Versteht man Konversion als Neuerwerb von Mitgliedschaft, gehört sie zur Tätigkeit jeder Gemeinschaft. Vereine, politische Parteien, Gewerkschaften und viele andere Organisationen sind ständig im Wettbewerb um neue Mitglieder. Glaubensgemeinschaften handeln da nicht anders. Die Werbung für die eigene Religion ist letztendlich durch die Glaubensfreiheit garantiert und bildet somit einen Pfeiler der Menschenrechte.
Im Islam ist mit dem Gedanken in Sure 3, Vers 104 die Vorstellung verbunden, dass Muslime zur da ͑wa (wortwörtlich: Einladung, dem „Aufruf zum Islam“) verpflichtet sind. Träger der da ͑wa ist dementsprechend die ganze muslimische Gemeinschaft (umma).
Im Wesentlichen ist der Begriff „da ͑wa“ verbunden mit der Offenbarung Gottes und dem Aufruf an die Menschen, sich dem Willen Gottes zu unterwerfen. Somit ist die Kernbedeutung mit dem Begriff „Islam“ eng verbunden. Im Islam sind reichlich Überlieferungen vorhanden, welche die Bedeutung von da ͑wa hervorheben: „Wenn Allah durch dich jemanden rechtleitet, ist es für dich besser als alles, über dem die Sonne aufgeht“ und „Reicht (die Botschaft) über mich weiter, auch wenn es nur um einen Vers geht“ (Sahil al-Buchari, Nr. 525 und 3274).
Auch der Koran thematisiert da ͑wa an zahlreichen Stellen: „Sprich: Das ist mein Weg. Ich rufe zu Gott aufgrund eines einsichtbringenden Beweises, ich und diejenigen, die mir folgen“ (Sure 12, Vers 108). Andere Koranverse thematisieren die Verkündung des Islam in der Form eines Appells: „O du Gesandter, übermittele, was zu dir (als Offenbarung) von deinem Herrn herabgesandt worden ist!“ (Sure 5, Vers 67) und „Rufe zum Weg deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung“ (Sure 16, Vers 125), wobei dieser Vers den Akzent auf die Methodik der da ͑wa legt, nämlich mit Weisheit und schöner Ermahnung.
Es geht auch um das Erheben von Machtansprüchen
Nicht selten sprechen Anhänger einer Religion anderen Religionen die Wahrheit ab, weil diese Abweichungen vom Kernbestand ihrer Glaubensüberzeugungen aufweisen. Darüber hinaus bezieht man sich oft auf Stellen der Heiligen Schriften, die den Gläubigen dazu auffordern, allen Menschen zu helfen, das Heil zu erlangen. Während die katholische Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil klargestellt hat, dass Heil auch außerhalb der Kirche erreicht werden kann, und der Koran von Anfang an Christen und Juden als Schriftbesitzer bezeichnet, an deren Propheten Muslime glauben sollen, bleibt der Wettbewerb um neue Gläubigen vorhanden. Nach sowohl christlichem als auch muslimischem Verständnis wird der Glaube in Gemeinschaft gelebt. Während das Bekenntnis eine strukturelle Vergemeinschaftung von Menschen hervorruft, erwächst der Glaube meist aus der Gemeinschaft. Sie überträgt die religiösen Traditionen, bewahrt sie und vermittelt sie an die neuen Generationen weiter.
Der Da ͑wa-Diskurs kann vor diesem Hintergrund nicht getrennt von den mit ihm verbundenen Machtansprüchen verstanden werden. Dies wird durch den Wortstamm von „da ͑wa“ (Aufruf) und „daūla“ (Staat) deutlich.
In der Literatur der islamischen Frühzeit findet sich der Begriff da ͑wa auch in Vertragstexten mit Andersgläubigen. Das Da ͑wa-Verständnis weicht hier von dem koranischen ab. Von insgesamt drei möglichen Wahloptionen sind die ersten zwei ein Zeichen für „Sieg“: Dem Vertragspartner stand zur Wahl, Muslim zu werden, Nichtmuslim zu bleiben und die Kopfsteuer zu bezahlen (jizyya) oder in den Kampf zu ziehen.
Allerdings verbietet der Islam ausdrücklich, jemanden zum Glauben zu zwingen: Etwa 150 Verse thematisieren die gebotene Glaubensfreiheit. In diesen wird dem Menschen dieses Recht garantiert: „Und wenn dein Herr wollte, würden fürwahr alle auf der Erde zusammen gläubig werden. Willst du etwa die Menschen dazu zwingen, gläubig zu werden?“ (Sure 10, Vers 99).
Die da ͑wa wird daneben an jenen Stellen bestätigt, in denen der Koran dem Propheten seine Aufgabe und die richtige Vorgehensweise – die richtige Methodik – zur Erfüllung seiner prophetischen Sendung erklärt. In dieser Hinsicht spricht der Koran von dem Propheten als einem Mahner und Vermittler, der zu Gott in bester Art und Weise, frei vom Zwang und Nötigung, zu rufen hat (vgl. Sure 88, Vers 21-22). Dieser Auftrag entspricht dem Anspruch des Islam als Weltreligion mit einer Botschaft für die gesamte Menschheit. Da ͑wa als islamisches Gebot steht da in keinerlei Hinsicht im Widerspruch zur Glaubensfreiheit.
Viele muslimische Gelehrte halten sogar fest, dass ein deutlicheres Bekenntnis zur religiösen Toleranz in keiner heiligen Schrift einer anderen Weltreligion zu finden sei: „Und sag: (Es ist) die Wahrheit von eurem Herrn. Wer nun will, der soll glauben, und wer will, der soll ungläubig sein“ (Sure 18, Vers 29). Die Glaubensfreiheit ist somit ein Grundstein der religiösen Überzeugung und wird zu den Grundzielen der Scharia zugerechnet.
Hierfür wird in der Regel Vers 256 der Sure 2 zitiert, welcher wörtlich den Zwang in Angelegenheiten des Glaubens per se verbietet: „Kein Zwang im Glauben – das rechte Handeln und das Fehlgehen sind schon klar unterschieden.“
Aus islamischer Sicht ist Muhammad das Siegel der Propheten und der Koran waltet über die anderen Offenbarungen. Dementsprechend verstehen sich Muslime als diejenigen, die dem geraden Weg Gottes folgen. Eine Betrachtung des Sachverhalts aus einer exklusivistischen Perspektive ist in dieser Hinsicht sehr simpel: Ein zum Islam übergetretener Konvertit ist ein rechtgeleiteter und ein aus dem Islam austretender Konvertit ist ein irregeleiteter Mensch.
So begrüßt der Islam natürlich – ähnlich jeder anderen Religion auch – die Konversion zum Islam. Ein Konvertit zum Islam wird gefeiert: Aus koranischer Sicht ist die muslimische Gemeinschaft dazu verpflichtet, den neuen Konvertiten zu unterstützen, sodass ihm ein Teil der zakat zusteht (Sure 9, Vers 60). Als neue Glaubensgeschwister erleben Konvertiten eine besondere Art von Solidarität.
Wo jedoch der Islam als die einzige wahre Religion betrachtet und Sure 3, Vers 19 und Sure 3, Verse 85 zur Argumentation herangezogen werden, verwechselt man den Islam im historischen Sinne mit dem Islam im koranischen Sinne. Eine inklusivistische Sichtweise bedauert demgegenüber zwar den „Abfall eines Gläubigen“, dieser könne aber nicht deswegen getötet werden. Dieser Überzeugung nach sieht der Islam das ganze Universum als plural an. Pluralität ist sogar ein Zeichen Gottes, wie Sure 30, Vers 23 es dokumentiert. Glaubensüberzeugungen blieben davon nicht verschont.
Die Glaubensfreiheit schließt demnach elementar auch das Recht ein, die Religion zu wechseln – also etwa auch, den Islam zu verlassen. Ein solcher Wechsel wird von vielen muslimischen Theologien allerdings mit Argwohn betrachtet, zumindest bislang. Konvertiten gelten zudem oft als gefährlich für die Gemeinschaft, sodass einige Gelehrte für den Wechsel in eine andere Religion bis heute mit der Todesstrafe drohen, wenn dem Aufruf zur Rückkehr zum Islam nicht gefolgt wird.
Da man sich im Glauben nicht nur zu einer Religion bekennt, sondern auch zu einer konkreten Gemeinschaft von Menschen, fällt es der muslimischen Community häufig schwer, zu akzeptieren, dass eines ihrer Mitglieder einen Weg zu Gott in einer anderen Religion finden konnte. Meist wird die Konversion von Muslimen zum Christentum deshalb als eine Art der Transformation aufgrund einer krisenhaften Erfahrung betrachtet.
Während der Islam also die volle Glaubensfreiheit garantiert, wird das von der muslimischen Gemeinschaft in der Praxis häufig nicht akzeptiert. Hier muss deutlich zwischen Religion und sozialer Tradition unterschieden werden. Auch Christen tun sich schwer mit einem Apostaten in einem mehrheitlich muslimischen Land. Konversion wird oft als Verrat an der eigenen Gemeinde betrachtet.
So rechtfertigt sich auch jene muslimische Rechtsschule, die für den Apostaten die Todesstrafe vorsieht – aber nur für Männer und nicht für Frauen, weil Letztere die Gemeinde nicht gefährden konnten. Während es in der Frühzeit Bündnisverträge mit Nicht-Muslimen gab, verschob sich der Akzent mit der Zeit. Die Gemeinde wurde als spezifisch muslimische betrachtet und das Bekenntnis zum Islam als bindend angesehen.
Auch wenn der Wechsel in eine andere Religion faktisch problematisch ist: Die Argumente für diese Strafe sind theologisch nicht zwingend. Die Strafe für Apostasie widerspricht dem Prinzip der koranischen Glaubensfreiheit und muss mit Blick auf den damaligen Kontext verstanden werden (vgl. Mahmoud Abdallah, Gewissens- und Glaubensfreiheit im Islam: Altes Thema – Neue Debatte, in: CIBEDO-Beiträge, Nr 1/2015). Diese Strafe war demnach nicht für den Religionswechsel an sich, sondern für den Verrat an der Gemeinde – sprich für Hochverrat – vorgesehen, wie auch viele weitere Theologen betonen.
Bereits Fachr ad-Dīn Ar-Razī, ein Koranexeget aus dem 12. Jahrhundert, betonte zum Beispiel, dass Glaube auf reiner Überzeugung und zwangloser Entscheidung basieren solle, sonst gebe es keine Möglichkeit der Prüfung des Gläubigen im Diesseits (vgl. Tafsīr ar-Rāzī, Bairūt, Dār Iḥyāʾ at-Turāṯ al-ʿArab, 1980, Band 7, 14). Hier ist allerdings von islamischer Seite noch mehr gemeinsame Interpretationsarbeit notwendig.
Was bewegt einen Menschen zur Konversion?
Während in der Soziologie die Frage gestellt wird, warum sich ein Konvertit für die eine oder die andere Religion entschieden hat beziehungsweise warum man sich für eine Religion – und nicht beispielsweise mehr für Sport – interessierte, wird diese Frage in der innerislamischen Debatte gar nicht gestellt. Die von einigen Gelehrten angeordnete Todesstrafe beeinflusst die Diskussion und die Einstellung der Muslime Apostaten gegenüber sehr stark.
Genaue Zahlen zu Konversionen gibt es ohnehin nicht. Das gilt auch für die Übertritte zum Islam in Deutschland, da Moscheen und islamische Verbände Konversionen in der Regel nicht schriftlich dokumentieren. Dem Konvertit kann zwar diesbezüglich ein Dokument ausgestellt werden, in ein Register wird der Akt jedoch nicht eingetragen. Muslim zu werden, ist zudem so simpel, dass man den Akt auch allein im eigenen Wohnzimmer vollziehen kann. Anscheinend sollen durch da ͑wa in den letzten Jahren mehrere Tausende für die Konversion zum Islam gewonnen worden sein. Einer zuverlässigen Einschätzung nach machen Frauen zwei Drittel der Konvertiten aus (vgl. Monika Wohlrab-Sahr, Konversion zum Islam in Deutschland und den USA – eine funktionale Perspektive, in: Hubert Knoblauch, Volkerhard Krech und Wohlrab-Sahr [Hg.], Religiöse Konversion – Systematische und fallorientierte Studien in soziologischer Perspektive, Konstanz 1998, 125-146, 129).
Was bedeutet das angesichts der Konversionen, die es faktisch gibt? Die Frage nach den Gründen dafür ist ein eigenständiger Forschungsbereich der Religionspsychologie, die sich mit dem Phänomen seit Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigt. Die Fachliteratur setzt sich mit dem Thema vornehmlich aus christlicher Sicht auseinander; islamische Ansätze gibt es bisher nicht.
Aus islamischer Sicht stellt die Konversion in erster Linie eine Glaubensentscheidung dar. Die Motive erstrecken sich von der Suche nach dem Sinn des Lebens oder einem tieferen Gottesverständnis bis zur Hoffnung auf ein besseres Verständnis des eigenen muslimischen Ehepartners. Insgesamt können die Gründe für ein Konversion in zwei Gruppen unterteilt werden: Das eine ist die Unzufriedenheit mit der eigenen Weltanschauung, dem Glauben oder die eigene Sinnsuche im Leben, wenn der Konvertit dann befriedigende Antworten in der (anderen) Religion findet; das andere sind persönliche Beziehungen, wodurch die Person sich vom Islam und dessen Kultursystem angesprochen fühlt.
Zwischen Überzeugung und Pragmatismus
Die Literatur zu den verschiedenen Formen der Konversionen unterscheidet deshalb zwischen „überzeugten“ Konvertiten und Konvertiten aus „pragmatischen Gründen“. So differenzieren John Lofland und Rodney Stark zwischen „verbaler“ und „totaler“ Konversion, zu letzterer gehört die intensive Einbeziehung in die Interaktion und Kommunikation der „Weltanschauungsgruppe“ (vgl. Becoming a Wold-Saver. A Theory of conversion to a deviant perspective, in: American Sociological Review 30 [1965], 862-875, 874).
In ihren Forschungen über Konversionen zum Islam in Deutschland und den USA hebt Monika Wohlrab-Sahr den Aspekt hervor, dass die Konversion im Zusammenhang mit der Bewältigung von Problemen zu sehen ist, sowohl auf der Ebene des Individuums, einer bestimmten Gruppe oder Subkultur oder schließlich der allgemeineren Ebene der Kultur überhaupt (vgl. Wohlrab-Sahr, 1998, 127). Zu den maßgeblichen Gründen gehört dabei der „Mangel an sozialer Potenz“ (139).
Es stellt sich daher zu Recht die Frage, inwiefern der Islam bestimmte Angebote für spezifische Probleme bereithält, die jenseits individueller Unterschiede und nationaler Kontexte eine gemeinsame Ebene schaffen. So wird beispielsweise das Familienbild im Islam als die Inszenierung eines perfekten Familienlebens angesehen, in dem die traditionellen Beziehungen zwischen den Geschlechtern und Generationen idealisiert werden. Der Islam betont eine moralische Lebensführung sowie die individuelle Verantwortlichkeit und geht darin mit den Werten von Mittelschichtmilieus konform. Das ideale Bild einer stabilen Familie steht dann der Erfahrung persönlicher Infragestellung gegenüber.
Andere Begründungen heben auf den Exotenstatus, den besonders musikalischen Klang des Glaubensbekenntnisses des Islam oder die Solidarität mit Minderheiten ab. All das mache den Islam attraktiv. Solche Begründungen taugen jedoch aus dreierlei Gründen nicht: Zum einen bleiben solche Argumente subjektiv, und zum anderen lassen sie sich durch Erhebungen nicht beweisen. Zum Dritten wären solche Gründe aus islamischer Sicht nicht wünschenswert. Von ͗Ahmad Ibn Ḥanbal (780-855), Gründer der ḥanbalitischen Rechtsschule, ist der Ausspruch überliefert: „Einen Moment nachzusinnen ist besser, als die ganze Nacht zu beten“. Und im Koran heißt es: „So macht Allah euch die Zeichen klar, auf dass ihr nachdenken möget“ (2:219).
Vielmehr scheinen aber Konvertiten auf der Suche nach einem konkreten „allmächtigen“ Gott, nach einem Bündel konkreter Regeln und nach einem klar definierten System von Belohnung und Bestrafung zu sein.