Die apokalyptischen Reiter des Neuen AtheismusAggressive Gottesbestreiter

Zu den markantesten Phänomenen der gegenwärtigen Diskussionen über die Gottesfrage gehört der Neue Atheismus. Er tritt als Akteur weltbildförmiger Auseinandersetzungen auf. Seine aggressive Ausrichtung ergibt sich aus dem polemischen Kontext, dem er entstammt: internen gesellschaftlichen Debatten und globalen religionspolitischen Spannungen. Wie aber ist er zu bewerten?

Ihre Bekanntschaft kann man auf Youtube machen. In einer Gesprächsrunde, die am 30. September 2007 von der „Richard Dawkins Foundation for Reason and Science“ aufgezeichnet wurde, diskutieren vier gut gelaunte Herren über die Bedeutung von Religion und ihre Kritik. Die Stimmung ist bestens, die grundlegenden Plausibilitäten werden geteilt. Die DVD des Mitschnitts unterlegt der entspannten Runde einen eigenen Ton. „The Four Horsemen“ werden da annonciert, eine Anspielung auf die vier apokalyptischen Reiter: Richard Dawkins, Daniel Dennett, Sam Harris und Christopher Hitchens.

Mit ihren religionskritischen Büchern stürmten sie die internationalen Bestsellerlisten. Ein eigener Buchmarkt entstand und machte die „Church of the Non-Believers“ zum medialen Ereignis. Der Titel stammt von Gary Wolf, der in einem Aufsatz für das Magazin „Wired“ im November 2006 auch die Marke „New Atheism“ prägte. Die Wiederkehr der Religionen im öffentlichen Raum fand seitdem ihre Fortsetzung im Streit um die wissenschaftliche und ethische Haftbarkeit religiöser Überzeugungen. Polemische Diskussionsrunden zwischen den Vertretern des New Atheism und ihren Kritikern bestückten Talkshows und brachten es auf die Titelseiten der großen internationalen Magazine. Der Mix aus aggressivem Auftritt und lässig-ironischem Gestus verlieh dabei den wissenschaftlich aufgesetzten Argumenten der „New Atheists“ eine hohe Durchschlagskraft in den Debatten – zumindest was die mediale Aufmerksamkeit betrifft.

Der aggressive Atheismus kommt aus den Vereinigten Staaten

Offensichtlich traf der New Atheism einen Nerv der Zeit. Spätestens seit den achtziger Jahren schienen die großen religionskritischen Auseinandersetzungen mit Öffentlichkeitsvermerk vom Tisch zu sein. Aber mit dem religionspolitischen Interesse an den „Public Religions“ (José Casanova) rückte die Verzahnung von Religion und Gewalt neu in den Blick. 9/11 stellt für die westliche Welt ein Fanal dar, einen traumatischen Ausgangspunkt des 21. Jahrhunderts. Religiöse Fundamentalismen unterschiedlichster Art stellen nicht nur die säkularen Demokratien in Frage, sondern verlangen nach kritischer Durchmusterung der tragenden Überzeugungen. Lassen sich die Geltungsansprüche der unterschiedlichen religiösen Traditionen mit dem szientifischen Weltbild des modernen Menschen vereinbaren (vgl. dieses Heft, 15 ff.)? Und fordern nicht die terroristischen Konsequenzen religiöser Attentäter eine Abkehr von den Religionen selbst, auf die sie sich berufen?

In Deutschland hatte schon im Jahr 2000 Herbert Schnädelbach eine fulminante Kritik des Christentums aufgelegt („Fluch des Christentums“) und eine intensive Debatte angeregt (vgl. dieses Heft, 6 ff.). 2005 veröffentlichte Michel Onfray mit seinem „Traité d’athéologie“ den ersten atheistischen Bestseller des neuen Jahrhunderts. Aber erst die besondere religionspolitische Chemie der US-amerikanischen Gesellschaft ermöglichte das Phänomen des New Atheism und den Durchbruch eines aggressiven Atheismus in einer eigenen Spielform. Es sind zumal die evangelikalen Fundamentalisten in den USA mit ihrem politischen Einfluss, die Dawkins und Co anvisieren. Seit der Regierung von Ronald Reagan fließen religiöse Formeln verstärkt in die politische Semantik ein. Offen verband George W. Bush seine Begründungen für den zweiten Irakkrieg mit seinem persönlichen Glauben. In den USA ist bis heute ein Präsident, der sich nicht religiös bekennt, kaum vorstellbar. Evangelikale Christen treten immer wieder militant auf – vom Kampf gegen Abtreibung bis zum Eintreten für kreationistische Schulbücher im Biologieunterricht.

Vor diesem polemogenen Hintergrund sprach Gary Wolf von einem „Kreuzzug gegen den Glauben an Gott“, den die Neuen Atheisten führten. Einerseits nahmen sie die intellektuelle Debatte auf, andererseits organisierten sie sich wie ihre religiösen Gegner – wenn nicht kirchenförmig, so doch mit dem Gespür für die Notwendigkeit einer institutionellen Basis. Aus den Erfolgen ihrer Bücher finanzierten Dawkins und Dennett eigene Stiftungen. Bereits 2003 hatte die „Atheist Alliance International“ eine Plattform gegründet, auf der sich Atheisten unter der Selbstbezeichnung „Brights“ zusammenschließen konnten. „Ein Bright ist eine Person mit einem naturalistischen Weltbild. Das Weltbild eines Bright ist frei von übernatürlichen und mystischen Elementen. Die Ethik und Handlungen eines Bright basieren auf einem naturalistischen Weltbild“ (www.brights-deutschland.de).

Die Liste der Mitglieder und Unterstützer weist eine hohe Vernetzung mit den Protagonisten des New Atheism auf. Man begreift sich als eine „Bewegung“, die „für die Ideale des Naturalismus“ eintritt und auf eine gesellschaftspolitische Gleichberechtigung der Anhänger eines „naturalistischen Weltbilds“ drängt.

Der religiöse Glaube auf der Anklagebank

Damit zeichnet sich die Konstellation des neuen atheistischen Diskursfeldes ab. Der Neue Atheismus tritt als Akteur weltbildförmiger Auseinandersetzungen auf. Seine aggressive Ausrichtung ergibt sich aus dem polemischen Kontext, dem er entstammt: internen gesellschaftlichen Debatten, die er mit einem Emanzipationsanspruch führt, wie globalen religionspolitischen Spannungen, in denen sich das zerstörerische Potenzial von Religionen zeigt.

Die Streitschrift „The End of Faith“ von Sam Harris setzt hier an (Das Ende des Glaubens. Religion, Terror und das Licht der Vernunft, Winterthur 2007; orig.: The End of Faith – Religion, Terror and the Future of Reason, New York 2005; vgl. auch: Brief an ein christliches Land. Eine Abrechnung mit dem religiösen Fundamentalismus, München 2008; orig.: Letter to a Christian Nation, New York 2006).

Angeklagt ist der religiöse Glaube, das Urteil spricht die Vernunft. Schon mit dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass Rationalität und Religion vorab unversöhnbar erscheinen. Fatal erscheint, dass auf diese Weise die spezifische Rationalität der laufenden religiösen Vorgänge nicht in den Blick kommen kann: nicht ihre eigenwilligen Begründungsleistungen, nicht ihre Zeichenpolitik, nicht ihr kultureller Hintergrund.

Die polemische Anlage seines „Frontalangriffs“ (Observer) hat erkenntnistheoretische Voraussetzungen, die den Gang der Argumentation bis in die Metaphorik hinein bestimmen. Harris bedient sich immer wieder militärischer Bilder, die er suggestiv in apokalyptische Szenarien einspeist (234, 157 ff., 186). Vor den Augen der Leser entsteht das Panorama einer globalen Schlacht um die Vernunft, an deren Ausgang unsere Zukunft hängt. Um zu bestehen, muss immer wieder zum Kampf mit allen Mitteln aufgefordert werden.

Die Vorstellung, man könnte in einen atomaren Erstschlag getrieben werden, um sich gegen den Terror islamistischer Atommächte zu schützen, weist der Autor selbst als „unvorstellbares Verbrechen“ aus, um es als „verrückt“ und als „glaubwürdiges Szenario“ zugleich zu beschreiben, in das einen Religionen treiben können (131). Mit anderen Worten: Die Möglichkeit bleibt, dass sich der Westen nur so schützen kann. Mit dem Islam bringt Harris auf den Punkt, was die Unvernunft aller Religionen markieren soll: ihr destruktives Moment.

Inquisition und Shoa stellen nur die äußerste Konsequenz des Christentums dar. Beide sind „folgerichtig und notgedrungen aus dem christlichen Glauben hervorgegangen“ (107). Nur weil sich der Westen moralisch auf eine höhere Stufe entwickelt und die irrationalen Auswüchse der Religionen wenigstens im Ansatz gebändigt hat, entkommt das Christentum dem politischen Vorschlag, mit dem Harris auf die islamistische Bedrohung reagiert. „Ansonsten sehen wir uns gezwungen, unsere Interessen in der Welt mit Gewalt zu verteidigen – und zwar kontinuierlich. In diesem Falle ist es nahezu sicher, dass unsere Zeitungen sich in zunehmendem Maße lesen werden wie das biblische Buch der Offenbarung“ (156). Die apokalyptische Wendung gibt dem Bild von den „Four Horsemen“ eine sachliche Grundlage. Der atheistische Prediger nimmt bis in die Rhetorik und vor allem mit seinen geopolitischen Strategien die Maske seines evangelikalen Gegenübers an.

Markanter Ausfall an Grundlagenwissen

Auf der gleichen Linie bewegt sich Christopher Hitchens (Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet, 2. Aufl., München 2007; orig.: God Is Not Great – How Religions Poisons Everything, New York 2007). In seinem Fokus stehen Gottesvorstellungen, die nur den einen Schluss zulassen: dass Religion alles vergiftet. Sein Ansatz nimmt, wie bei Harris, den Charakter einer totalisierenden Beanspruchung von Religion an. Dabei kann er ohne nähere Bestimmung dessen auskommen, was das Konzept Religion meint.

Hier macht sich der Verzicht bemerkbar, nicht nur die jeweiligen Theologen argumentativ zu beanspruchen, sondern wenigstens Religionswissenschaftler in die Zeugenliste aufzunehmen. Markant macht sich dann der Ausfall an Grundlagenwissen bemerkbar. Kein Philologe könnte sich erlauben, mit dem komplexen Textmaterial des Alten und Neuen Testaments umzugehen, wie es Hitchens gefällt (vgl. die Kapitel 7 und 8). Kein Philosoph ließe sich mit den wenigen Federstrichen zu den Gottesbeweistraditionen abspeisen, die Hitchens seinen Leserinnen anbietet (vgl. Kapitel 18). Das entsprechende Kapitel tritt unter der Maxime an: „Eine edlere Tradition: Die Vernunft setzt sich zur Wehr“ (305 ff.). Der polemische Impuls kommt in der Zeichnung der wichtigsten Figuren ohne jeden Hinweis auf die kritische Funktion der Argumente von Anselm bis Kant aus, die Hitchens kompakt aufruft.

Konsequent fehlt die Bestimmung der selbstreflexiven Grenzbestimmung der religiösen Vernunft, die sich im philosophischen Gottesbeweis durchsetzt. Nichts justiert die eigene Kritik so, dass auch die Stärke des religionsphilosophischen Gedankens zum Tragen käme. Er ist es offensichtlich nicht wert. Nachdem die Unvernunft, die strukturelle Gewaltbesessenheit und das kulturhistorische Debakel der Religion erwiesen sind, bleibt dem Kritiker nur der Aufruf zur Bekehrung, weil „es höchste Zeit ist, den Vorhang endgültig zu zerreißen“ (185).

Dabei beanspruchen die Vertreter des New Atheism, auf der Basis eines nüchternen szientifischen Programms zu argumentieren. Das Ziel von Richard Dawkins in seinem Buch „Der Gotteswahn” (Berlin 2007; orig.: The God Delusion, London 2006) sind „letztgültige darwinistische Erklärungen“ (234). Welterklärung und Weltdeutung werden aneinander gekoppelt, allerdings ohne die versteckte Ontologie der eigenen Weltsicht zu bestimmen. Sie beruht auf einem umfassenden evolutionsbiologischen Programm. Es codiert den Menschen. Religion als „Simulationssoftware“ (124) entsteht aus dem natürlichen Verlangen nach Sinnmustern.

Allerdings kommt auch der Darwinist nicht ohne sie aus. Seine eigene Grenze liegt in der Festlegung auf den weltbildförmigen Naturalismus: „Gedanken und Gefühle der Menschen erwachsen aus den äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn. Ein Atheist oder philosophischer Naturalist in diesem Sinn vertritt also die Ansicht, dass es nichts außerhalb der natürlichen, physikalischen Welt gibt: keine übernatürliche kreative Intelligenz, die hinter dem beobachtbaren Universum lauert, keine Seele, die den Körper überdauert, und keine Wunder außer in dem Sinn, dass es Naturphänomene gibt, die wir noch nicht verstehen. Wenn etwas außerhalb der natürlichen Welt zu liegen scheint, die wir nur unvollkommen begreifen, so hoffen wir darauf, es eines Tages zu verstehen und in den Bereich des Natürlichen einzuschließen“ (25 f.).

Die Natur wird als Funktionszusammenhang erfasst, zugleich Funktionalität als biologische Systemtheorie festgelegt. Vergeblich sucht man dabei nach einer Feinunterscheidung von evolutionstheoretischer Beobachtung und ihrer Deutung. Mit der funktionalen Beschreibbarkeit von Religionen wird unmittelbar ihre vollständige Erklärung gesetzt. Ein Beispiel: Weil Unsterblichkeit eine Ursehnsucht des Menschen ausmacht, handelt es sich um „Wunschdenken“ (266). Sie erscheint „objektiv unplausibel“. Dieses Urteil verlangt bei Dawkins keine weitere Begründung. Im Raum unserer Erfahrung findet sich kein Beweis für Unsterblichkeit. Was die Grenze des Todes überschreitet, etwa die Erfahrung des Paulus, dass der gekreuzigte Jesus von den Toten auferweckt wurde, erscheint vorab als kompensatorischer Eingriff unserer Deutungsnatur. Die evolutionsbiologisch bestimmten erkenntnistheoretischen Voraussetzungen leiten die entsprechende Einschätzung an.

Damit kann sich die Argumentation nur selbst bestätigen. Ihre Plausibilität hängt an der Evidenz der evolutionstheoretischen Fakten und ihrer Verarbeitung, die vorab ausschließen sollen, was der christliche Glaube als Geltungsgrund beansprucht: ein singuläres geschichtliches Ereignis, die Auferweckung des Gekreuzigten, an dem nach Paulus (1 Kor 15) die Wirklichkeitssicht der Christen hängt.

Den polemischen Affekt, der sich bei Harris, Hitchens und auch Dawkins immer wieder durchsetzt, versucht Daniel Dennett in seiner Analyse der „Religion als natürliches Phänomen“ zu überwinden (Den Bann brechen. Religion als natürliches Phänomen, Frankfurt 2008; orig.: Breaking the Spell. Religion as a Natural Phenomenon, New York 2006). Dennett argumentiert wie Dawkins evolutionstheoretisch. Alles, was entsteht, hat seinen Preis, aber auch seinen Nutzen. Nichts besitzt einen Wert in sich, alles ist Teil eines instrumentellen Prozesses. Dennetts Interesse richtet sich auf die anonymen und gerade so höchst erfolgreichen, in der Rückschau rational erscheinenden Entwicklungsschritte, die zur Religion führen. „Blinde, richtungslose evolutionäre Prozesse ,entdecken’ Gestaltungskonzepte, die funktionieren. Sie funktionieren deshalb, weil sie verschiedene Eigenschaften haben, die sich rückblickend so beschreiben und bewerten lassen, als ob sie intendierte Geistesprodukte intelligenter Designer wären, die das gestalterische Grundprinzip im voraus ausgearbeitet haben“ (87).

Die Natur setzt so etwas wie eine „ökonomische Vernunft der Tauschgeschäfte der Koevolution“ (87) in Gang. Sie arbeitet mit zufälligen Elementen der Auswahl, die sich bewähren oder nicht. Ihr Kriterium ist „die biologische Fitness: die Fähigkeit, sich erfolgreicher zu vermehren als die Konkurrenz“ (99).

Religion entsteht in diesem Zusammenhang. Sie wird von den komplexen Orientierungsmustern auf den Weg gebracht, die der Mensch herausgebildet hat, um sich umweltstabil verhalten zu können. Überlebenswichtig ist die Fähigkeit, alles, was begegnet, als solches identifizieren und einordnen zu können. Das Tier, das vor uns steht, wird in seinen möglichen Handlungsschritten wahrgenommen: etwa als Gefahr oder als Teil der Nahrungskette. Die Ausbildung intentionaler Wahrnehmungsformen differenziert sich zu einem komplexen System von Annahmen und fortlaufenden Annahmen über Annahmen aus.

Das hat zur Folge, dass man erstens mit Virtualisierungen arbeiten muss und dass zweitens der Verlust von intentionalen Akteuren ein Bearbeitungsproblem darstellt: „Unser angeborener Drang, die intentionale Einstellung anzunehmen, ist so mächtig, dass wir echte Schwierigkeiten haben, ihn abzustellen, wenn er nicht mehr angebracht ist. Wenn jemand, den wir lieben oder einfach nur gut kennen, stirbt, müssen wir plötzlich eine gewaltige kognitive Aktualisierung vornehmen: Alle unsere Denkgewohnheiten müssen so abgeändert werden, dass sie auf eine Welt passen, die um ein vertrautes intentionales System ärmer geworden ist“ (148).

Das religionsgenetische, aber auch -kritische Argumentationsspektrum wird damit um eine wichtige Beobachtung erweitert. Die Trauer um den Verlust verbindet sich mit der Bearbeitung der intentionalen Leerstelle. Die Fähigkeit zur Behandlung von Phänomenen als intentional bedeutsam gestattet den nächsten Schritt: die Verlängerung der Intention in die Virtualisierung des verlorenen Akteurs. Fortan kann er als Geist oder als Ahn den Status einer virtuellen Person annehmen. Aus diesem Vorgang entwickeln sich Verhaltensdispositionen, die sich ausdifferenzieren und tradieren lassen. Religion erbt sich fort. „Am Ursprung des menschlichen Glaubens an Gott steht ein sehr leicht auszulösender Instinkt: der Hang, allem, was kompliziert ist und sich bewegt, Akteurschaft – Annahmen, Wünsche und andere psychische Zustände – zuzuschreiben“ (151).

Religion begreift Dennett damit als Resultat einer erkenntnistheoretischen Fehlleistung. Sie basiert auf dem so genannten „hyperaktiven Akteurserkennungsapparat“ des Menschen (HADD): Man ordnet falsch zu oder sieht mehr und agiert heftiger, als objektiv erforderlich oder angebracht (145). „Die Fehlalarme, ausgelöst von unserer übereifrigen Neigung, überall, wo etwas passiert, nach Akteuren zu suchen, sind die Irritationen, um die herum die Perlen der Religion wachsen“ (151). Die Fähigkeit, über sich hinaus zu gehen, wird hier als psychisch-kognitive Fehlleistung erfasst. Sie beruht auf der direkten Zuschreibung eines nur indirekt interpretierbaren Materials.

Die Deutung behält Indizienwert, scheidet aber als alleinige Erklärung des markierten Verhaltens aus. Darüber hinaus wäre religionspsychologisch wie -historisch zu fragen, ob nicht gerade Religionen als Korrektiv falscher beziehungsweise überzogener Interpretationseinstellungen funktionieren können. Von daher bietet sich nicht nur ein komplexeres Konzept von Religion an, sondern die Festlegung auf ihre Entstehung aus erkenntnistheoretisch zweifelhaftem evolutionärem Wurzelgrund heraus erscheint problematisch.

Die theoretisch nicht weniger scharfen Herausforderungen der frommen Atheisten

Im Zuschnitt der Positionen des Neuen Atheismus lassen sich Züge eines aggressiven Atheismus bestimmen, der sich in seinem missionarischen Charakter durchsetzt und in den religionskritischen Implikationen sowie seiner Darstellungs- und Interpretationsform niederschlägt. Seine Besonderheit liegt in den religions- und gesellschaftspolitischen Entstehungsbedingungen, seiner offensiven Medienregie, dem globalen Marktauftritt und seiner institutionellen Verortung, aber auch in der erweiterten Fassung evolutions- und kognitionstheoretischer Anfragen, die theologisch zu verarbeiten sind.

Immer wieder sind darüber hinaus religionsförmige Züge in der Sprache und im Anspruch der Neuen Atheismen selbst festzustellen. Sie lassen sich „im Unterschied zum Atheismus der Aufklärung, der in erster Linie ein exklusiver Diskurs unter Intellektuellen war – als ein Medienphänomen mit populärer Breitenwirkung ansehen“ (so die These des DFG-Projekts des Instituts für Religionswissenschaft an der FU Berlin: „,Die Rückkehr der Religionen‘ und die Rückkehr der Religionskritik. Der ,Neue Atheismus‘ in der deutschen und US-amerikanischen Gegenwartskultur“.

Neben diesen Spielformen eines aggressiven Atheismus zeigt sich ein breiteres religionskritisches und auch spezifisch atheistisches Diskussionsspektrum. Es führt zum Teil über das Paradigma eines szientifischen Naturalismus hinaus, das sich bei den genannten Autoren und den Brights sowie ihrer deutschen Variante in Gestalt der „Giordano Bruno-Stiftung findet“. Alternativen finden sich in der Fassung eines „frommen Atheismus“, den Herbert Schnädelbach etwa (inzwischen) vertritt, aber auch in dekonstruktiven Entkopplungsfiguren zumal christlicher Denkfiguren, wie sie exemplarisch Giorgio Agamben oder Slavoj Žižek entwickeln. Hier steht man vor einem wirklich neuen Atheismus, der sich in produktiver Relecture zum Beispiel der Christologie und Trinitätstheologie philosophisch und kulturtheoretisch aneignet. Die polemische Attitüde der „Four Horsemen“ haben diese Autoren hinter sich gelassen. Sie führen zu neuen, theoretisch nicht weniger scharfen Herausforderungen.

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