Religion als neues und altes Thema von Musik„Ein feste Burg ist unser Bach“

Spiritualität, Glaube und sogar Theologie erklingen heute musikalisch in vielen Variationen. Während Pop-Idol Madonna sich auf der Bühne provozierend in die Pose der Gekreuzigten wirft, gründet der Musikproduzent Thomas M. Stein, bekannt durch „Deutschland sucht den Superstar“, das Label „Popwert“ zur Vermarktung christlicher Musik von der Boygroup bis zum Kapellmeister des Papstes.

Mit dem klaren, jedoch allzu griffigen Slogan „Die Musik ersetzt die Religion“ bewarb der Metzler-Verlag vor einigen Jahren die deutsche Übersetzung eines Buches. Das Zitat des rumänisch-französischen Skeptikers Emile Michel Cioran(1911–1995) wirkte brisant; schließlich war das neue Buch die deutsche Ausgabe einer umfassenden „Geschichte der Musikästhetik. Von der Antike bis zur Gegenwart“ von Enrico Fubini. Lassen sich deren Entwicklungen von Homer, Platon und Augustinus über Barock, Klassik und Romantik bis zu Ernst Bloch, Thomas Mann und Theodor W. Adorno auf diesen ein fachen Nenner bringen: „Die Musik ersetzt die Religion“. Das wäre nach der bereits im Mythos beschworenen Geburt der Musik aus dem Geist der Religion nun wahrlich ein Kontrapunkt: die nachchristliche und zugleich außerkirchliche Wiedergeburt von Religion im Reich der Tonkunst. Aber welche Musik soll das leisten. Und welche Facetten von Religion oder Religiosität erwachen dabei zu neuer Vitalität. An solchen Fragen wird vorab deutlich, dass die beiden Grundbegriffe, Religion und Musik, stets im Plural zu hören sind. Zudem kennt das freundlich sie verbindende „und“ recht viele Nuancen. Und auch das Leitmotiv des gegenwärtigenmusikalisch-religiösen Konzerts – es heißt bekanntlich „Spiritualität“ – ist alles andere als eindeutig.

Sollte Ciorans These stimmen, dann ist das traditionelle, etwa von den Psalmen inspirierte und bis zur Gegenwart vielfach komponierte und bedachte Konzept „Musik und Religion“ obsolet geworden. An seine Stelle tritt die Kurzformel „Musik als Religion“, die bekanntlich mit vielen Beispielen zu belegen ist: von Wilhelm Heinrich Wackenroders „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ (1797) und Richard Wagners Opern bis zu den religiös sich inszenierenden Idolen der Pop- und Rockmusik. Doch auch die Liturgie ist keineswegs davor gefeit, dass Musik die Religion ersetzt, weil ihre Darbietung so sehr in den Mittelpunkt rückt, dass kaum noch Platz bleibt, weder für anderes noch für den ganz Anderen.

Ob Religion dann in der Musik auf- oder untergeht, entscheidet sich kaum in der Produktion, sondern in der Rezeption. Religiöse Obertöne werden von vielen auch dort gehört, wo der Komponist sie vielleicht gar nicht beabsichtigt hat. Bei einem ästhetisch-theologischen Fachgespräch in der Evangelischen Akademie Hofgeismar erzählte der Schweizer Essayist und Buchautor Iso Camartin eine wenn nicht wahre, so doch immerhin gut erfundene Begebenheit. Ein Mozartfan hört eine Inszenierung des „Figaro“. Er verlässt das Opernhaus, nachdem ihn das „Contessa, perdono“ der Schlussszene – die Gräfin vergibt ihrem treulosen Gatten alle Schuld – existenziell berührt, ja ergriffen hat, mit den Worten: „Jetzt brauche ich die Beichte nicht mehr.“ Die musikalische Vergegenwärtigung existenziellspiritueller Themen wie Glück und Leiden, Liebe und Tod oder eben Schuld und Vergebung scheint das Höchste zu sein, was überhaupt erreichbar ist. Musik gleich welcher „Sparte“ wird zur Klangsprache für alle Höhen und Tiefen des Daseins und zum alleinigen Lieferanten für die Bedürfnisse des spirituellen Haushalts. Eine erste These, verbunden mit einem Blick in die Geschichte: Musik war und ist Austragungsort ästhetisch-religiöser Spannungen. Die Intensität des Verhältnisses reicht von der flammenden Liebschaft über das konstruktive Arbeitsbündnis in respektvoller Distanz bis hin zu offener Feindschaft. Während etwa die Kirchenmusik im Luthertum ihre im Werk Johann Sebastian Bachs gipfelnde kirchliche Hochblüte mitsamt theologischer Hochschätzung erlebte, wurden in der Schweiz auf reformatorisches Geheiß Kirchenorgeln demontiert und aus dem eingeschmolzenen Metall der Pfeifen Abendmahlsgeschirr gefertigt. Auch heutige Facetten des Themas „Religion gegen Musik“ sind durchaus auszumachen, etwa wenn musikalische Belanglosigkeit mit missionarischer oder therapeutischer Attitüde auftritt, oder wenn das pädagogisch so wichtige Musik-Machen einfach durch Konsumieren ersetzt wird. Letzteres praktiziert der TV-Sender „K-TV“ – er nennt sich selbst „Fernsehsender für Kirche und Kultur“ – bei seinen inflationären Gottesdienstübertragungen mit Musik aus der CD-Konserve.

Weil man im Popbereich mit Musik wirklich Geld machen kann, überflügelt gerade dort die Vermarktung gelegentlich die Religiosität. Der Musikmanager Thomas M. Stein will mit dem neuen Label „Popwert“ den „Markt suchender Menschen mit wertigem und religiösem Musikangebot bedienen“. Die Suche nach dem Gospel-Superstar wird uns wohl kaum erspart bleiben. Vielleicht wird es Marco Frisina, der Kapellmeister des Papstes, den „Popwert“ bereits mit einer „ausgewogenen Mischung von sakralen Werken und Crossover-Stücken“ im Programm führt.

Geistliche Musik blieb resistent gegenüber der Religionskritik

Längst ist religiöse Musik jeglicher Provenienz keine exklusiv kirchliche Angelegenheit mehr. Die Klassik-Szene lebt zu beträchtlichen Teilen aus dem liturgisch-spirituellen Repertoire kirchlicher Texte und Themen, von der Gregorianik – ihr Siegeszug in den Charts blieb allerdings ein kurzfristiger spiritueller Ohrenkitzel – über Monteverdis „Marienvesper“ und Bachs Passionsmusiken bis zu Opern wie Francis Poulencs „Dialogue des Carmelites“ (nach Gertrud von Le Forts Novelle „Die Letzte am Schafott“) oder Olivier Messiaens „Saint François d’Assise“, um nur einige der bekanntesten Werke zu nennen. Wie lebendig etwa die komponierten Gebete der neuen geistlichen Musik sind, zeigt die von dem Dirigenten Marcello Viotti (1954–2005) begründete Konzertreihe „Paradisi Gloria“ des Münchner Rundfunkorchesters. Seitdem die weitere Existenz dieses Orchesters nach langer Ungewissheit gesichert ist, wird die renommierte Reihe 2007 zum Thema „Ewiges Licht“ unter der Leitung des neuen Chefdirigenten Ulf Schirmer fortgeführt. Dass sich immer mehr Festivals religiösen Themen zuwenden und sie bisweilen kreativer präsentieren als die Kirchen, ist ein kultureller Gewinn. Man denke nur an das bislang von dem Dirigenten Thomas Hengelbrock geleitete, inzwischen aber äußerst gefährdete „Feldkirch-Festival“ mit Themen wie „Gottesspuren“ (2003) sowie „Himmel und Hölle“ (geplant für 2007) oder das jährliche „Festival Europäische Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd“ und das diesjährige „Internationale Theaterfestival Freiburg“ zum Thema „Glauben“.

In der so genannten E-Musik sind Christentum, Glaube und Theologie immer präsent geblieben: primär als Kulturgut, erst in zweiter Linie als Verkündigung. Ja, sie werden aktualisiert und quasi inszeniert, nicht selten von kirchendistanzierten Menschen. Mag der Reiz der Annäherung aber noch so sehr ästhetisch begründet sein, geistliche Musik ist ohne den Geist des Christentums nicht zu haben. Der Schriftsteller Reiner Kunze formuliert die Paradoxie seines nachchristlichen Hörens präzise: „Vom Glauben nicht ergriffen, bin ich, wissend, wovon gesungen wird, ergriffen von den Messen Mozarts.“ Dieser Ergriffenheit kann sich auch der religiös weniger Musikalische offenbar kaum entziehen. Und das gilt freilich erst recht für das musikpraktische Interpretieren solcher Werke. Anton Bruckners Motetten oder die „Musikalischen Exequien“ von Heinrich Schütz kann man kaum aus religionskritischer Distanz singen und spielen. Die ästhetisch-geistige Identifikation impliziert eine geistliche, und sei sie noch so fragil.

Musik als Kulturgut oder Verkündigung?

Die Haltung der Interpreten wie der Hörerschaft schwankt so zwischen dem klaren, auch spirituellen Mitvollzug der Botschaft bis zur nur momentanen Identifizierung, sozusagen ad libitum. Insgesamt scheint die musikalische Religiosität eher implizit als explizit. Diskretion steht höher im Kurs als die „Rechenschaft des Glaubens“ (1 Petrus 3,15). Dennoch erklingen die Werke nicht als musikalische Museumsstücke, sondern in gegenwärtiger Lebendigkeit, mithin als religiöse Zeugnisse, die im „konzertanten Exil“ (Peter Paul Kaspar) eine Heimstatt im Rahmen des bildungsbürgerlichen Milieus gefunden haben. Dass weder konfessionelle noch religiöse Schranken hier noch eine Rolle spielen müssen, versteht sich von selbst. Musikalische Begegnungen zwischen den Religionen stecken allerdings noch in den Kinderschuhen.

Das musikalisch-religiöse Spannungsfeld ist reich an Facetten, die heute gleichzeitig erklingen: Kirchenmusik im Dienst der Liturgie, geistliche Werke als musikalisch-konzertante Sprache des Glaubens, und schließlich die bereits erwähnte Sakralisierung von Musik als Kehrseite der Säkularisierung von Religion. Nicht zuletzt an der Sprache wird dies deutlich. Längst haben wir uns daran gewöhnt, dass nahezu das gesamte christliche Vokabular auf die Kunst und näherhin auf die Musik übertragen wird: die „holde Kunst“, im Gebetston besungen vom Schubertlied „An die Musik“; der Künstler nicht nur als Schöpfer, sondern auch als Heiliger und Priester; sein Werk eine „höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie“ (Beethoven); die Aufführung als liturgieähnliche Feier oder gar „Bühnenweihfestspiel“ (Wagner), und die Hörer als die zum „Tempel“ der Musen pilgernde „Gemeinde“; schlussendlich das „Leben ohne Musik ein Irrtum“ (Nietzsche). Eine dezidiert nüchterne Gegenposition gegen alle musikalische Kunstreligion nahm der große Bruckner-Dirigent Günter Wand ein: „Ich bin Musiker, ein Priester bin ich nicht“, sagt er, und Konzerte sind für ihn gerade „kein Gottesdienst, auch kein Ersatz dafür, selbst wenn sie Erlebnisse innerer Besinnung auslösen können.“

Eine Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts unter religiösen Vorzeichen wurde bislang allenfalls in Ansätzen ausgearbeitet, etwa von Clytus Gottwald: „Neue Musik als spekulative Theologie. Religion und Avantgarde im 20. Jahrhundert“ (Stuttgart 2003). Überblickt man die Fülle der Werke, zeigen sich erwartungsgemäß viele, durchaus auch gegensätzliche Facetten: kirchlich noch verankerte Religiosität bei dem polnischen Komponisten Krzysztof Penderecki, höchst subtile Theologie bei Olivier Messiaen sowie quasi private Spiritualität bei Karlheinz Stockhausen oder die eklektisch-explosive Mischung von Judentum, Christentum und Humanismus bei Leonard Bernstein. Die von der Theologie noch kaum gewürdigte Leistung Olivier Messiaens (1908–1992) ist die kompositorische Durchdringung des gesamten Kirchenjahres in ebenso moderner wie unverwechselbar eigener und farbenreicher, bisweilen ekstatisch-eschatologischer Musik-Sprache. Der Mitvollzug der theologischen Implikationen ist alles andere als einfach. Dass das Booklet einer hervorragenden CD-Einspielung seiner hochvirtuosen Klavier-Weihnachtsmusik „Vingt Regards“ (Zwanzig Blicke auf das Jesuskind), gespielt von Pierre-Laurent Aimard, vor Messiaens hochtheologischen Satztiteln kapituliert, ist symptomatisch. Aus dem mystisch-meditativ vom Fest Mariae Verkündigung inspirierten Gedanken der ersten Begegnung Marias mit dem Jesuskind („Première communion de la Vierge“) wird in der deutschen Übersetzung die völlig abstruse „Erstkommunion der Jungfrau“.

Von allen Komponisten des 20. Jahrhunderts hat das Multitalent Leonard Bernstein (1918–1990) die These von der Musik-Religion vielleicht am eindringlichsten ins Werk gesetzt, und zwar in seiner „Mass“ (1971), einer musicalartigen Messe als „Theatre Piece for Singers, Players and Dancers“. Sie beginnt kirchlich mit einer Art Einkleidung des Zelebranten und endet mit dessen Laisierung, die den Hören bei einer Aufführung in der päpstlichen Audienzhalle des Vatikan im Jahr 2000 allerdings vorenthalten wurde. Als tiefreligiöser Mensch begibt der Protagonist sich wieder unter die Menschen. Das Gotteslob „Lauda, laude“ vereint und versöhnt alle und macht Konfessionen ebenso überflüssig wie die Institution Kirche. Bei Bernstein hat der Humanismus die Religion beerbt, und zwar mit den Mitteln der Musik. Zu denken gibt allerdings, dass diese musikalische Abdankung der Messe – der abschließende Gruß „Mass is ended, go in peace“ gewinnt einen fatalen Doppelsinn – sich immer noch im Rahmen der Gattung Messe abspielt, von der auch Bernstein nicht loskommt.

Kaum weniger polemisch geht es bei Mauricio Kagel zu. „An Gott zweifeln, an Bach glauben“ überschrieb er einen Text zu seiner „Sankt-Bach-Passion“ (1985). Die Änderung der Choralworte in „Ein feste Burg ist unser Bach“ ist diagnostisch und polemisch gemeint: Bach, der einzig noch verbliebene Rettungsanker zeitgenössischer Religiosität. Clytus Gottwald betont die theologischen Implikationen des Werkes: „Dadurch, dass Kagel in den Chorälen alle göttlichen Namen tilgte und sie durch die Bachschen ersetzte, demaskierte er den Bach-Kult als Stellvertreter-Religion, folgte aber andererseits dem alttestamentarischen Verbot, den Namen Gottes zu nennen.“ Wenn Kagel am Ende dieser Passion den Bachchoral „Es ist genug“ zitiert, reflektiert er nicht nur auf die Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“ des Thomaskantors, die mit diesem Choral schließt. Er bezieht sich zumindest indirekt zugleich auf berühmte frühere Zitationen dieser Liedstrophe: zum einen auf Bernd Alois Zimmermanns „Ekklesiastische Aktion“ (1970), in der ebendieser Choral am Schluss des Werkes fragmentarisch und im aggressiven Blechbläserklang des Endgerichts erklingt; zum anderen auf Alban Bergs „dem Andenken eines Engels“ gewidmetes Violinkonzert (1935), in welchem Bachs Choral als Chiffre des verheißenen Glücks fungiert, letztlich auch als Erinnerung an die verlorene, nur noch mit einer „Zuflucht im Zitat“ zu rettende Dimension des Religiösen, was Berg durch die bei Bach noch gänzlich undenkbare Vortragsanweisung „religioso“ unterstreicht.

Ein ganz eigenständiges „Werk“ ist schließlich das „John-Cage-Projekt“ in Halberstadt. In der Burchardi-Kirche, die schon längst nicht mehr als Gottesdienstraum genutzt wird, steht eine Orgel mit wenigen Pfeifen, die nur ein Stück zu spielen hat, nämlich „As slow as possible“ von John Cage (1912–1992). Dies allerdings ganze 639 Jahre lang, wenn den Initatiatoren mitsamt ihren Nachfahren sowie dem Instrument der Atem nicht früher ausgeht. Dieses Projekt spiritueller Entschleunigung ist ein Experiment mit der Zeit und auf Zeit. Querständig zu allem Kosten-Nutzen-Denken erklingen Orgeltöne als „Zweck an sich“, ja als neue Variante einer Musik zur Ehre Gottes: „Das hat ja eigentlich nur Sinn für den ganz großen Zuhörer da oben, der als einziger alles mitkriegt“ (Dieter Schnebel). Den nächsten Klangwechsel wird es am 5. Juli 2008 gegeben.

Popmusik als religiöse Sprache?

Zahlreiche neuere theologische Untersuchungen widmen sich der Pop- und Rockmusik. Sie betonen deren religiöse Implikationen, die im Übrigen auch für den Jazz gelten. Im Mittelpunkt stehen dabei das persönliche Zeugnis und seine gelegentlichen Echos in der Musik, etwa bei Duke Ellington oder in John Coltranes „A Love Supreme“:„Suche Ihn jeden Tag.In allem suche Gott an jedem Tag. Lasst uns jedes Lied für Gott singen.“ Das religiös Neue in der Popmusik ist die kultische Inszenierung, die inzwischen keine Grenzen mehr zu kennen scheint. Madonna singt eines ihrer Lieder in der Pose der Gekreuzigten, und die Kirchen finden sich in einem Dilemma: Reagieren sie nicht, fühlen Gläubige sich im Stich gelassen; reagieren sie, wertet die PR-Abteilung der Tournee das als großen Erfolg, der sich finanziell auszahlt. Plausibel scheint die These von Bernd Schwarze, dass viele Spielarten von Pop und Rock letztlich musikalische Varianten der Gnosis sind: „Im Kultus des Popkonzerts werden Stars als Götter verehrt. Das eigentlich Göttliche im Kult der populären Musik ist jedoch die Musik selbst.“ Äußerst banale, aber nicht weniger religiöse Töne schlägt die volkstümliche Musik an, denn sie bietet religiöse Versatzstücke in größtmöglicher Trivialisierung zum sofortigen Verzehr. Die religiöse Gefahr dieser Musik ist die Tendenz zum Regressiven. Die romantische Sehnsucht nach Heimat wird hier nicht mehr ausgehalten, sondern sie bleibt generell unbefriedigt, weil sie immer nur vordergründig befriedigt wird.

Jeder, der Musik macht, erlebt in seinem Tun Momente des Transzendierens. Der Klang eines Beethovenschen Streichquartetts ist mehr als die Summe dessen, was vier Menschen auf ihren Instrumenten hervorbringen. Insofern sind die Akte des Komponierens, Improvisierens und Interpretierens Beispiele für die künstlerische Schöpfung des „homo artifex“, die als Spuren in Richtung des „Deus artifex“ gehört und begangen werden können. Christlicher Glaube wird musikalisch erfahrbar sowohl in seinen Inhalten als auch im Blick auf den Glaubensakt. Nicht nur der Rhythmus des Kirchenjahres, sondern auch Zweifel und Vertrauen als Haltungen des Glaubens werden komponiert. Was heute am meisten fehlt, ist der Dialog zwischen diesen Werken voller Spiritualität und dem kirchlichen Glauben. Gerade weil für viele die Musik eine der letzten Brücken zur Religion darstellt, ist deren religiöser Erschließung mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Insofern ist der eingangs zitierte Werbeslogan zu modifizieren: Musik ersetzt nicht die Religion, vielmehr begleitet sie Menschen auf ganz verschiedenen religiösen Wegen. Diese Wege führen nicht mehr geradewegs in die Kirche. Aber es könnte häufiger ins Bewusstsein treten, wie intensiv kirchliche Themen mit im Spiel sind. Das setzt eine kirchlich-ästhetische Selbstvergewisserung voraus: Welche Musik ist denn dem Glauben adäquat? Und wie lässt sich der vielerorts abgebrochene Kontakt zur Neuen Musik wieder aufnehmen?

Neben der biblischen Theologie liegt ein besonderer Akzent neuer Werke auf einer Art „Negativer Theologie“. Als Schlüsselwerk sei György Ligetis berühmtes Chorstück „Lux aeterna“ für 16-stimmigen Chor a cappella (1966) genannt, das Berühmtheit als Filmmusik in dem Streifen „Odyssee im Weltraum“ erlangt hat. In milden Farbwechseln bringt Ligeti das ewige Licht klanglich zum Leuchten. Die liturgischen Worte dehnt und rhythmisiert er bewusst ins semantisch Unverständliche, um ein vorschnelles und letztlich vermeintliches Verstehen des schlechthin Geheimnisvollen kompositorisch abzuwehren. Diese Musik kommt „aus der Ferne“ und verklingt schließlich im „niente“. Die am Ende zusätzlich ausgeschriebenen sieben Pausentakte sind nichts anderes als eine Beschwörung der Stille. In Stanley Kubricks Film mag dies die Stille des Weltraums sein. Nicht nur der Rezipient, sondern auch der Kontext des Erklingens bestimmt mit, was Musik vermittelt. Der liturgische Text „Lux aeterna“ soll im Film keine Rolle mehr spielen, was dem Regisseur auch gelingt.

Mit dem Wunsch „Möge ihnen diese Stille klingen“ hatte bereits 1924 Arnold Schönberg die „Sechs Bagatellen“ für Streichquartett (1913) von Anton Webern kommentiert. Solches Erklingen von Stille, heute auch von Arvo Pärt und anderen programmatisch gefordert, ist notwendiges Pendant allen Erklingens. Deshalb ist neben dem Klang auch die Stille ein Qualitätskriterium, und dies nicht nur für religiöse Musik.

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