Warum wir eine neue christliche Anthropologie und Schöpfungslehre brauchenGottes Liebe gilt nicht nur uns Menschen

Das Wort ist Fleisch geworden, um die Menschen zu erlösen – heißt es immer. Doch neue theologische Ideen legen eine Erweiterung dieser Vorstellung nahe: Nicht der Mensch allein, sondern die ganze Welt ist es, der Gottes Liebe gilt. Ein entsprechendes Umdenken hätte weitreichende Folgen für den Umweltschutz und die soziale Gerechtigkeit.

Charles Darwin
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Die letzten Monate haben – wieder einmal – ausgesprochen drastisch vor Augen geführt, wie gefährdet das menschliche Leben ist. Sie haben vor Augen geführt, dass alltägliche Normalitäten und Rechte wie Bewegung und soziales Leben, aber eben auch Versammlungsfreiheit und Freiheit des Reisens von einem Tag auf den anderen vorbei sein können. Sie haben spüren lassen, dass Begegnung, Leiblichkeit, Berührung von und durch Menschen lebensnotwendig sind. Dass die Berührung von Natur und das Draußen-Sein, leibliches Bewegen und Erleben viel stärker zum Leben gehören können als vielleicht im bisher selbstverständlichen Alltag gedacht.

Die letzten Monate haben aber auch an die Oberfläche gespült, dass die soziale Ungleichheit erst recht vor einer Pandemie nicht Halt macht. Es sind eben nicht alle Menschen gleich gefährdet und nicht alle Menschen gleich betroffen und getroffen von den Maßnahmen. Hier greifen exakt alle sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, global wie lokal, gleichermaßen brutal.

Schöpfungstheologie und Anthropologie sind angesichts der gegenwärtigen Situation als ein Zueinander von Schöpfungstheologie und sozialer Gerechtigkeit zu denken. Würden diese beiden Perspektiven auseinandergerissen werden – auf der einen Seite Schöpfungstheologie und die Reflexion auf die Anthropologie und auf der anderen Seite die soziale Gerechtigkeit –, würde ein Graben vertieft, der bereits faktisch besteht. Denn bereits jetzt sind diejenigen von der menschengemachten Schöpfungszerstörung am meisten betroffen, die bereits von der menschengemachten Ungerechtigkeit in kolonialen, rassistischen, misogynen Strukturen in prekäre Lebensverhältnisse gebracht worden sind. Vor allem aber würde damit die Möglichkeit weiterer Ungerechtigkeit eröffnet werden. Die Frage, wer denn was darf oder schützenswert ist, stellt sich nämlich in einem verschärften Maße, wenn bei der Ökologie zugleich die moralische Frage mitschwingt.

Würde es Gottes Plan stören, wenn die Menschen verschwänden?

Werden Schöpfungstheologie und Anthropologie von der sozialen Gerechtigkeit her gedacht, dann eröffnen sich sowohl Analyseinstrumente, um die prekäre Situation des Geschöpflichen umfassender zu verstehen, als auch ein theologischer Zugang, um von einem anthro-androprozentrischen zu einem theozentrischen Verständnis der Schöpfung zu wechseln.

In diesem Beitrag möchte ich daher den theologischen Vorschlag von Elizabeth Johnson aufnehmen. Sie argumentiert im Dialog mit der Evolutionstheorie von Charles Darwin: Nur eine Schöpfungstheologie, die sich von der Konzentration auf den Menschen freimacht, könne in gegenwärtiger Zeit davon überzeugen, dass die Gemeinschaft der Geschöpfe einen Weg zu einem gerechteren Umgang mit allen Geschöpfen findet (Ask the Beasts. Darwin and the God of Love, London/New York 2015). Indem sie mit Hiob die Geschöpfe zu Gott und seiner Schöpfung befragt, orientiert sie ihre erkenntnistheoretischen Interessen an der Schöpfung als ganzer und damit als theozentrische Blickrichtung. Dabei eröffnet Johnson auch Grenzgedanken: Wenn sich eben nicht alles um die Menschen dreht, könnten diese dann auch von der Erde verschwinden, ohne dass dies die Erde oder Gottes Pläne mit ihr stören würde? Diese irritierenden Fragen mutet Johnson den Lesenden zu.

Elizabeth A. Johnson, emeritierte Professorin an der Fordham University in New York, ist davon überzeugt, dass im Gespräch mit der Evolutionstheorie von Darwin das wesentliche Paradigma zu entwickeln ist, das für eine Schöpfungstheologie und Anthropologie in der gegenwärtigen Zeit notwendig ist. Die Evolutionstheorie hält zwei grundsätzliche Einsichten bereit, die für ein Weiterdenken theologisch relevant sind: Sterben und sogar Aussterben gehört zur Natur in ihrem evolutionären Prozess. Und: Alles Lebendige ist miteinander verbunden. Mit diesen beiden Grundlagen kann Johnson sich zu dem Eintritt des Menschen in den Evolutionsprozess theologisch innovativ verhalten.

Denn die massenweise Auslöschung von Spezies oder die rasante Veränderung der Lebensumwelt sind das Ergebnis eines menschenverursachten Handelns; vor allem aber sind es zu schnelle Veränderungen, als dass eine Adaption für die Geschöpfe möglich wäre. Der Mensch also, so Johnson (214), handelt als ein machtvoller Akteur der bestehenden Evolution. Er zerstört in diesem Handeln ganze Lebensräume und verändert die Umgebung so radikal, dass alle Geschöpfe (der Mensch inklusive!) einer Anpassung nur mit Verlusten oder gar nicht nachkommen können.

Was also gerade geschieht, ist insofern nicht natürlich, als dass es willentlich herbeigeführt wird. Johnson ist sehr klar, wenn sie sagt, die passende Analogie zum derzeitigen Prozess ist nicht evolutionäre Veränderung und Anpassung, die immer auch Sterben und Aussterben beinhaltet, also evolutionäre Kategorien, sondern Mord (251). Weil der derzeitige Prozess menschengemacht und willentlich ist, ist er zugleich doch veränderbar, er ist nämlich wenigstens zu verlangsamen. Deswegen sieht Johnson die Notwendigkeit einer Umkehr zur Erde, die für sie drei Dimension beinhaltet.

Erstens die intellektuelle Dimension: Sie bedeutet, von einer anthro-/androprozentrischen zu einer theozentrischen Interpretation der Welt als Schöpfung zu kommen. Dafür müssen in den religiösen Begriffen von Schöpfung und Erlösung andere Lebewesen inkludiert werden. Dies verstärkt das Geschenkt-Sein der Schöpfung, denn diese ist nicht vom Menschen oder primär für den Menschen, sondern von Gott.

Zweitens ist eine emotionale Umkehr zur Erde notwendig, denn diese würde deutlich machen, dass keine Ausdifferenzierung zwischen dem Menschen und anderen Geschöpfen möglich ist. Denn alles ist durch den Evolutionsprozess miteinander verbunden. Emotional ist das Gefühl für Gemeinschaft mit der natürlichen Welt notwendig.

Und drittens hat diese Umkehr ethische Implikationen, denn die universale Moral ist nicht limitiert auf die Menschen. Heute ist die ökologische Bedrohung nicht einfach ein weiteres Unrechtsthema neben Rassismus, Armut, Kolonialismus, Misogynie, sondern die grundlegende Folie, auf der das alles geschieht (259). Die Zerstörung der Umwelt in dem Maße, wie sie heute erlebbar ist, hat darüber hinaus ihre Wurzeln in einem spezifischen Menschenbild, das die Natur als geringer und nur bestimmte Menschen als Menschen einschätzt, während andere Menschen als zur Natur gehörig gedeutet und dementsprechend entrechtet und ausgebeutet werden.

So wurden Indigene und nicht-weiße Menschen, aber auch Frauen nur in abgestufter Form als Menschen, wenn überhaupt, angesehen, also eher in der Nähe der Natur. An dieser Stelle zeigt sich aber die Kehrseite einer androprozentrischen Sicht, denn schützenswert ist die Natur ja nicht gewesen, sondern im Paradigma des Beherrschens zu unterwerfen. Theologisch ist diese Geschichte weiter aufzuarbeiten, wie es in postkolonial-feministischen Studien derzeit auch getan wird.

Johnson plädiert gerade auch aus der Geschichte des Herrschafts-Paradigmas, welches sich aus einer spezifischen Deutung von Gen 1,28 ergibt, leidenschaftlich dafür, das Paradigma der Verbundenheit, der Gemeinschaft als hermeneutischen Schlüssel zu setzen, und zwar für die Theologie und auch für das persönliche Leben. Diese Verbundenheit kann man, so Johnsons Ansatz, in besonderer Weise vom evolutionären Prozess lernen. Sie findet zugleich in der biblischen Vision der Gemeinschaft ihren Ausdruck.

Johnsons Innovation ist eine pneumatologische Schöpfungstheologie, weil sie die Wirkung und Anwesenheit des Geistes Gottes in der creatio continua (fortgesetzte Schöpfung) betont. Alle Geschöpfe haben denselben endlichen Status. In einer theozentrischen Perspektive partizipieren Menschen mit anderen Geschöpfen an einer interdependenten Welt, die auf Gott hin orientiert ist (268). Menschen sind mitten drin im Zirkel des Lebens, die Gemeinsamkeit ersetzt also den Ansatz der Differenz. Die Differenz soll nicht geleugnet werden, aber die Verbundenheit an die erste Stelle kommen. Johnson möchte keine naive Naturromantik. Sie möchte das innere Bild, die Vorstellungskraft verändern und dies mit biblischen Ressourcen stärken, in denen Geschöpfe und Schöpfung gleichermaßen in ihrem preisenden Leben zu Gott stehen (269).

Dieser Lobpreis Gottes aller Geschöpfe hört auch heute nicht auf. Selbst inmitten der Katastrophen bleibt er bestehen, auch angesichts der menschengemachten Unterbrechung und Auslöschung.

Mit dem Sterben der Geschöpfe erstirbt auch ihr Lobpreis

Johnson macht hier auf etwas theologisch außerordentlich Wichtiges aufmerksam: Wird die theologische Perspektive ernst genommen, dass alle Geschöpfe Gott preisen, so bedeutet das Massensterben der Geschöpfe auch eine Unterbrechung dieses Lobpreises in der Vielheit der Natur, die zugleich Gottes Kreativität ausdrückt. Es sind also längt nicht nur die menschlichen Gottesdienste, die, wenn sie nicht stattfinden, verdeutlichen, dass etwas fehlen könnte. Sondern dieses Schweigen des Lobpreises ist längst da, und zwar unumkehrbar. Diese negative Kontrasterfahrung der Geschöpfe und ihres Lobpreises muss, so Johnson abschließend, dem Geschöpf Mensch einen Impuls zum Handeln geben, um das Leben aller Geschöpfe zu retten (280).

Das Gemeinschaftsparadigma, durch das sie das Modell der Herrschaft wirksam ersetzen möchte, versteht die Welt und den Menschen von vorneherein in einer anderen Beziehung. Es zeigt, dass alle Geschöpfe endlich geschaffen und eingebunden sind in die natürliche Welt, und dies mit jeder Faser ihres Wesens. Schon biologisch stehen Geschöpfe in reziproken Beziehungen zur Welt. Der Mensch als Geschöpf unter Geschöpfen hat durch den Willen, den Intellekt, das Bewusstsein und die Freiheit die Fähigkeit, sich dieser Interdependenz bewusst zu werden, und die Verantwortung, aus ihr zu leben.

Johnsons Perspektive hat weitreichende Konsequenzen, denn sie bedeutet eine Verabschiedung von der Vorstellung, dass sowohl die Schöpfung als auch die Erlösung auf den Menschen hin zentriert sei. Der Mensch ist Teil von Gottes Liebesgeschichte mit der Welt und nicht der Höhepunkt, wie ihn die Tradition verstanden hat. Johnson plädiert dafür, diesen Höhepunkt anders zu verstehen, indem sie die Verbundenheit herausstellt. Dies bedeutet in der Konsequenz, die Frage nach der Erlösung anders zu stellen: Nicht, weil die Menschen sündigten, wurde Jesus Mensch, sondern weil Gott so seiner Liebe zur Welt Ausdruck verleihen wollte. Damit gilt Erlösung für alle! Johnson ist hier sehr dezidiert: „Even if Adam and Eve and their descendants were still innocently in the Garden, this would have happened; it is the way love acts” („Selbst wenn Adam, Eva und ihre Nachkommen bis heute voller Unschuld im Garten Eden säßen, wäre es so gekommen. Das ist einfach die Art und Weise, wie Liebe handelt“; 226).

Mit dieser Relativierung des Menschen bei gleichzeitigem Anspruch an den Menschen, verantwortlich zu handeln, will Johnson die Motivation für das Handeln und die Bilder für das Selbstverständnis des Menschen verändern. Sie tut dies, indem sie den Menschen einordnet in den langen evolutionären Prozess und ihn in diesen Prozess hinein egalisiert. Zugleich stellt sie die Differenz heraus, die den Menschen als vernunft-, freiheit- und willensbegabtes Geschöpf ausmacht. Allerdings ist ihre theologische Hermeneutik von einem Gottesbild getragen, das sich an der Liebesmetapher für diese Schöpfung orientiert und das damit die Erlösung inklusiv denken lässt: nicht auf den Menschen hin, nicht für den Menschen alleine, sondern für die ganze Schöpfung.

Deswegen bleibt für Johnson nur eins: eine Umkehr zur Erde, ein Sich-Verlieben in die Erde. Diese Umkehr ist eine ethische Umkehr, die die Gleichberechtigung für den Lebensraum allen zuspricht.

Gerechtigkeit für alle Geschöpfe

Schöpfungstheologisch ist das primäre Thema der gegenwärtigen Zeit die Gerechtigkeit, die meist aufgeteilt wird in die soziale und ökologische Gerechtigkeit. Mit Elizabeth Johnsons Interpretationsrahmen könnte allerdings provokant gesagt werden: Die soziale Gerechtigkeit inkludiert alle Geschöpfe, weil alle Geschöpfe miteinander in einer sozialen Beziehung stehen. Dies kann sie sagen, weil sie die Gemeinsamkeit aller Geschöpfe vor die Differenz stellt, ohne die Differenz aufzuheben.

Wenn also die so verstandene soziale Gerechtigkeit schöpfungstheologische Fragestellungen leiten sollte, dann wird die Brisanz dieser These erst deutlich. Denn dann konkretisiert sich Schöpfungstheologie an Themen und Ereignissen, in denen es um Gerechtigkeit geht. So wäre die gegenwärtige Corona-Infektionskarte zugleich eine Landkarte der Ungerechtigkeiten, eine Landkarte schöpfungstheologischer Ignoranz durch eine Anthropologie, die den Menschen, und zudem ein bestimmtes Verständnis des Menschen als weißen Mann, als Erstes und Einziges setzte und setzt.

Erst wenn, theologisch gesprochen, Schöpfungstheologie und Gerechtigkeit aufeinander bezogen werden (oder, nicht-theologisch gesprochen, Ökologie und Gerechtigkeit), wird eine Ökologie nicht selbst wieder sozial toxisch, weil sie in den gegenwärtigen Paradigmen bleibt, denen zufolge die einen sich den Zugang zu Wasser, gutem Leben, Luxus und ökologischer Lebensform sichern können, während die anderen dies nicht können. Zugleich legt die gegenwärtige Situation den Zynismus offen, und manche Missstände werden jetzt angegangen, weil sie nicht mehr vertuscht werden können (man denke an die aktuelle Situation in den Schlachthöfen, in denen weder Mensch noch Tier respektvoll behandelt werden). Vor allem aber verdeutlicht die gegenwärtige Situation, dass die Verwobenheit aller mit allen viel stärker ist, als es in Erinnerung war. Sie vergegenwärtigt auch, dass der Mensch als Geschöpf viel leiblicher und angewiesener auf leibliche Erfahrungen mit seiner gesamten Mitwelt ist, als es in Erinnerung gewesen ist.

Die derzeitige Krise legt brutal offen, welche Ungerechtigkeitslandkarte existiert. Sie legt die Gefährdungen und Vulnerabilitäten offen, die seit Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten bestehen und über die sonst weiter hinweggesehen werden könnte. Dies ist mit Johnson eindrücklich zu lernen: Menschen sind Geschöpfe, sie können nicht ohne die anderen leben, diese aber durchaus ohne die Menschen. Sie sind leiblich, geschöpflich, angewiesen, vulnerabel, liebesbedürftig und liebesfähig, verantwortlich und verantwortbar. Und sie sind zu einer Veränderung fähig. Sie können diese Landkarte verändern. Wenn sie wollen.

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