenden Ordnung (so auch 1980) und sprach sich gegen eine Politisierung des Islam aus. Im Blick auf die Gesellschaftsform und den Staat machte er Zugeständnisse, da ihm nicht an einer direkten „Islamisierung“ des bestehenden Systems durch aktive Teilnahme am politischen Geschehen liegt, sondern an der Heranbildung einer Elite, die zur Staatsführung nach islamischen Werten wirklich befähigt und in der Lage sei, sich gegen den Westen zu behaupten. So ging er zu Necmettin Erbakans islamistischen Ambitionen und damit auch zu den Aktivitäten von Milli Görüş regelmäßig auf Distanz.
Dies brachte ihm enorme Handlungsspielräume und nach anfänglicher Duldung durch den Staat später auch die aktive Unterstützung säkularer Regierungen ein, die ihrerseits für ihre eigene Machtpolitik Ideen Erbakans und Gülens adaptiert hatten. Inhaltlich standen sich Gülen und Erbakan wie auch Gülen und Recep Tayyip Erdoğans AKP immer nahe (vgl. dieses Heft, 21–22). Der Widerstand gegen „Verwestlichung“, die Betonung der türkisch-islamischen Synthese, Ressentiments gegen Nichtmuslime und eine Verklärung des Osmanischen Reiches als Vorbild und Avantgarde der islamischen Welt waren und sind gemeinsame Kennzeichen, ebenso die Bereitschaft, individuelle Freiheiten zugunsten der großen islamischen Idee grundsätzlich zurückzustellen (Seufert, Überdehnt sich die Bewegung von Fethullah Gülen?).
Seit den frühen achtziger Jahren konnte sich die Bewegung mit einem Netzwerk aus Schulen, privaten Nachhilfeeinrichtungen (dershane), Medien und Wirtschaftsunternehmen etablieren. Ab den neunziger Jahren vollzog sich eine Internationalisierung, zunächst vor allem Richtung Balkan und kaukasische Turkrepubliken. Die ersten Vereine in Deutschland wurden 1994 gegründet. Zur Öffnung nach außen gehört auch eine Betonung von interkulturellen Dialoginitiativen und zunehmend auch interreligiösen Begegnungen.
1999 kehrte Gülen von einer USA-Reise nicht wieder in die Türkei zurück und lebt seither im selbstauferlegten Exil. Kritiker sind überzeugt, dass Gülen sich einer Inhaftierung entziehen wollte, die ihm aufgrund eines Videos drohte, in dem er zur Unterwanderung des staatlichen Systems aufgerufen haben soll. Seine Unterstützer sagen, das Video sei gefälscht worden, der Grund für den USA-Aufenthalt sei die medizinische Behandlung des „hochverehrten Lehrers“, wie Gülen genannt wird (Hocaefendi). 2008 wurde Gülen in Abwesenheit von den Vorwürfen in der Türkei freigesprochen. Doch verstummt sind die Stimmen der Gegner nicht.
Neue Nahrung erhielten sie durch die erdbebenartigen Verwerfungen in der politischen Landschaft der Türkei seit Herbst 2013, als das Ausmaß der gezielten Einnahme einflussreicher Positionen durch Gülen-Anhänger im Sicherheitsapparat und in der Justiz der Türkei – wie immer man die Vorgänge im Einzelnen bewertet – offenkundig und auch von keiner Seite mehr bestritten wurde. Über Jahre haben die Regierungspartei AKP und Gülens Anhängerschaft mit großen inhaltlichen Übereinstimmungen kooperiert. Die symbioseähnliche Allianz nutzte der Gülen-Bewegung für die systematische Kaderbildung und die Besetzung wichtiger Schlüsselpositionen in der Bürokratie, der Polizei, der Justiz und teilweise im Militär sowie der AKP für den Machtaufbau und -ausbau seit ihrem Wahlsieg 2002.
Spätestens die Uneinigkeit in der Beurteilung der Gaza-Solidaritäts-Flottille (Aktion Mavi Marmara) im Mai 2010 offenbarte jedoch tiefergehende Differenzen zwischen Gülen und der AKP, 2011 kam es in der Kurdenfrage und 2013 bei den Gezi-Park-Protesten zu erheblichen Divergenzen.
Gülen gegen Erdoğan
Schließlich brachte die Androhung, die mehrheitlich von der Gülen-Bewegung betriebenen Dershanes zu schließen, das Fass offenbar zum Überlaufen. Knapp 4000 dieser profitablen privaten Vorbereitungs- und Nachhilfeschulen soll es in der Türkei geben, sie stellen wohl eine der Haupteinnahmequellen der Gülen-Bewegung dar und erscheinen für die Rekrutierung des Nachwuchses unverzichtbar. Seither tobt in der Türkei ein erbitterter Machtkampf zwischen dem früheren Premierminister und jetzigen Präsidenten Erdoğan und Fethullah Gülen.
Dieser hatte schon Ende 2012 selten scharf zum Widerstand aufgerufen: „Wenn sie eure Häuser schließen, öffnet Wohnheime. Wenn sie eure Wohnheime schließen, öffnet neue Häuser. Wenn sie eure Schulen schließen, gründet eine Universität. Wenn sie eure Universität schließen, gründet zehn neue Schulen. Ihr dürft nie aufhören zu marschieren“ (zitiert nach Boris Kálnoky, Mächtige Gülenisten werden Erdogan gefährlich, in: Die Welt, 24. Dezember 2012). Im Juli 2015 meldeten türkische Medien, dass das Gesetz zur Schließung der privaten Nachhilfeschulen durch das türkische Verfassungsgericht für rechtswidrig erklärt und aufgehoben wurde.
Inhaltliche Schwerpunkte
Die Anhängerinnen und Anhänger Fethullah Gülens bevorzugen seit einiger Zeit die Bezeichnung „Hizmet“. Das heißt auf Türkisch „Dienst“ und meint den Dienst für Gott, der sich mit dem „Dienst an der Menschheit“ verbindet. Diener ist ein theologisch zentraler Begriff der islamischen Anthropologie: Der Mensch ist zuerst und vor allem Diener Gottes („Abd Allah“; vgl. Sure 1:5; 2:21; 19:93; 51:56).
Dieser Dienst ist der Inbegriff der Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer und umfasst alle Lebensbereiche. „Ein erfolgreiches Dienen im Islam in Übereinstimmung mit dem Weg des Propheten ist nur durch eine Islamisierung des Lebens mit all seinen Institutionen möglich“ (Gülen, Der Prophet Muhammad als Befehlshaber, Izmir o. J., IV). Dabei führt der Weg zum Wohlwollen Gottes und zu einem ewigen Leben im Himmel über „den Dienst an unseren Familien“ bis hin zum „Dienst an der Menschheit und der Schöpfung“ (Gülen, Aufsätze, Perspektiven, Meinungen, Mörfelden-Walldorf 2004). Dialog, Toleranz, Bildung werden so zu zentralen Konzepten des Selbstverständnisses und der vielfältigen Aktivitäten der Gülen-Dienstgemeinschaft.
Charakteristisch ist die Verbindung einer konservativen Frömmigkeit hanafitischer Prägung mit zeitgemäßer säkularer Bildung und modernen Kommunikationsformen. Es war Said Nursi (1879–1960), der diesen Weg für eine effektive Mitgestaltung der modernen Welt vorzeichnete. Im laizistischen Kontext der türkischen Republik schien eine (Re-)Islamisierung der Gesellschaft im Sinne der islamischen Ideale und die Läuterung der Gesellschaft zur islamischen Pflichterfüllung am besten auf dem Wege säkularer Bildung möglich. Der Gründer der Nurculuk-Bewegung vertrat offensiv nicht nur die Vereinbarkeit von Wissenschaft – gemeint ist vor allem die Naturwissenschaft – und Islam, sondern auch, dass Wissenschaft zur Festigung des islamischen Glaubens genutzt werden könne.
Bekim Agai schreibt: „Nur mit Hilfe der Wissenschaften erschien es ihm [Said Nursi] möglich, Widerstand gegen die Fremdbestimmung durch die europäischen Kolonialstaaten zu leisten, die auf technischer Überlegenheit und der Rückständigkeit der eigenen Gesellschaft beruhte. Mit einem Dschihad mit den Waffen Wissenschaft und Industrie sollte gegen die drei Hauptfeinde des Islam vorgegangen werden: Unwissenheit, Armut und Zwietracht. Hiermit würde man dann auch zur Unabhängigkeit von den westlichen Nationen gelangen.“ (Zwischen Netzwerk und Diskurs, Bonner Islamstudien, Band 2, Hamburg-Schenefeld 2008). Die Überwindung der Trias „Unwissenheit, Armut, Zwietracht“ wird in Gesprächen mit Vertretern der Gülen-Bewegung immer wieder genannt, wenn es um die Beschreibung der eigenen Motivation geht.
Gülen nimmt zentrale Gedanken Said Nursis auf und entwickelt sie weiter. Der Islam ist demzufolge durch die Verbindung, ja die Einheit von Wissenschaft und Glauben anderen Religionen überlegen. Die Religion sei eine „Straße zur Vervollkommnung der Menschen“, und „eine Wissenschaft, die den Menschen nicht in Richtung der erhabenen Ziele führt, ist ein Trugbild“. An anderer Stelle hält Gülen fest: „Die Religion leitet die Wissenschaft an, bestimmt ihr wahres Ziel und stellt ihr moralische und universelle menschliche Werte zur Verfügung“ (Gülen, Aufsätze, Perspektiven, Meinungen).
Eine solche „Islamisierung des Wissens“ zielt nicht auf eine „islamische“ Wissenschaft, sondern schreibt bestehenden, säkularen Bildungsformen religiöse Relevanz für gläubige Muslime zu. So weisen die privaten, staatlich anerkannten Bildungseinrichtungen keine religiösen Fächerschwerpunkte auf. Offiziell gibt es keine islamische Unterweisung, inoffiziell gibt es freilich Lehre und Schulung im Sinne Gülens und Said Nursis in verschiedenen Formaten, beispielsweise in den „Lichthäusern“, internen Gesprächskreisen (sohbets) und Wochenendkursen.
Die islamische Religion wird ganzheitlich verstanden als Regelsystem für alle – privaten und öffentlichen – Lebensbereiche und daher immer allen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systemen überlegen, die jeweils nur Teilsysteme sein können (Gülen, Aufsätze, Perspektiven, Meinungen). Gülen formuliert teils moderat, teils explizit: So stellt er die Demokratie als menschliche, variable Größe dar, die gegenüber der Religion, die „Regeln und Werte für das menschliche Leben“ bereithält, als defizitär, genauer als entwicklungsfähig und -bedürftig erscheint (Was ich denke, was ich glaube, Freiburg 2014).
Die Vision einer muslimischen Gesellschaft
Die Vermittlung der „Regeln und Werte“ der (islamischen) Religion ist in den Kontext des Naqschbandi-Sufismus eingebunden, der neben der Gemeinschaftsdisziplin und der völligen Hingabe der Schüler an den Meister insbesondere von dem Ineinandergreifen der spirituellen und der soziopolitischen Dimension geprägt ist.
Es weckt falsche Assoziationen, wenn Gülen mit Reformislam in Verbindung gebracht wird. Das „neue Gesicht des Islam“ (M. Enes Ergene) besteht nicht in einer Reformtheologie, sondern in einem innovativen islamischen Denken, das den (orthodoxen sunnitischen) Islam als gesellschaftliche Kraft stärken soll. „Die Gülen-Bewegung ist eine hierarchisch strukturierte religiöse Gemeinde mit einer zivilgesellschaftlichen Mission, die zudem einen ausgeprägten politischen Gestaltungswillen hat“, schreibt Günter Seufert. Gülens Ziel sei es, „muslimische Moralität und Sittlichkeit wiederherzustellen und genügend Rückhalt zu sammeln für seine Vision einer muslimischen Gesellschaft“ (Überdehnt sich die Bewegung von Fethullah Gülen?)
Die normative Geltung der positivistisch aufgefassten islamischen Regeln, die auf Koran und Sunna beruhen, die Ablehnung individueller Lebensentwürfe, der unbedingte Gehorsam im Dienst an der Gemeinschaft, die vom Islam bestimmt werden soll – all das hat Gülen nie relativiert oder zurückgenommen.
Nun sind bestimmte Frömmigkeitsprägungen, auch Eigenwerbung und Lobbyarbeit, ja auch Mission für bestimmte Formen von Religiosität weder verboten noch als solche kritikwürdig. Nicht wenige der für Gülen charakteristischen inhaltlichen Positionen können analog auch für christliche oder andersreligiöse Gruppierungen genannt werden. Probleme entstehen gleichwohl aus zwei Richtungen. Wird eine religiöse Perspektive nicht als eine mögliche im Konzert der unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen religiösen Perspektiven in einer pluralen Gesellschaft verstanden, sondern als göttliches Prinzip beziehungsweise übergreifender Deutungshorizont mit Gültigkeit für alle, das heißt die Gesamtgesellschaft aufgefasst, ist die Bejahung einer säkularen Gesellschaftsordnung nicht mehr als ein Lippenbekenntnis.
Damit muss sich in erster Linie die Gülen-Bewegung auseinandersetzen. Wird Religion im Wesentlichen als „Privatsache“, als innere Einstellung und Quelle ethischer Handlungsorientierungen aufgefasst, was einem weitverbreiteten Vorurteil entspricht, besteht die Gefahr, den gesellschaftspolitisch brisanten Kern des in der Gülen-Bewegung vorherrschenden Islamverständnisses gar nicht in den Blick zu bekommen. Hier ist die „Mehrheitsgesellschaft“ gefragt.
Fragen betreffen also in erster Linie das Verhältnis und den Zusammenhang zwischen dem Diskurs, der nach außen geführt und von Begriffen wie Dialog, Toleranz und Bildung bestimmt wird, und der religiös-ideologischen Ausrichtung und Zielsetzung der inneren Kreise der Bewegung. Dabei ist natürlich nicht davon auszugehen, dass jedem einzelnen Gülen-Getreuen alle genannten Positionen geläufig sind, geschweige denn, dass jeder alles unterschreiben würde. Die Bewegung ist flexibel, dezentral und pragmatisch aufgestellt. Der Zusammenhang zwischen dem Einsatz der „Gülen-Inspirierten“ für zeitgemäße säkulare Bildung und Gülens islamischer Vision für Deutschland und Europa ist jedoch erhebbar und wird weithin unterschätzt.