Das evangelische OrdinationsverständnisMit Bibel und Beffchen

In der evangelischen Kirche verkünden Pfarrerinnen und Pfarrer das Evangelium und verwalten die Sakramente. Heilsnotwendig sind sie nicht.

Tief in den Grüften meines Schreibtisches ruht unter den Zeugnissen und Urkunden ein schlichtes Blatt Karton mit fünf Unterschriften, überschrieben mit dem Wort „Ordinationsurkunde“. Der Text hält nicht nur fest, dass ich am 4. September 1994 in der Klosterkirche zu Tübingen-Bebenhausen in den Pfarrdienst der evangelischen Landeskirche in Württemberg eingeführt wurde, sondern wiederholt, was ich damals „vor Gott und der christlichen Gemeinde“ übernommen habe, die Worte, in denen die Grundzüge des geistlichen Amtes in den Kirchen der Reformation festgehalten sind.

„Im Aufsehen auf Jesus Christus, den alleinigen Herrn der Kirche, bin ich bereit, mein Amt als Diener des göttlichen Wortes zu führen und mitzuhelfen, dass das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift gegeben und in den Bekenntnissen der Reformation bezeugt ist, aller Welt verkündigt wird.

Ich will in meinem Teil dafür Sorge tragen, dass die Kirche in Verkündigung, Lehre und Leben auf den Grund des Evangeliums gebaut werde und will darauf achthaben, dass falscher Lehre, der Unordnung und dem Ärgernis in der Kirche gewehrt werde.

Ich will meinen pfarramtlichen Dienst im Gehorsam gegen Jesus Christus nach der Ordnung unserer Landeskirche tun und das Beichtgeheimnis wahren.“

So oder ähnlich lautet in allen Landeskirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) die mit dem Pfarramt verbundene Verpflichtung, die zu Ordinierende vor einer gottesdienstlichen Gemeinde, vor denen, die sie ordinieren, vor den Zeugen und letztlich vor Gott bekräftigen. Der Text hält fest, dass man als Pfarrerin und Pfarrer nicht aus eigener Vollkommenheit, Weisheit und Macht redet, sondern die Botschaft des Evangeliums weitergibt, die in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testamentes überliefert ist und in den Bekenntnissen der Reformation bezeugt wurde. Manche Landeskirchen bestimmen näher, welche Bekenntnisse der Reformation gemeint sind, andere überlassen die Auswahl denen, die ordiniert werden möchten. In den allermeisten Fällen aber ist das Augsburger Bekenntnis von 1530 Teil dieser Bekenntnisse, inzwischen auch die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen aus dem Jahre 1934.

Die Stimme erheben gegen Unordnung und Ärgernis

Konkret bedeutet das, dass ich beispielsweise auf einer Kanzel nicht zuallererst Ergebnisse meines Nachdenkens auszubreiten habe, sondern weiterzuerzählen habe, was aus einem biblischen Text als gnädige Anrede Gottes an Menschen von heute zu vernehmen ist, und dazu alle meine gedankliche Kraft, Sensibilität für die Menschen unter der Kanzel und rhetorisches Talent zusammennehmen soll. Das sogenannte Ordinationsgelübde, das im Rahmen des Ordinationsgottesdiensts dem zu Ordinierenden vorgelesen wird, beschränkt sich aber nicht auf das Individuum einer Pfarrerin oder eines Pfarrers.

Es weist diesem Individuum eine Verantwortung für das Ganze der Kirche Jesu Christi zu, in der man zum geistlichen Amt ordiniert wird. Verkündigung, Lehre und Leben sollen auf dem Grund des Evangeliums gebaut werden und nicht auf kurzlebigen politischen Ideologien, gerade modischen Philosophien und zeitweilig schicken Lebensentwürfen. Das Evangelium hat eine eminent kritische Kraft, mit der Widerspruch gegen totalitäre Ideologien, die Selbstermächtigung menschlicher Weisheit zu absolutem Wissen und gegen Lebensverhältnisse markiert wird, die Menschen weh tun. Dieser Widerspruch kann allerdings nur laut werden, wenn die „Diener des göttlichen Wortes“ diesen Einspruch auch weitergeben und nicht den Arm heben und mitbrüllen, wenn die Meute schreit.

In den Kirchen der Reformation gibt es kein Lehramt eines Papstes und übrigens auch kein Lehramt von Professoren, sondern die gemeinschaftliche Verantwortung aller dafür, dass die Kirche beim Evangelium bleibt. Aber es ist mir im Leben schon gelegentlich so gegangen, dass ich deutlich sagen musste, dass eine bestimmte Position nicht dem Evangelium entspricht, wie es uns in der Bibel Alten und Neuen Testamentes aufgegeben ist – es ist nicht immer angenehm, das Menschen ins Gesicht zu sagen, und ich überlege auch lange, es zu tun, aber gelegentlich ist es unvermeidbar: Ich habe es vor fast fünfundzwanzig Jahren versprochen.

Gegen Unordnung und Ärgernis soll man als Ordinierte und Ordinierter auch seine Stimme erheben: Das meint zunächst einmal, präzise zu sprechen und Menschen zu helfen, die in der Unübersichtlichkeit unserer Tage verloren zu gehen drohen. „Sollen wir unsere Omi von der Herz-Lungen-Maschine nehmen?“ – natürlich steht im Evangelium nicht die Antwort „Ja“ oder „Nein“ geschrieben, aber mit dem Evangelium in der Hand und im Herzen kann man Menschen helfen, ihre eigene Antwort auf die Frage zu finden und nicht im Chaos ihrer Gedanken und Gefühle zu versinken. Wenn ich das Stichwort „Ärgernis“ höre, denke ich immer zunächst einmal daran, welches Ärgernis ich selbst Menschen bereitet habe bei meinen Tätigkeiten als Pfarrer.

Der letzte Abschnitt ist der, der einem kommunikativen Menschen wie mir am schwersten fällt: Gern unterhalte ich mich mit meiner Ehefrau über schwierige und schöne Momente des Alltags – aber ich musste lernen, dass das, was mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut wird, auch in meinen intimsten Verhältnissen tabu ist. Viele Menschen beichten ja gar nicht in einem herkömmlichen Sinne in der evangelischen Kirche, sondern vertrauen einem etwas an, beispielsweise mit den Worten: „Das behandeln Sie doch absolut vertraulich, oder?“

Die vielleicht wichtigsten Worte meines Ordinationsgelübdes stehen an dessen Beginn: „Im Aufsehen auf Jesus Christus, den alleinigen Herrn der Kirche“. Wer sein Leben in den Dienst der Verkündigung des Evangeliums stellen will, ist nicht nur irgendwie von Jesus von Nazareth beeindruckt. Er erwartet vielmehr Orientierung von ihm für sein Leben, auch für schwierige Situationen eines pfarramtlichen Dienstes. „Was würde Jesus dazu sagen?“, lautet die praktische Kontrollfrage, die Martin Niemöller einmal formuliert hat. Gelegentlich blicke ich tatsächlich auf zu Jesus, vor vielen Jahren, als ich bei meiner Ordination vor dem Altar kniete und auf das große barocke Altarkreuz schaute, aber auch am Altar des Berliner Doms, weil das Kreuz so hoch steht. Aber dann wird mir immer deutlich, dass er sich zu den Menschen herabbegeben hat und mir – wie man heute gern sagt – auf Augenhöhe entgegenkommt.

Christus wird also nicht durch den ordinierten Amtsträger in besonderer Weise repräsentiert, sondern durch das biblische Wort, das eine Pfarrerin oder ein Pfarrer weitergeben: „Wer euch hört, der hört mich“ (Lukas 10,16). Mit anderen Worten: Christus ist in seiner Gemeinde gegenwärtig, wenn alle ganz bei ihm sind. Andere „Herren“ gibt es in der Kirche Jesu Christi nicht außer diesem einen Herrn, der uns als Bruder entgegenkommt; Herren sollte es auch in der evangelischen Kirche nicht geben. Gelegentlich sage ich, um das deutlich zu machen, dass Bischöfe und Superintendenten nur ein Sonderpfarramt innehaben wie die Sonderpfarrämter der Gefängnis- oder Zirkusseelsorge und kein Herrschaftsamt eigenen Rechts. Das ist dann natürlich etwas überpointiert formuliert, aber versucht, eine Pointe des sogenannten synodalen Bischofsamtes in der evangelischen Kirche zum Ausdruck zu bringen.

In meinem Ordinationsgottesdienst in der gotischen Zisterzienserkirche von Bebenhausen im Sommer 1994 folgte auf die Verlesung des eingangs zitierten und ausgelegten Ordinationsgelübdes (und bestimmter biblischer Texte) die Frage, ob ich bereit sei, das so beschriebene Amt zu übernehmen, und ich habe „Ja, mit Gottes Hilfe“ geantwortet. Darauf hat der mich ordinierende Oberkirchenrat mir die Hände aufgelegt, ein Segenswort gesprochen und mich so in das geistliche Amt eingesetzt. Im Anschluss daran gaben mir meine akademische Lehrerin, mein Berliner Gemeindepfarrer aus Kinder- und Jugendtagen und die Gemeindekirchenratsvorsitzende der Gemeinde biblische Worte mit und einen Segenswunsch, sie fungierten als die Assistenten dieser Ordination. Meine sehr aufgeregte Lehrerin, eine reformierte Kirchenhistorikerin, las übrigens einen Text von Martin Luther vor, mein sehr bewegter Gemeindepfarrer sprach mir den schönen Satz „wir werden nicht müde“ aus dem zweiten Korintherbrief des Apostels Paulus (4,16) zu, an den ich seither oft gedacht habe. Der Gottesdienst schloss dann mit Gebet und Segen.

Der Bischof muss nicht dabei sein

Manche Landeskirchen feiern die Ordination deutlich reicher, so wird in vielen Gegenden Deutschlands noch die Gemeinde gefragt, ob sie den Dienst der Pfarrerin beziehungsweise des Pfarrers annehmen und mit ihm zusammenarbeiten möchte. Ich fühlte mich auch mit der etwas kargeren württembergischen Liturgie seinerzeit reich beschenkt.

Eine solche Einsetzung unter Gebet, Handauflegung und Anrufung des Heiligen Geistes stellt die „geordnete Berufung“ dar, die das Augsburger Bekenntnis zur Voraussetzung der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung macht (Artikel XIV): „Vom Kirchenregiment, d. h. vom kirchlichen Amt, wird gelehrt, dass niemand in der Kirche öffentlich lehren oder predigen oder die Sakramente reichen soll ohne ordnungsgemäße Berufung“. Diese drei Elemente des Gebets, der Handauflegung und der Anrufung des Heiligen Geistes sind zusammen mit der Selbstverpflichtung des Ordinierten beziehungsweise der Ordinierten der Kernbestand einer evangelischen Ordination. Handauflegung ist die traditionelle Geste der Weitergabe eines Segens für eine individuelle Person, natürlich keine magische Handlung. Ob diese Handauflegung nun durch einen Bischof oder eine Bischöfin erfolgt, um auf diese Weise die gesamtkirchliche Dimension des Ordinationsgottesdienstes zum Ausdruck zu bringen, oder wie in meinem Fall durch einen Oberkirchenrat im Gottesdienst der Gemeinde, in der der Einzuführende gewöhnlich Gottesdienst feiert, ist von Landeskirche zu Landeskirche unterschiedlich und kann jeweils gut begründet werden.

Martin Luther hat gemeinsam mit anderen Professoren einen Pfarrer zum Bischof eingesetzt, weil gerade kein anderer Bischof zur Verfügung stand – eine sprechende Geste dafür, dass solche Fragen keinen Bekenntnischarakter haben, sondern nach vernünftigen Überlegungen guter Ordnung geregelt werden können. Einige Landeskirchen laden Gäste aus der Ökumene ein, um zu demonstrieren, dass die Kirche Jesu Christi größer und weiter ist als eine evangelische Landeskirche in Deutschland. Gelegentlich wird sogar ein Gast aus einer Kirche geladen, in der seit dem Mittelalter eine ununterbrochene Kette von Bischöfen und Bischöfinnen ein sichtbares Zeichen der Kontinuität der einen christlichen Kirche in den Kirchenspaltungen der frühen Neuzeit gibt.

An meiner eigenen Ordination 1994 haben wohl einige meiner katholischen Freundinnen und Freunde teilgenommen, die ich vor allem während meines Studiums in Jerusalem kennen und schätzen gelernt habe, aber kein römisch-katholischer Priester, und es hat auch sonst kein Gast aus der Ökumene am Altar amtiert. Umgekehrt habe ich als Student an zwei Priesterweihen solcher Freunde teilgenommen, aber natürlich als Gast im Kirchenschiff und nicht als Assistent in der Liturgie. Das entsprach damals üblicher Praxis.

Evangelische Pfarrer leisten dem Evangelium Gehorsam

Lange Zeit ist die evangelische Ordination vor allem in Abgrenzung zur römisch-katholischen Priesterweihe expliziert worden: Dann wurde gern zitiert, dass nach Martin Luther in der evangelischen Kirche alle Christen, die „aus der Taufe gekrochen sind“, sich rühmen können, dass sie „schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht“ seien, „obwohl es nicht einem jeglichen ziemt, solch Amt auszuüben“. Diese Sätze aus seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ wurden dann als Beleg eines Priestertums aller Glaubenden genommen, aus dem durch die Ordination lediglich der guten Ordnung halber einige Christenmenschen speziell mit dem Verkündigungsdienst und der Sakramentsverwaltung beauftragt sind. Sie leisten zudem dem Evangelium Gehorsam und versprechen nicht, wie in der Liturgie der Priesterweihe, ihrem Bischof Ehrfurcht und Gehorsam.

Nun wird man nicht leugnen können, dass es noch sehr deutliche Unterschiede im Verständnis des geistlichen Amtes zwischen evangelischer und katholischer Kirche gibt – in den evangelischen Kirchen werden seit dem vergangenen Jahrhundert endlich auch Frauen als Pfarrerinnen ordiniert, nachdem der sogenannte „große Konsens“ vieler evangelischer Synoden festgehalten hatte, dass diese Praxis dem Zeugnis des Evangeliums besser entspricht als eine Beschränkung des Amtes auf Männer allein. Meine eigene Frau wurde (übrigens vier Jahre vor mir) als Pfarrerin ordiniert, und die seltenen Momente, in denen wir gemeinsam Gottesdienst feiern, sind mir besonders kostbar. Ich verstehe auch nicht, warum Männer Christus in der Gemeinde besser oder gar ausschließlich repräsentieren können – sind wir doch alle miteinander, Männer wie Frauen, gleich weit entfernt von Jesus Christus und nur deswegen Gäste an seinem Tisch, weil er uns einlädt und gerecht spricht.

Aber natürlich ist mir auch klar, dass eine römisch-katholische Schwesterkirche, die morgen Frauen zum geistlichen Amt ordinieren würde, eine ungleich schlimmere Spaltung als die im 16. Jahrhundert riskieren würde. Wir haben es vergleichsweise leicht, die Ordination der Frau von unseren römisch-katholischen Geschwistern zu fordern. Insofern hoffe ich, wie viele andere Christenmenschen aus beiden Konfessionen, darauf, dass wir uns wenigstens gegenseitig die Ämter anerkennen und vielleicht einmal am Altar als Assistentinnen und Assistenten bei unseren Gottesdiensten unter Leitung eines Priesters oder Pfarrers zusammen wirken können – viele ökumenische Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte hätte vor hundert Jahren auch niemand für möglich gehalten.

Zu den bereits erreichten Konsensen zwischen den Kirchen gehört immerhin, dass das geistliche Amt kein kluger Struktureinfall der christlichen Gemeinde ist, sondern von Christus selbst einzelnen Menschen übergeben wurde – und über diese exegetische Beobachtung an neutestamentlichen Texten mag einmal eine ökumenische Anerkennung der Ämter zustandekommen. Jedenfalls muss man den Charakter der Ordination nicht mehr ausschließlich im Gegensatz zu einer Priesterweihe bestimmen, auch wenn – wie gesagt – Unterschiede bleiben.

Von Zeit zu Zeit hole ich die Urkunde, die nach meiner Ordination in der Sakristei von den Beteiligten unterschrieben wurde, aus dem Schreibtisch. Ich erinnere mich an meine Ordination und denke über mein Gelübde nach, aufgrund dessen mir „im Gottesdienst der Gemeinde die kirchliche Ordination erteilt“ und damit meine „Berufung zum Pfarrdienst in der evangelischen Kirche öffentlich bestätigt“ wurde. Ich frage mich dann, ob ich bei diesem Versprechen geblieben bin und mich nicht etwa zum Herrn einer guten Nachricht aufgeschwungen habe, die ich eigentlich nur möglichst unverändert weitersagen soll. Ich frage mich weiter, ob ich zu viel mit professoraler Gelehrsamkeit prunke oder hoffentlich doch bescheiden hinter einer bewegenden Botschaft zurückgetreten bin. Und ich frage mich, ob ich für mich behalten habe, was mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut wurde. Vor allem aber frage ich mich, ob ich die mir aufgegebene Kritik unevangelischer Lehre und ungeordneter Verhältnisse in der Kirche sowie den Einspruch des Evangeliums gegen lebensfeindliche Verhältnisse mit der heiteren Bestimmtheit vorgebracht habe, die mir einer meiner Ordinationszeugen empfohlen hat, oder mit einer ganz unevangelischen Selbstgerechtigkeit.

In solchen Situationen denke ich dann sehr dankbar daran, dass nicht nur im September 1994 der alte, von Luther ergänzte Choral „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ gesungen wurde, sondern ich ihn seither viele Male wieder und wieder habe singen lassen und selbst gesungen habe: „Du wertes Licht, gib uns deinen Schein, lehr uns Jesum Christ kennen allein“.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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