Ein Streitgespräch zwischen Mouhanad Khorchide und Hamed Abdel-Samad„Zur Freiheit gehört, den Koran zu kritisieren“

Auf der einen Seite der Islamkritiker, auf der anderen der muslimische Theologe: Hamed Abdel-Samad und Mouhanad Khorchide gehören in den gegenwärtigen Diskussionen über den Islam jeweils die profiliertesten Positionen. Wir haben mit ihnen über das Thema Gewalt und Friedfertigkeit im Islam, zu den richtige Koranhermeneutik, die Rolle Mohammeds und die Herausforderung des sogenannten Islamischen Staats gesprochen. Moderiert hat das Gespräch Stefan Orth.

Hamed Abdel-Samad und Mouhanad Khorchide im Gespräch
Hamed Abdel-Samad (li.) und Mouhanad Khorchide (re.) diskutieren kontrovers über das Thema Islam.© Fabian Matzerath

Herr Abdel-Samad, Sie haben schon vor fünf Jahren die These vertreten, dass der Islam aufgrund seiner inneren Aporien dem Untergang geweiht sei. Wie bewerten Sie die Zeit, die seitdem verstrichen ist?

Hamed Abdel-Samad: Drei Monate vor dem Ausbruch des Arabischen Frühlings habe ich die Auffassung vertreten, dass sich vor allem die arabisch-islamischen Gesellschaften im Zerfall befinden, wir bald Bürgerkriege und Chaos haben und Massen von Migranten nach Europa kommen werden. Damals wurde ich als Panikmacher beschimpft für diese These, weil der Arabische Frühling kam und alle die Hoffnung hatten, dass sich die Demokratie breit macht in dieser Region. Wir befinden uns jedoch weiterhin in einem Zerfallsprozess der arabischen Welt. Syrien ist das deutlichste Beispiel, aber das gilt auch für Jemen, Algerien, das kurz vor dem Explodieren ist, sogar die Golfstaaten, Libyen. Überall in der arabischen Welt ist dieser Prozess fortgeschritten.

Stehen da nicht vor allem soziale oder politische Probleme im Vordergrund?

Abdel-Samad: Viele bringen gesellschaftliche und geopolitische Gründe vor. All das spielt natürlich eine Rolle. Aber die Haltung zur Religion in diesen Ländern ist für mich nach wie vor das zentrale Motiv. Denn erst sie hat Despoten hervorgebracht, erst dieses Religionsverständnis hat die Bildung dermaßen beschädigt. Letztlich hat eine schizophrene Haltung gegenüber dem Westen diese Gesellschaften zerfressen. Einerseits betrachtet man die westliche Welt als ungläubig und unmoralisch, andererseits ist der Westen jetzt dieses Mekka, wo jeder hin will, um ein wenig Menschenrechte und ein menschenwürdiges Leben für sich und seine Familie zu erfahren. Der Islam konnte sich nicht an die Moderne anpassen, weil der Islam sich an nichts anpassen will, weil er letztlich alles von oben bestimmen und kontrollieren will. Das Ergebnis sehen wir jetzt in den meisten islamischen Staaten. Nirgendwo in der islamischen Welt ist der Islam vom Islamismus frei, das gilt sogar für die muslimischen Communities im Ausland. Nirgendwo ist er auch gewaltfrei.

Ist das nicht mehr ein Problem der arabischen Welt? Gibt es nicht, um nur zwei Beispiele zu nennen, mit Bosnien oder Indonesien auch Länder, in denen der Islam bewiesen hat, dass er moderneverträglicher ist?

Abdel-Samad: Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber es handelt sich nicht um ein nur arabisches Problem. Afghanistan, Iran, Pakistan, Bangladesch sind keine arabischen Länder. Es gibt diese Entwicklung überall in der islamischen Welt. In Bosnien wächst der Dschihadismus schneller als woanders. Überall erstarkt der Islamismus, auch in Indonesien. Indonesien, Malaysia, Türkei: All das sind Länder, von denen man früher gesagt hat, dass sie Hoffnungsträger für die islamische Welt sind, weil dort der Säkularismus funktioniert. Aber diese Länder haben das nicht mit dem Islam, sondern eher gegen ihn vollbracht. In den grob gesprochen 50 islamischen Staaten, etwa auch im Sudan, in Somalia, Ägypten, Irak, Marokko, bricht überall der Virus namens Fundamentalismus aus.

Herr Khorchide, hat also der Islam ein Gewaltproblem?

Mouhanad Khorchide: Eine bestimmte Lesart des Islam hat auf jeden Fall ein großes Gewaltproblem. Wir dürfen aber nicht pauschalieren. Aussagen, dass der Islam durchweg friedlich oder durchweg gewaltbereit sei, gehen an der Realität vorbei. Es hängt immer von der jeweiligen Lesart ab, wobei zuzugestehen ist, dass es auch im Mainstream der islamischen Theologie, also nicht nur bei den Extremisten, Positionen gibt, die nicht unproblematisch sind. Das gilt beispielsweise für die Frage nach dem Verständnis von Dschihad. Zwar sehen drei der vier sunnitischen Rechtsschulen im Dschihad einen ausschließlichen Verteidigungskrieg, die schafiitische Schule, die von hochanerkannten Gelehrten vertreten wird, sieht hingegen darin auch einen Angriffskrieg gegen Nicht-Muslime, weil sie nicht Muslime sind, und nicht weil sie Muslime bekriegen. In solchen theologischen Positionen gibt es durchaus Potenzial, Gewalt zu bejahen und im Namen des Islam zu unterstützen. Die Aufgabe heute ist es demgegenüber, sich für die andere, für die friedensbejahende Lesart des Islam stark zu machen. Deshalb sind heute Reformen notwendig, um gewaltbejahende Positionen zu verwerfen – aber wie ich in meinem jüngsten Buch „Gott glaubt an den Menschen“ ausführlich schildere, sind gerade die Reformverweigerer Teil des Problems. Die islamische Geschichte, gerade die des neunten, zehnten und elften Jahrhunderts hier in Europa, zeugt von großen intellektuellen und humanistischen Potentialen im Islam. Daher teile ich nicht die pauschale Verurteilung.

Es ist also keine Lösung zwischen der wahren Religion des Islam und dem Islamismus der Extremisten, die nicht zur Religion gehören, zu unterscheiden?

Khorchide: In der öffentlichen Diskussion, an der nicht nur Fachleute partizipieren, ist es schon sehr wichtig, zwischen Islam und Islamismus zu differenzieren, damit nicht alle Muslime pauschal der Gewaltbereitschaft verdächtigt werden. Aber in einem fachtheologischen Diskurs macht es keinen Sinn zu sagen, der Islam habe nichts mit Gewalt zu tun. Man wird immer wieder anerkannte Gelehrte innerhalb der islamischen Tradition finden, die ein bestimmtes Verständnis von Dschihad, dem Verhältnis zu Nicht-Muslimen, der Beziehung von Gott zu den Menschen oder dem Jenseits haben, die auch aus heutiger theologischer Sicht nicht unproblematisch sind. So ist es natürlich latent gewaltfördernd, wenn in Teilen der Tradition, aber auch heute vertreten wird, dass spätestens im Jenseits Gott alle Nicht-Muslime in die Hölle schicken wird, und nur die Muslime rettet, weil in ihren Geburtsurkunden „Muslim“ steht. Diese Überzeugung ist eine Quelle der Gewalt: Denn es ist nur ein gradueller, kein qualitativer Unterschied, ob ich jemanden hier eliminiere oder Gott ihn später sowieso in die Hölle verdammen wird. Das ist meiner Überzeugung nach aber theologisch nicht vertretbar und widerspricht sogar dem Geist des Korans, wie ich ihn verstehe.

Was sind denn die entscheidenden Quellen für das Gewaltproblem? Der Koran oder die islamische Tradition, die den Koran gedeutet hat?

Khorchide: Der Koran spricht nicht für sich, der Koran ist kein Subjekt. Wir lesen den Koran und es hängt vom jeweiligen Verständnis der Texte ab. Im Unterschied zu Hamed Abdel-Samad bin ich der Überzeugung, dass der Kern des Gewaltproblems nicht der Koran ist.

Aber was heißt das für die Stellen, die von Gewalt berichten oder zu einem – wie auch immer – gewalttätigen Handeln aufrufen…

Khorchide: Auch diese muss man deuten und sie vor allem in ihrem historischen Kontext verorten. Das ist ähnlich wie bei den Gewaltstellen in der Bibel, vor allem im Alten Testament, die man heute als historisch bedingt liest. Und so können wir die Gewaltpotenziale in diesen Versen entschärfen. In der Diskussion um den Dschihad zum Beispiel berufen sich sowohl diejenigen Gelehrten, die im Dschihad einen Verteidigungskampf sehen, in dem Nicht-Muslime Muslime angreifen, als auch diejenigen Gelehrten, die im Dschihad einen Angriffskrieg gegen Nicht-Muslime sehen, auf dieselben koranischen Stellen: wie die zweite Sure, die Verse 190 bis 193. Daher brauchen wir klare Kriterien, damit wir nicht beliebig selektieren und sich jeder die Verse beziehungsweise die Interpretationen heraussucht, die gerade in sein Konzept passen.

Abdel-Samad: Die verschiedenen Deutungen des Korans kenne ich. Meiner Ansicht nach ist das ein sehr schönes Ablenkungsmanöver, wenn man sagt, dass es den einen Islam nicht gebe, sondern nur unterschiedliche Lesarten. Nein, den einen Islam gibt es schon. Er hat einen Kern, eine Gründungsfigur: Mohammed. Und es gibt Texte, die als heilige Texte betrachtet werden. Der Islam wird nicht in geschlossenen Räumen gelebt, wo die Theologen ihre Abhandlungen verfassen. Der Islam bezieht sich vielmehr auf sein Vorbild Mohammed, der Krieg geführt hat, der Menschen enthaupten ließ. Erst durch die Gewalt hat er seinen Durchbruch erlebt. Mohammed hat 13 Jahre lang erfolglos in Mekka gepredigt; kaum jemand hat an seine Botschaft geglaubt. Erst als er eine starke Armee hatte, erst als er anfing, Karawanen anzugreifen, Kriege zu führen, Kriegsbeute zu machen, änderte sich das. Nicht umsonst gibt es eine Sure im Koran, die „Kriegsbeute“ heißt und die die Einzelheiten regelt. Erst dann kamen die Scharen und haben sich an diesem Projekt beteiligt, weil es lukrativ ist. Das können wir nicht beiseitelegen und nur über Hermeneutik reden.

Sie haben gerade ein Buch über Mohammed vorgelegt. Ist das Ihr Fazit über den Propheten?

Abdel-Samad: Mohammed wurde erst durch Gewalt erfolgreich. Der Islam hat kein Problem mit der Gewalt, aus einem einfachen Grund, weil der Islam und die Gewalt von Anfang an beste Freunde waren. Ohne die Gewalt konnte der Islam nicht überleben, ohne Gewalt konnte der Islam sich nicht ausbreiten. Das ist keine Theologie, sondern gelebte Geschichte. Wenn ich so eine Galionsfigur wie Mohammed habe und allein 206 Stellen im Koran, die den Krieg verherrlichen und die Gewalt gegen Ungläubige rechtfertigen, kann ich nicht sagen: Das ist Interpretationssache.

Wobei es ja durchaus, gerade in Teilen des Korans, die in Mekka geoffenbart sein sollen, auch andere Töne gibt.

Abdel-Samad: In den ersten Jahren gab es tatsächlich Verse, die Krieg nur als Zweck der Verteidigung jener Rechte, die ihm in Mekka entrissen wurden, bezeichnet hat. Ohne Armee im Rücken, nur mit 70 bis 100 Anhängern konnte Mohammed nicht über Gewalt sprechen, denn er war in einer schwächeren Position. Da kamen die schönen Verse, von denen die Exegeten heute leben, und aufgrund derer sie sagen, der Islam sei eine Religion des Friedens. Es ist keine große Leistung, wenn ich selbst keine Macht habe und auf Frieden angewiesen bin, friedlich zu sein. Dann erst kam die zweite Phase: die Etablierung in Medina eines ersten IS sozusagen. Und in einer dritten Phase haben wir es dann mit der Säuberung Arabiens zu tun. Alle Juden mussten raus. Nicht nur ein Stamm, sondern alle Juden von Medina wurden hingerichtet. Das Manifest der Verse von Sure 8 und Sure 9, die letzten Verse des Korans, ist das eines Angriffskriegs. Die Botschaft war klar: Der Islam muss sich ausbreiten, Ungläubige können nicht geduldet werden auf der arabischen Halbinsel. Das ist auch die Realität, denn danach mussten Juden und Christen die arabische Halbinsel verlassen. Als die Muslime keine Waffen hatten, war Gott friedlich. Als sie ein paar hatten, war er für Krieg, aber nicht zu vehement. Aber als sie die absolute Macht bekamen, sagte er: Haut drauf und enthauptet sie! Das ist zwar eine nachvollziehbare menschliche Entwicklung, hat aber mit Gott, kann mit Gott nichts zu tun haben.

Herr Khorchide, muss die Geschichte nicht tatsächlich von hinten her gelesen werden? Wäre es nicht überzeugender, wenn der Weg andersherum wäre und am Ende ein durch göttliche Eingebung friedensliebender Prophet stünde?

Khorchide: Im Grunde wissen wir ziemlich wenig über Mohammed. Wir wissen von ihm hauptsächlich über Ibn Hischam, den Schüler des Schülers seines ersten Biografen Ibn Ishaq. Ibn Hischam ist Mitte des neunten Jahrhunderts gestorben. Ibn Ishaq selbst wurde von mehreren anerkannten Gelehrten als Lügner und als unauthentisch kritisiert. Er neigte dazu, den Propheten stark zu glorifizieren. Sowohl die Biographie des Propheten als auch seine Aussprüche wurden erst rund 200 Jahre nach seinem Ableben systematisch erfasst, vieles ist hochspekulativ.

Abdel-Samad: Die Mehrheit der Gelehrten aus dieser Zeit haben diese Biografie akzeptiert und auch die Überlieferungsketten anerkannt. Und es war nicht Ibn Ishaq allein, der die Geschichte Mohammeds geschrieben hat. Natürlich gibt es auch die These, dass es Mohammed als historische Figur nie gegeben hat, sondern diese frei erfunden wurde. Das halte ich für Unfug. Für Mohammed gibt es ein historisches Vorbild und dieser historische Kern deckt sich auch mit der Entwicklung im Koran. Wenn man die Suren des Korans nicht nach der jetzigen Reihenfolge, sondern chronologisch nach dem Zeitpunkt der Offenbarung beziehungsweise Abfassung betrachten, können wir schon den historischen Mohammed nachzeichnen. Es ergibt sich genau die Entwicklungsgeschichte, die ich vorhin beschrieben habe. Ibn Ishaq hat Mohammed auch nicht aus dem Nichts erfunden.

Auf welche Quellen der islamischen Geistesgeschichte hat denn der Biograf Mohammeds seinerzeit über den Koran hinaus zurückgegriffen?

Abdel-Samad: Er baute auf früheren, mündlichen Traditionen auf. Und der Streit der Gelehrten betrifft weniger den Kern der Geschichte Mohammeds, sondern die Überlieferungsketten. Das war auch die Kritik an Ibn Ishaq. All das führt nur zu einer Form der Relativierung der Figur Mohammeds, ohne dass wir ihn wirklich politisch entmachten. In der islamischen Welt wird ein tadelloser Mohammed gelehrt, der nicht kritisiert und in Frage gestellt wird. Und wir kommen nicht dagegen an, wenn wir sagen, dass wir nicht genug von Mohammed wissen. Die Texte sind lebendig und beeinflussen das Leben von 1,5 Milliarden Menschen. Wir können uns da nicht mit einer Art Trick aus der Affäre ziehen, denn dann würden wir den Salafisten das Feld überlassen.

Khorchide: Es geht nicht um einen Trick. Wir haben nicht zuletzt deshalb zu wenig authentisches Material über Mohammed, weil wir zu viel widersprüchliches Material haben. Auffällig ist auch, dass es zum Teil andere anerkannte Varianten der Erzählungen gibt, die insofern ernst zu nehmen sind, als die Überlieferungsketten authentischer sind. In denen wird Mohammed nicht so negativ gezeichnet. Und übrigens die großen Koranforscher wie Theodor Nöldeke und Angelika Neuwirth sehen die fünfte Sure als die letzte, die verkündet wurde. Diese verspricht sogar den Juden und Christen im Vers 69 das ewige Heil. Für die Sure, in der von der Vertreibung der Juden die Rede ist, gibt es auch eine Erzählung, derzufolge Mohammed nur 40 Soldaten, die im Krieg beteiligt waren, umbringt.

Abdel-Samad: Moment. Das war nicht einfach ein Krieg zwischen Mohammed und den Juden, in dem er 40 Soldaten umbringt. Auch aus den authentischen islamischen Narrativen geht hervor, dass das mehr als ein Krieg war. Mohammed hat den jüdischen Stamm vielmehr belagert…

Khorchide: Widerspruch! Widerspruch!

Abdel-Samad: … und dann haben sie sich ergeben und es hieß, dass alle Männer getötet werden, und Frauen und Kinder versklavt werden sollen. Was hatten denn die Frauen und Kinder getan, dass er sie versklavt?

Khorchide: Einen Augenblick, das ist die eine Erzählung. Neben dem Koran ist für Muslime die Hadithensammlung wie die von Sahih al-Buchari eine authentische Quelle. In der Erzählung dort ist von den Juden die Rede, die selbst am Krieg beteiligt waren und getötet haben, da wird der Begriff Muqatelah verwendet…

Abdel-Samad: Muqatelah bedeutet nicht „die, die getötet haben“, sondern „die Kampffähigen“. Alle kampffähigen Männer sollen getötet werden, das heißt alle.

Khorchide: Das ist wiederum eine Interpretationssache. Außerdem ist nicht die Rede von Zahlen, von Frauen, die versklavt wurden, sondern von einem Krieg, in dem Kriegsgefangene genommen werden.

Herr Abdel-Samad: Sprechen diese Widersprüche, die ja auch darüber hinaus gelten, nicht tatsächlich für ein differenziertes Mohammed-Bild?

Abdel-Samad: Widersprüchlich kann ich es nennen, wenn eine Erzählung sagt, Mohammed hat die Tötung der Juden befohlen und eine andere würde behaupten, Mohammed hat sich vor die Juden gestellt und gesagt: Lass sie gehen. Aber ob er nur 40 oder 900 Juden töten ließ: Das sind keine Widersprüche, das sind Details. Macht es die Geschichte besser, wenn Mohammed nicht 900 Kriegsgefangene, die sich bereits ergeben hatten, sondern nur 40 Menschen getötet hat? Ein Verbrechen bleibt ein Verbrechen, auch wenn die Zahlen variieren.

Khorchide: Es ist ein Unterschied, ob Mohammed Kriegsgefangene getötet hat, oder ob im Kriegsgeschehen selbst beteiligte Soldaten ums Leben gekommen sind. Worauf ich hinaus will, ist, dass wir so unterschiedliche Erzählungen haben.

Sind Sie denn auch der Überzeugung, Muslime müssten mehr Kritik an Mohammed, dem Propheten, üben?

Khorchide: In jedem Fall an den Erzählungen, von denen wir so viele einander widersprechende haben. Hamed Abdel-Samad nimmt einen Erzählstrang und sagt: Mohammed ist ein Kriegsherr. Aber man könnte genauso aus denselben Quellen einen anderen Mohammed herausnehmen, der kein Kriegsherr ist. In anderen Erzählungen, die in der islamischen Tradition viel etablierter sind, ist von Verträgen die Rede, die Mohammed abgeschlossen hat, damit politische Ruhe herrscht. Das waren Friedensverträge.

Ist für Sie, Herr Abdel-Samad, denn Mohammed als Person in jeder Hinsicht diskreditiert? Oder gibt es auch Aspekte, die neben den Schattenseiten als Beitrag zur Kulturgeschichte gelesen werden können?

Abdel-Samad: Es gibt bestimmt auch positive Seiten. Aber die Gewalt, die er an den Tag gelegt hat, seine Geisteshaltung gegenüber Andersgläubigen und Frauen, lässt sie in den Schatten geraten. Auch der IS hat positive Seiten: Er bekämpft Korruption, er kümmert sich um Kinder, Waisen und Witwen. Aber mit all dem kann man die Gräueltaten des IS nicht zur Seite schieben. Mohammed gilt für mich in keinerlei Hinsicht als Vorbild. Vielleicht gab es für einige Menschen zur damaligen Zeit Aspekte, die positiv waren. Es gibt eine Soziallehre im Islam, die Mohammed begründet hat. Dagegen habe ich nichts. Er hat sich um Sauberkeit und Hygiene in Medina gekümmert. Aber: Er war kein Menschenfreund, er war nur Freund der Gläubigen in seinem Sinne. Sollte Gott eine endgültige Botschaft an die Menschen senden, sollte sie alle Menschen betreffen und nicht selektieren nach einer Minderheit, die gut ist, und einer Mehrheit, die böse ist. Gott, wenn er eine letzte Botschaft an die Menschen schickt, kann nicht eine Gruppe seiner Geschöpfe gegen die andere aufhetzen und sagen: „Und schlagt auf ihre Hälse“ oder „Tötet sie, wo auch immer ihr sie findet“. Der Koran lässt Gott selbst auf der Seite der Muslime kämpfen. „Nicht ihr habt sie erschlagen, sondern Allah erschlug sie. Und nicht du hast geschossen, sondern Allah gab den Schuss ab“, heißt es in Sure 8 im Koran. Man lässt Gott selbst als Soldat gegen seine eigenen Geschöpfe wirken. Das hat Mohammed etabliert und deshalb lassen mich die positiven Aspekte seiner Persönlichkeit und seines Tuns kalt, weil die negativen Seiten überwiegen.

Sie, Herr Khorchide, bilden islamische Theologen aus, die zu einem großen Teil islamischen Religionsunterricht erteilen sollen. Wie kann man von Mohammed als dem Boten Gottes reden, gerade angesichts der vielen widersprüchlichen Aussagen?

Khorchide: Wir beide haben nicht zu Unrecht bereits darauf hingewiesen, dass es eine gewisse Sozialethik gab. Und es gab eine Reihe weiterer positiver Aspekte für die damaligen Menschen. Wir dürfen aber auch nicht mit unseren heutigen Kategorien urteilen. Dann würden wir ganz ähnliche Probleme mit Abraham, Mose und auch Jesus bekommen – wie auch mit vielen anderen in der Geschichte, die zu ihrer Zeit Reformer waren. Man muss die Umstände und Kontexte von damals berücksichtigen. Deshalb kann ich Mohammed nicht einfach mit meinen Augen von heute beurteilen und versuchen, Kategorien wie Demokratie oder Menschenrechte und andere mehr bei ihm zu suchen. Auch für seine zeitgenössischen Kritiker galt er als Reformer, der mit Götzendienst und weiteren damals verbreiteten archaischen Traditionen gebrochen hat. Mein Ansatz ist es, diejenigen Narrative stark zu machen, die ich aus denselben Quellen, aus dem Koran selbst, entnehme. Der Koran sagt über Mohammed: Wir haben dich lediglich als Barmherzigkeit für alle Welten entsandt, so Sure 21, Vers 107. Für alle Welten, nicht nur für alle Gläubigen. Das ist für mich ein Schlüsselsatz, den ich meinen Studierenden auch entsprechend vorlege, mit dem wir alles andere filtern müssen. Was damit nicht vereinbar ist, müssen wir verwerfen.

Also ganz im Sinne der christlichen Vorgehensweise, dass man sich den in der Bibel ebenfalls irritierenden Stellen zu nähern versucht, in dem man im Sinne des Kanons im Kanon von der Mitte der biblischen Botschaft ausgeht?

Abdel-Samad: Das ist aber ein Problem. Es reicht angesichts der Salafisten, die die entsprechenden negativen Verse nehmen, um Gewalt und Ausgrenzung zu begründen, nicht aus, die positiven zu recyceln und einem humanistischen Konzept zuzuführen. Wir müssen aus meiner Sicht sowohl die bösen als auch die guten Verse beiseitelegen und jeweils entmachten. Diese Spiele können wir als Theologen in geschlossenen Räumen und in Dissertationen spielen, aber sie sind nicht gesellschaftsfähig. Ich kann aus Mohammeds Biografie keine positiven Aspekte für das Zusammenleben heute nehmen. Bei einem Buch, das erlaubt, dass Frauen im Krieg als Sexsklavinnen missbraucht werden, kann ich nicht sagen: Ich vergesse mal diesen Satz.

Khorchide: Es geht nicht darum, die negativen Verse zu verschweigen, sondern sie mit den Augen der positiven zu lesen und den Koran weiterzudenken. In einem historischen Kontext, der Sklaverei als selbstverständlich sah, spricht der Koran davon, was keineswegs heißt, dass dies für heute gilt. Und es ist ein großes Problem, ein Islambild zu zeichnen, für das sich sonst nur die Extremisten oder Islamisten stark machen. Das ist dasselbe Problem wie bei den Salafisten, die den Koran einfach wortwörtlich nehmen.

Wie kann man denn vor diesem Hintergrund dem Phänomen „Islamischer Staat“ am besten begegnen? Was wäre der Schlüssel, um den Problemen Herr zu werden?

Abdel-Samad: Für mich ist der Islamische Staat ein legitimes Kind von Mohammed, seinem Werk und seiner Aussagen. Der IS besteht nicht nur aus 30 000 bis 40 000 Kämpfern, sondern er besteht aus mehreren Kulturen, die sich verschmolzen haben. Alle die behaupten, der IS habe mit dem Islam nichts zu tun, verhindern dessen Bekämpfung. Begegnen muss man ihm mit der Kultur des Lebens, der Lebensfreude, der Freiheit. Und zur Freiheit gehört meiner Meinung nach, den Koran direkt anzugreifen und zu kritisieren. Nur so kann man dem IS entgegnen. Nicht durch die Beschwichtigung, er habe mit dem Islam nichts zu tun. Nein, wir als islamische Welt haben diese Kultur befördert, durch diese Geisteshaltung gegenüber unseren Mitmenschen, die keine Muslime sind.

Khorchide: Wenn der IS die Konsequenz wäre aus der Lehre Mohammeds, den Muslime als Vorbild schätzen, hätten sich jetzt nicht selbst der syrische Präsident Assad oder Saudi-Arabien so vehement vom IS und seinen Lehren distanziert. Wenn das die logische Konsequenz wäre, wäre die Mehrheit der Muslime froh über den IS, würde den Staat unterstützen und sich damit identifizieren. Das ist aber gerade nicht der Fall. Ohne den Zerfall des Iraks unter Saddam Hussein wäre der IS nie so und mit dieser Geschwindigkeit gewachsen. Mit einem theologischen Diskurs alleine können wir den IS deshalb nicht aus der Welt schaffen. Die meisten Kämpfer kennen den Koran, die Tradition und die Prophetenerzählungen ohnehin nicht. Umso wichtiger ist es, auch hierzulande den Koran im Kontext unserer heutigen Gesellschaften neu zu interpretieren.

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