Corpus Coranicum ist weltweit das einzige Projekt, das die Basis für eine historisch-kritische Textkritik des Korans schaffen will. In den ersten Jahren seiner Arbeit hat das Vorhaben die Entwicklung eines geeigneten textkritischen Apparats zum Koran vorrangig betrieben und sieht seine Dokumentation von Handschriften und Lesarten in islamischen Quellenwerken als digitale Umsetzung des in den späten zwanziger Jahren von Gotthelf Bergsträßer (1886–1933) an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften eingerichteten Korankommission, die Otto Pretzl (1891–1941) weiterführte, die aber den Zweiten Weltkrieg nicht überdauerte.
Literaturwissenschaftliche Methode
Über die Auswertung von Handschriften und Lesarten hinaus wurde dabei auch der Prototyp einer digitalen Dokumentation spätantiker koranrelevanter Texte mit dem Titel „Texte aus der Umwelt des Korans“ entwickelt. Der literaturwissenschaftlich-chronologische Kommentar steht damit auf einer soliden Grundlage und bietet eine Synthese, die die innertextliche Chronologie der 114 Suren mit literaturwissenschaftlichen Methoden herausarbeitet.
Der Kommentar des Vorhabens ist innerhalb der westlichen Forschung der erste seiner Art und konzentriert sich nicht auf Einzelverse, sondern gelangt über die in der Bibelwissenschaft etablierten Schritte der Literarkritik, Formkritik und Redaktionskritik zu einer historisch und hermeneutisch gesicherten Auslegung des Textes als eines Zeugnisses der Spätantike.
Die bereits in den ältesten Kodizes respektierte und durch Kompositionsstudien bestätigte Einheit „Sure“ wird als Untersuchungseinheit zugrunde gelegt, das Projekt geht also nicht von Einzelversen, sondern von der Sure als Ganze aus (vgl. Angelika Neuwirth, Studien zur Komposition der mekkanischen Suren, Berlin 2007). Der Kommentar folgt dabei den Basisdaten der islamischen Tradition, die den Koran als Verkündigung des Propheten Muhammad an eine werdende Gemeinde in Mekka (610–622) und dann in Medina (622–632) beschreibt. Über den Einschnitt der Hidschra nach Medina (622 n.Chr.) hinaus, der eine unverkennbare Wende der Verkündigung einleitete, lassen sich auch für Mekka weitere Entwicklungsperioden unterscheiden. Das Projekt folgt im Groben Theodor Nöldekes (Geschichte des Qorans, zweite Auflage 1909) Unterteilung der mekkanischen Suren in drei Perioden, kann diese Periodisierung aber durch formkritische und hermeneutische Kriterien inzwischen verfeinern.
Dabei ergibt sich das Bild eines während der beiden Entstehungsjahrzehnte stetig anwachsenden Textes, dessen Wachstumsprozess sich aber nicht nur im Hinzukommen neuer Suren manifestiert, sondern ebenso in der nachträglichen Erweiterung von bereits vorgetragenen Suren. Hier lässt sich die exegetische Vervollständigung einzelner Verkündigungen beobachten, die im Licht von neuen Einsichten und Entwicklungen eine neue Lektüre erforderten, ohne dass aber bereits kommunizierte Texte ersetzt wurden. Diese „Zickzack-Bewegung“ der Verkündigung liefert ein starkes Argument für die Historizität des Verkündigungsereignisses als Nukleus der Korangenese – gegen die immer noch verbreitete Annahme einer Kompilation durch anonyme Redaktoren.
Gestützt auf die von François Déroche entwickelte Klassifizierung früher arabischer Schriftstile hat das Vorhaben erstmalig einen systematischen Überblick über die ältesten Handschriften online zugänglich gemacht, mit mehr als 7500 Bildern und mehr als 800 Seiten digitalisierter arabischer Texte.
Da die Datierung der Handschriften hier entscheidend ist, hat das Vorhaben – unter Mitarbeit von Tobias Jocham – neben der paläographischen Datierung erstmalig eine systematische Radiokarbon-Messkampagne früher Koranpergamente (und einiger Papyri) durchgeführt, von denen die Messergebnisse von Koranhandschriften aus Leiden, Tübingen und Berlin großes Medienecho erfuhren. Es wurde nachgewiesen, dass frühe Koranhandschriften offenbar älter sind als bislang angenommen.
Auch die Zahl der frühen Textzeugen (vor 750 n.Chr.) insgesamt ist beeindruckend hoch: rund 60 Textfragmente mit mehr als 2000 Blättern (mehr als 4000 Seiten) sind bekannt, die mit nur ein paar Lücken den gesamten Korantext enthalten. Die Quellenlage ist hier, verglichen mit der Überlieferung des Neuen Testaments, beeindruckend früh. Um diese frühe schriftliche Fixierung historisch zu verstehen, muss miteinbezogen werden, dass mit dem Islam auch ein erstes arabisches Reich entstand, in dem den Gelehrten andere materielle Möglichkeiten zur Verfügung standen als den ersten Christen vor der Zeit Konstantins. Sicherlich fällt durch die frühe Datierung auch ein neues Licht auf die Verwendung der Schrift unter den ersten islamischen Gelehrtengenerationen. Viele Lesarten wird man vielleicht als Ausdeutungen eines allgemein verbreiteten schriftlichen Textes (textus receptus) verstehen müssen.
In einem eigens entwickelten Digitalisierungsverfahren wird der arabische Text zusammen mit einem Bild so angegeben, wie er in der Handschrift erscheint. Diakritische Punkte werden dann notiert, wenn sie erscheinen. Der frühe Text wird dem Original getreu digital notiert und ist damit auch digital durchsuchbar. Die Schreibung in den ältesten Handschriften zeigt dabei starke Gemeinsamkeiten mit dem heute verbreiteten Text, wenn auch nicht in allen Details. Corpus Coranicum hat den Text des ägyptischen Drucks des Korans von 1924, der in der Druckausgabe von Medina weiterlebt und die wahrscheinlich heute am meisten verwendete Druckausgabe der Gegenwart ist, als Referenzpunkt gewählt und notiert im digitalen Text die Differenz zum „Kairiner Text“.
Die Forschungen und Publikationen des Istanbuler Gelehrten Tayyar Altıkulaç stellen bislang den einzigen systematischen Forschungsansatz zu Koranhandschriften in der islamischen Welt dar; ob aus diesen Aktivitäten einmal eine neue Textausgabe (mit historisch belegter Schreibung) entstehen soll, lässt sich nur schwer einschätzen.
Die Lesartendatenbank erfasst verschiedene Lesarten, das heißt, Textvarianten, die die frühe islamische Exegese aufgezeichnet hat. Im Gegensatz zu den klassischen islamischen Exegesewerken (wie dem Baḥr al-muḥīṭ des Andalusiers Abū Ḥayyān at-Tauḥīdī) und modernen Lesartenenzykoplädien (Kuwait und Damaskus) erscheinen in der Datenbank die Quellen in historischer Sortierung, mit den Angaben zu Lesern, grammatischer Richtigkeit, regionalem Hintergrund und anderem. Durch die historisch-kritische Erschließung der Textgeschichte wird deutlich, dass der Korantext bereits im siebten Jahrhundert historisch greifbar ist.
Wortlaut und Exegese
Die Abweichungen im Wortlaut in den außerkanonischen Lesarten der ersten Generationen und einem auf datiertem Pergament nachgewiesenen Palimpsest könnten darauf hindeuten, dass man im ersten islamischen Jahrhundert Exegese und Wortlaut nicht strikt voneinander trennte. Da es noch keine etablierte arabische Wissenschaft gab, verwundert es nicht, dass es eine Zeit brauchte, bis man die schriftliche Überlieferung des Textes auf einen Wortlaut festlegte. Ob diese Stabilisierung des Textes in den ersten Jahrzehnten nach dem Tod des Propheten von politischer Seite durchgesetzt wurde, so wie es die islamische Tradition in der Überlieferung von der Redaktion durch den Kalifen Osman schildert, oder nicht zuletzt die Tatsache, dass es nach dem Tod des Propheten bei den Gelehrten einen schriftlich zirkulierenden Text gab, der de facto durch seine schiere schriftliche Präsenz zu einem Standard wurde, lässt sich heute nicht mit Sicherheit mehr bestimmen.
Ohne in die skizzierten Details der Textüberlieferung einzugehen, entwirft der Kommentar eine Sicht auf den Text, die die Interaktion zwischen Prophet und erster Gemeinde im Text freilegt. Hier bilden zwei Annahmen die Arbeitshypothese: Die zeitliche Reihenfolge der Suren zum einen, zum anderen die Annahme, dass es sich bei den Suren – wie Angelika Neuwirth es für die mekkanischen Suren nachgewiesen hat – um Einheiten handelt, die Kompositionsmerkmale aufweisen, aber zugleich Themen und Debatten enthalten, die die Entwicklung der ersten islamischen Gemeinde wiederspiegeln.
Die frühmekkanischen Suren beschreiben das Jüngste Gericht, mahnen vor dem Ende der Welt, schildern einprägsam die Zerstörung der Welt; mittel- und spätmekkanischen Suren hingegen bauen den Bezug zur biblischen Geschichte auf, bei denen Muhammad als neuer Mose erscheint.Die Schrift selbst, die als bei Gott befindlicher Prototyp betrachtet wird, verleiht der Verkündigung Autorität. Außerdem sprechen mittel- und spätmekkanische Suren ausführlich vom Paradies und der Hölle. Die medinensischen Suren wiederum, – hier ist der Prophet bereits Oberhaupt eines ersten islamischen Gemeinwesens – behandeln Regelungen und gesetzliche Bestimmungen; in ihnen wird auch der Konflikt mit der jüdischen Gemeinde in Yathrib greifbar.
Die Einordnung des Korans als „Text der Spätantike“ gelingt systematisch dann, wenn er auf einem Fundament von Textzeugen, in den Sprachen der arabischen Halbinsel und ihrer Umgebung aufbaut. Die dokumentarisch ausgerichtete Datenbank „Texte aus der Umwelt des Korans“ sieht ihre Aufgabe darin, disziplinübergreifend Textzeugen in Originalsprache zu sammeln und anhand von Textvergleichen den Koran vor der Bühne spätantiker Traditionen zu verstehen. Die Forschung seit dem 19. Jahrhundert, die nicht selten Muhammad als Verfasser eines schriftlichen Textes sah, betrachtete dabei häufig Ähnlichkeiten mit christlichen Texten als Indizien für die „Vorlagen“, die der Prophet verwendet hat.
Monotheistischer Gott
Auch wenn das Vorhaben hier ältere Sekundärliteratur auswertet, geht es bei der intertextuellen Erschließung andere Wege: Die „Texte aus der Umwelt“ liefern Hinweise zum Verständnis der Adressaten des Textes: Wenn zum Beispiel das Jesuskind im Koran aus Tonfiguren lebendige Vögel schafft, hatte die ältere Forschung mit dem Hinweis auf das Kindheitsevangelium des Thomas (2,1-5), den Korantext in direkter Abhängigkeit zu den Apokryphen gesehen (zum Beispiel Wilhelm Rudolph, Die Abhängigkeit des Qorans von Judentum und Christentum, Stuttgart 1922, 81).
Vergleicht man die Koranverse 3:49 und 5:110 mit der apokryphen Kindheitserzählung stellt man fest, dass der koranische Jesus Lehmfiguren „auf Geheiß seines Herrns“ lebendig macht: Die apokryphe Lehrerzählung, die die Göttlichkeit des Jesuskindes zum Gegenstand hat, wird im Koran so geschildert, dass christologisch gesehen Jesus der Mensch im Mittelpunkt steht. Der wunderwirkende Jesus, nach koranischem Verständnis der letzte Gesandte Gottes vor Muhammad, nicht der Gottessohn, ist das Thema, wodurch eine geschickte Abgrenzung zum christlichen Bekenntnis anhand der antiken Lehrerzählung vollzogen wird (siehe TUK 0458, abrufbar über die Datenbank).
Neben jüdischen und christlichen Texten auf Aramäisch (Syrisch und Jüdisch-Aramäisch), Griechisch und Latein, die die Kirchenhistorikerin Emmanouela Grypeou und der Semitist Yousef Kouriyhe derzeit bearbeiten, will die Online-Datenbank verschiedene Philologien mit dem Korantext in Beziehung setzen. Archäologische und inschriftliche Entdeckungen in Arabien, die von französischen Archäologen in den vergangenen zwei Jahrzehnten getätigt wurden und erstmalig für den Koran in deutsch-französischer Kooperation ausgewertet werden, bilden dabei einen weiteren Teil bislang vernachlässigter materieller Evidenz.
In der dreigliedrigen Formel, die heute zu Beginn (fast) jeder Koransure gelesen wird, „Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers“, ist der monotheistische Gottesname der vorislamischen Zeit enthalten: Aramäisch raḥmān-ā (der Barmherzige), der als Gottesbezeichnung im Talmud dient, aber auch seit dem vierten Jahrhundert in monotheistischen Inschriften Arabiens, egal ob jüdische oder christliche, nachweisbar ist. In der großen Inschriftenstele des himyaritischen Königs Abrahas (regierte von ungefähr 530 bis ungefähr 560) wird deutlich, dass er sich als christlicher König verstand.
Die Formel am Anfang der Inschrift zeigt dabei, wie das christliche Bekenntnis, – wahrscheinlich mit Rücksicht auf die jemenitischen Juden, die die christliche Lehre von der Gottessohnschaft Christi als Provokation empfunden haben könnten – sehr vorsichtig formuliert wird. Sie beginnt mit einer typisch christlichen, dreigliedrigen Formel, ohne die Gottessohnschaft zu erwähnen. Im Gegensatz zu der trinitarischen dreigliedrigen Invokationsformel des vom äthiopischen König Kālēb (regierte 517/520 bis 540) ernannten Königs im Jemen, Sumūyafaʿ (vgl. Inschrift ist 7608 bis = RES 3904), enthalten alle Inschriften Abrahas keine Invokationsformeln, die die Gottessohnschaft Christi erwähnen: „Mit der Kraft und der Hilfe und der Barmherzigkeit des Raḥmānān und seines Gesalbten und des heiligen Geistes“.
In den christlichen und jüdischen Inschriften Südarabiens zwischen Ende des vierten bis zum sechsten Jahrhundert ist raḥman-an (die Endsilbe /-ān/ ist der Artikel) der übliche Name des monotheistischen Gottes, der als rāḥmān-ā („der Gnädige“) im Talmud als Umschreibung des Gottesnamens verwendet wird. Auf der arabischen Halbinsel, wo nach 380 n.Chr. keine inschriftlichen Zeugnisse paganer, nicht-monotheistischer religiöser Bekenntnisse bekannt sind, scheint südarabisch rḥmnn – wahrscheinlich raḥman-an zu lesen, der übliche Name Gottes zu sein. Das arabische Adjektiv ar-raḥmān (der Barmherzige), in der koranischen Formel heute als Adjektiv verstanden, beinhaltet so das Echo der monotheistischen Gottesnamens raḥman-an. Anders gesagt: Das koranische ar-raḥmān kann als Lehnbildung des südarabischen raḥman-an gesehen werden.
Durch das Vorhaben, bei dem die Quellen und die grundlegende materielle Evidenz im Vordergrund stehen, soll die dringend benötigte Basis für einen historischen Zugang gelegt werden. Die Erschließung spätantiker Texte unter Einschluss der archäologischen Entdeckungen und Inschriften kann einen Raum rekonstruieren, in dem die Aussagen des Korantextes historisch eingeordnet werden können. Der von Neuwirth geleitete Kommentarbereich entwirft, aufbauend auf ihrer literaturwissenschaftlichen Analyse der mekkanischen Suren, ein Textverständnis der Sure als Texteinheit. Diese kann dann, im Lichte der diskursiven Entwicklung gesehen, als Etappe der Verkündigung Muhammads verstanden werden und zeigt so auf ganz neue Weise, was der historische Zugang zum Text bedeutet.
Die historische Perspektive auf den Korantext insgesamt – ob durch C-14-Analysen, Lesarten-Handschriften-Vergleich oder literaturwissenschaftliche Analyse – ist in unserer Zeit ein notwendiges Unternehmen, um die islamische Religion zu verstehen. Das Projekt Corpus Coranicum steht am Anfang eines Weges, den es bislang zu einem nicht geringen Teil zusammen mit Forschern aus der islamischen Welt gegangen ist. Manches an der historischen Erschließung des Textes steht dabei am Rande der islamischen Tradition, manches gelegentlich in Widerspruch zu einer überkommenden Lehrmeinung. Ob ein Text göttlicher Herkunft ist oder nicht, wird ohnehin in einem Akademievorhaben nicht erforscht werden können. Dass ein rationaler Zugang zum Islam und zum Koran in unserer Zeit benötigt wird, ist nicht nur die Auffassung der am Projekt Beteiligten. Auch unter den zukünftigen islamischen Theologen in Deutschland und Europa wird sich dieser Zugang durchsetzen.