Eine Geschichte über die NaturRock of Ages

Wir gehen auf eine Schwelle zu, befinden uns bereits im Bruch, Umbruch, Wandel – einer Phase höchster Gefahr, des Untergangs unseres herrschenden alten Bewusstseins. In solchen Zeiten kommt blinde Sehnsucht auf, die sich einer verlorenen, einstigen „Ganzheit“ versichern will...

Naturerfahrungen
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Der Zustand der äußeren Natur, ihr Ausgebeutet- und Missachtetsein, entspricht ganz dem desolaten Zustand unserer inneren Natur, der Psyche – eine Tatsache, die man oft übersieht. Mit beiden Bereichen, beiden Aspekten der Natur, leben wir zum größeren Teil in einer unbewussten Identifikation, das heißt, wir nehmen beide nicht genügend objektiv wahr. We take them for granted, übersehen die großen Mysterien, als wären sie „selbstverständlich“. Zu beiden bedürfte es einer bewussten religiösen Einstellung, was zunächst heißt: einer genau beachtenden Sorge, einer bewussten Sorgfalt, die um die Verbindung beider Bereiche weiß. Denn auch das Unbewusste ist „ein reines Stück Natur“.

Nun wissen wir aus Erfahrung, dass gilt: Wie wir uns zum Unbewussten – zu unserer Psyche, mithin zu unseren Träumen und Gefühlen – verhalten, so verhält sich das Unbewusste auch zu uns. Wenn wir es unbewussterweise für selbstverständlich erachten, benehmen wir uns, psychologisch betrachtet, wie der Typ des Puer Aeternus – wie Ewige Jünglinge also, die glauben, die Mutter – „Mutter Natur“ – trage sie ewig „und der Himmel hält“. Wo wir das Unbewusste fliehen, es ignorieren oder es ausschließlich ichmächtigen Zwecken unterstellen, um damit nämlich andere auszubeuten (Propaganda, the engineering of consent), wo wir es wie eine Maschine behandeln (es mit Drogen „an- und ausschalten“, als wären wir seiner Herr), da vergewaltigen wir die Seele. Das Unbewusste, die unbewusste innere Natur, schlägt dann sintflutartig zurück, überflutet uns, löst uns auf.

Aber wenn ich so rede, bleibt das Gesagte abstrakt. Ich kann als Schriftsteller zum Thema dieses Hefts letztlich nur beitragen, was ich selbst im Umgang mit der Natur erfahren habe. Kein übernommenes Wissen. Vielleicht werden meine Thesen so besser nachvollziehbar.

Das Paradies links des Highway

Ende der Siebzigerjahre, ein paar Wochen vor unserer Hochzeit, fuhr mich Jude auf dem Highway One von Los Angeles nach Norden, vielleicht hatte sie Robinson Jeffers’ Carmel als Reiseziel genannt, ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls sollte ich, nach drei Jahren Hollywood, endlich Zeuge der „wilden Schönheit unserer kalifornischen Pazifikküste“ werden.

„It’s paradise“, schwärmte sie und vertauschte unbewusst Ursache und Wirkung: „Eine Sünde, dass Du das noch nicht kennst.“

Aber vom Paradies links des Highway war dann nichts zu sehen gewesen. Alles blieb unsichtbar, in dichtestem Nebel verborgen. Die beiden Fahrspuren ziehen hier unmittelbar am Küstenabgrund entlang. Aber auch der blieb an diesem Tag unsichtbar, vom Nebel verschluckt. Einmal, als ich die Fensterscheibe herunterließ, glaubte ich, das Rauschen der Brandung zu hören. Wir freuten uns wie Kinder, die es hinter dem Vorhang rascheln hören: Gleich wird er sich lüften, die Vorstellung beginnen, nur ein wenig Geduld!

So waren wir drei Stunden lang weitergefahren, im Schneckentempo durch den Nebel, immer in der Hoffnung, alles würde sich spätestens nach Mittag lichten. Aber wo Nebelschwaden sich teilten, trieben wenig darauf neue heran. Schließlich landeten wir auf einem Parkplatz, den man auf einem Felsvorsprung angelegt hatte. Wir hatten ihn im Nebel nur ausgemacht, weil zwei Wagen plötzlich ihre Nebelscheinwerfer einschalteten und aus dem Stand vom Parkplatz aus auf den Highway einbogen. Auch wir dachten nur an eine kurze Rast, wollten dann die Rückreise antreten.

Während wir hungrig die ersten Sandwiches verzehrten, die Jude in ihrem Rucksack mitgebracht hatte, zählte ich die Schritte bis zur Unsichtbarkeit im Nebel. Zwölf – und ich konnte Jude und den Wagen kaum mehr erkennen. Ich rief: „Siehst du mich noch?“ Und hörte sie antworten: „Nein. Komm jetzt…“ Nach drei weiteren großen Schritten war sie auch aus meinen Augen verschwunden. „Siehst du mich?“ Ich musste lauter rufen. Hörte dann: „Komm zurück!“

Mir fielen Bilder eines Hitchcock-Projekts ein: das frisch verheiratete junge Paar auf Hochzeitsreise in Paris. Sie steigen in einem Hotel ab, in das die Frau, nach einem ersten kurzen Einkaufsbummel, zurückkehrt. Aber die Tür ihres Hotelzimmers lässt sich nicht mehr öffnen. Auch antwortet ihr Mann nicht auf ihr Klopfen. Unten dann, am Empfang, ist man freundlich, aber bestimmt: Man kennt die junge Dame nicht. Auch gebe es keine Reservierung unter ihrem oder ihres Mannes Namen. Es ist, als hätten sie nie eingecheckt. Sie insistiert: „Was soll dieser Unsinn, schließen Sie mir sofort unser Zimmer auf!“ Endlich gibt man nach. Man öffnet, man zeigt ihr das Zimmer. Es ist unbelegt. Von ihrem Mann, von ihren Koffern, ihrem Ehering, den sie im Bad kurzzeitig abgelegt hatte, keine Spur.

Ich dachte, ich sollte mir die Variation mit dem Parkplatz im Küstennebel merken. Für ein eigenes Projekt, Hitchcock hatte seines ja nie verwirklicht. Wieder rief Jude…, und ich hörte sie die Wagentür öffnen. Ich antwortete nicht. Stand still. Augenblicke lang still.

So würde auch der Darsteller in meiner Variante handeln. Er steht im Nebel und antwortet nicht auf ihr Rufen. Und dann ist er – SCHNITT zurück auf sie, die ihm jetzt vom Auto aus nachgeht, sich durch den Nebel tastet, ruft… –, ist er verschwunden. Ja, dachte ich, kurz vor dem Eheschluss oder kurz danach, dem entscheidenden Schritt also, vor dem ich ja selbst stand, taucht diese Unsicherheit auf. Man sieht den anderen nicht mehr. Kann ihn oder will ihn nicht mehr sehen. Es ist dann, als hätte man ihn nur geträumt. Der andere verschwindet im Nebel eines Traums. Und alles wird wieder möglich, alles, was schon beschlossen war, dabei war, sich festzuzurren, uns an die andere Person zu binden, wird wieder gelöst. Im Nebel löst es sich auf.

Die Welt unter dem Nebel

Nochmals hörte ich sie meinen Namen rufen. In diesem Moment bemerkte ich – drei, vier Schritte vor mir – ein Treppengerüst, dessen Stufen abwärts im Nebel verschwanden.

Wenig darauf – ich musste sie kaum überreden, als sie sah, dass die halbverwitterten Stufen doch nicht nachgaben – eröffnete sich uns dann ein Wunder. Wir waren erst – langsam, vorsichtig, mit beiden Händen am Geländer uns haltend – etwa dreißig Stufen abwärts gestiegen, als der Nebel verschwunden war. Nicht die große Nebeldecke über uns. Die blieb unverändert. Aber unter ihr waren wir nun auf eine vergessen-verlorene Welt gestoßen, kletterten gleichsam ins weitgespannte Innere einer riesigen Glocke hinab, unterhalb der das Halbrund der steilwandigen Bucht bis auf Hunderte Meter ins Meer hinaus gänzlich eingekapselt lag.

Als wir das Treppenende erreichten, fehlten die letzten Stufen – von Flut oder stürmischer Brandung zerbrochen –, so dass wir abspringen mussten, um im Sand des Strands zu landen. Alles schien unberührt hier. Auch während des ersten kurzen Spaziergangs: keine Menschenspur – außer den unseren.

Der Strand war übersät mit Tang und feuchtem, algenbenetztem Treibholz, hie und da von Schwärmen kleiner Fliegen verschleiert. Ein gütig-klares Licht schien durch die Nebeldecke herab und streute so ebenmäßig über die Dinge, dass sie kaum Schatten warfen.

Dann, unterm Überhang einer kleinen Grotte, die ersten Menschenzeichen. Jemand hatte die Umrisse seiner Hand mit einer roten Sprühdose verewigt. Die Hand deutete hinaus aufs Meer. Vor längerer Zeit hatten sie hier Feuer gemacht, halbverkohlte Treibholzreste in einer Steinmulde zeugten davon. Knochenreste… Ein kleines… was war das? …Schulterblatt? … Eines Tiers? Unheimlich.

Wir legten uns an den Strand vor die Grotte, nachdem wir ein kleines Areal freigeräumt hatten. Jude streckte sich rücklings auf dem Sand aus, um den Blick auf die nahe Nebeldecke zu genießen, die, wie sie meinte, irgendwie einschläfernd wirkte.

Das Meer, spiegelglatt und ruhig und zeitlos. Wir schlossen die Augen, sprachen aber noch zueinander, als ginge es darum, dem verführerisch näherkommenden Schlaf etwas entgegenzusetzen. Ich glaube, wir redeten von den Trauzeugen, die Jude wollte. Und die mir nicht passten. Und ob nicht doch unsere Eltern verständigt werden sollten. Aber dann würde alles zu groß, zu viel, dann würden sie anreisen wollen, dann wäre nicht genug Zeit, dann müsste man umplanen, dann wäre das bisher Geplante hinfällig, dann…

Irgendwann müssen wir eingeschlafen sein, irgendwann bin ich aufgewacht, ohne die Augen zu öffnen. Oder war’s nur so im Traum gewesen, in einem Traum, in dem ich die Augen nicht öffnen wollte, als ich etwas über mir atmen hörte. Etwas blies mich mit warm-feuchtem Atem an. Ich sah diesen fremden Atem auch vor mir: ausgestoßen sog er sich flüchtig in meine Nasenflügel. Und ich wurde schlagartig wach. Ich lag nicht mehr flach und rücklings, sondern seitlich mit dem Kopf an Judes Flanke. „Wie aus ihrer Seite geboren“, dachte ich. Und sie – schlief noch vor Erschöpfung.

Ich richtete mich halb auf. Wie viel Zeit war vergangen? Zeitlos ebenmäßig das Licht, hatte sich nicht merklich verändert. Vielleicht war es nur ein kurzer Schlaf, eine kurze Verdunkelung gewesen. Umso erfrischter jetzt.

Noch im Sitz fixierte ich den fernen einsamen Felsen draußen im Meer. Eine hochaufragende Felsenklippe. Erinnerte mich an ein Doré-Bild vom Felsen, an dem sich die zu retten suchen, die von der Sintflut überrascht worden waren. Menschen, die ihre Kinder aus den Wogen noch am Felsen hinaufreichen wollen, in die Hand eines der wenigen, die es geschafft hatten, die Spitze des Felsens umschlangen, erschöpft, jammernd, und hinter ihnen, in fernster Ferne verregneten Meerhorizonts: die Arche, unerreichbar.

Aber der Ort, dieser Felsen, wohin die Letzten sich zu retten suchten, wo alles endete, war ja auch die Stelle, wo alles wieder begann. Denn auch der Berg Ararat hatte genau diese Form, Form dieses Felsens, die sagt: Ihr rettet euch vielleicht bis zu meinem Gipfel, aber nicht darüber hinaus. Dort wird sich’s entscheiden. Dort ist Untergang und, wenn überhaupt, dort neuer Anfang.

Diesen Punkt zu erreichen, dort hinzukommen, den Gipfel des Felsens zu berühren… Dieser Gedanke stand plötzlich so konkret, so verlockend vor mir wie… wie der einsam-ferne Felsen da draußen im Meer.

Ich könnte – nein, ich sollte dort hinschwimmen, diesen Felsen erreichen. Diesen äußersten Punkt, der doch zugleich Mitte war. Sollte jetzt. Denn in einer Stunde vielleicht schon wären wir weg von hier. Und wer weiß, ob ich je wieder hierher käme, diese Stelle, diesen Strand je wieder fände, diese Sicht auf den Felsen. Wohl nicht unter diesen Bedingungen. „Nie mehr als der, der du jetzt bist“, sprach es im Innern zu mir. Kannst du’s erreichen? Dort, diesen Felsen?

Wahnsinn

Ich dachte: Wecke ich sie? Aber das würde nur alles verzögern. Ihr das zu erklären – was mir ja selbst kaum erklärbar war. Diese verrückte Idee. Den Felsen am Nebelhorizont zu erreichen. Einmal nur, einzig. Weck sie nicht, sonst kommt sie mit Einwänden. Lass sie schlafen.

Und ich zog mir rasch die Kleider aus, rasch, nur nicht lang überlegen. Rasch auch über den wilden Strand hin, ins kalte Wasser.

Und es war kalt, überraschend kalt sogar. Noch auf den ersten Schritten, noch während der ersten Schwimmzüge dachte ich: zu kalt. Mann, das ist doch Blödsinn… bist du doch nicht gewohnt. Was soll das? Eis-kalt. Mir schnürt’s ja den Atem ab! Ruhig, bleib ruhig, dachte ich. Das Kältegefühl wird abnehmen, das ist nur der Anfang, weiterschwimmen. Aber auch das Weiterschwimmen klang wie ein Befehl, der Zug um Zug schwächer nachklang, verrückter. Denn es schien mir, als käme ich überhaupt nicht voran, als schwämm ich in salzig-zäher Gummimasse, jedes Vorwärtskommen nur Schein.

Und der Fels? Der einsame Fels… Schien mir fern dort draußen, zu fern. Ich hatte das unterschätzt. Du hast es unterschätzt, die Distanz. Das sind nicht nur ein paar hundert Meter…, das sind… Nur so nicht denken, nur jetzt nicht, schwimm weiter. Aber es ist zu kalt, es wird mir nicht warm, egal mit wie viel Willen ich mich bewege… bewege… bewege… Wie das Kind beim Brustschwimmen. Kraulen hab ich immer gehasst, nachdem mir ein paar Mal Wasser in Augen und Ohren gekommen waren. Das hätte ich lernen sollen, ich käme schneller voran… Hätte aber vielleicht weniger Kontrolle. So wenigstens kann ich den Felsen anpeilen… Als könnte ich mich verirren.

Nein, das ist doch Wahnsinn. Ich dreh jetzt um… Mir völlig egal, dreh jetzt um. Wenn mir das Herz jetzt… – Herzstillstand, Kreislaufkollaps, fatal unterschätzt – …Schreckworte nisteten, zogen schlierig mit, verschleierten mir jeden Zug, die Sicht nach vorn. Umdrehen, wenden, und zurück. Und froh, wenn du das schaffst, noch schaffst…

Es wird mir einfach nicht wärmer, im Gegenteil, mit jedem Zug voran – wie weit ist das noch? Schwer zu schätzen... Ja, schwer zu schätzen, weil nichts Vergleichbares in der Nähe. Es ist wie mit den Büschen, die man vom Flugzeugfenster aus sieht… Keine „Büsche“ sind das, sondern Bäume, Wälder… aber meilenweit nichts zum Vergleich, da ist die Tendenz zu verkleinern natürlich. Und umgekehrt: wenn du am Strand liegst – wie gern läg ich jetzt dort… zurück, mach kehrt, mach schon kehrt –, wie gern läg ich dort – …ja, denk an was anderes, einfach nicht hindenken, anderes denken: wie gern läg ich auf einem angewärmten Stück Strand jetzt, wie weit hinter mir… wie weit? Nicht zurücksehen, nicht zurück… Doch, zurücksehen! Du musst doch wissen, ob es überhaupt noch… wie gern würd ich jetzt, wär ich noch dort, die Augen… die Augen würde ich spielen lassen über die wenigen, zufällig im Sand liegenden Dinge… was mir eben vor Augen läge… da würde aus Sand schon wie im Adlerflug besehenes Geröll, und der Streif Tang da wäre – kneif die Augen zu –… der Tang ist die grüne Küste, und alles bevölkerbar, als sähst du es aus den Wolken… als fielst du im Flug aus den Wolken… Wie Marcello im Alptraum am Anfang von „8 ½“. Jemand… oder wie war das…? Jemand zieht ihn am Seil aus enormer Höhe hinunter. Den Aufprall… – war’s nicht überm Meer?… den Aufprall im Meer überlebt er nicht, könnte man nicht überleben… Aber dann überlebt man im Aufwachen… Nur gibt’s hier keines, kein Aufwachen, kein Traum, ich schwimme noch immer, ins immer kältere Wasser… Ist denn hier… eine besonders kalte Strömung, in die ich geraten bin…? Und wie weit noch der Fels…? Wenn nur ein… ein Autoreifen dort läge, am Fuß des Felsens dort draußen…, dann könnte ich in etwa auf die Entfernung schließen… Aber so könnten kleinere Felsenteile wirklich größere sein, umso entferntere eben, und auf der Spitze des Felsens, Insel Felsenburg, hätte ein kleines Dorf Platz… Dann wär ich verloren.

Die Augenärztin fiel mir ein, die mir mal diagnostiziert hatte, dass ich… wie hieß es noch? War noch während des Freiburger Studiums…, dass ich nur mit dem rechten Auge sehe. Genauer: dass nur die Bilder meines rechten Auges im Hirn zugelassen oder ausgewertet wurden, so dass die Bilder des linken und rechten nicht gemeinsam die Dreidimensionalität des Raums wiedergaben, sondern… sondern… denk weiter… sondern, was ich als „Raum“ sah, war meine Interpretation. Denn das Räumliche, sagte sie, interpretierte oder deutete ich mir gewohnheitsmäßig aus Licht- und Schattendifferenzen zusammen, Raumtiefe aus Licht- und Schatteneindrücken… Eine Illusion nur von „Raum“. Sie demonstrierte mir das, indem sie ihren Finger aufrecht vor mich hinhielt, in Augenhöhe, eine Unterarmlänge vor mich hin. Ich solle mal mit meiner Fingerspitze langsam von der Seite kommend ihren Finger berühren… Und ich… mein Finger zog an ihrem vorbei. Als sei ihrer Luft… Illusion gewesen… Schrecksekunde, mit Nachhall…

Dann ihr anderes Experiment mit dem Auge. Der Heilungsversuch. Vielleicht wäre die Sicht des linken zurückzuholen… Es gebe da Versuchsreihen mit Soldaten, die aus dem Zweiten Weltkrieg kamen, auch im Ersten schon hätten welche… Jedenfalls verpasste sie mir dann einen silbernen Augendeckel, wie Sonny in „The Last Picture Show“ einen trug, ein eye-patch wie John Ford, das ich stolz trug. Aber nach acht Wochen, der Moment der Wahrheit. Abgenommen, das linke Auge endlich frei. Keine Besserung. Immer noch unberührbar, ihr Finger. Obwohl ich doch wusste…

Wie weit noch? Jedenfalls war ich zu weit, jetzt noch umzukehren… War mir darin sicher. So kommen sie um, die Verrückten, sie wachen auf, wenn’s zu spät ist. Und dann bleiben ihnen nur noch Sekunden… wenn überhaupt. Aber kälter kann’s nicht mehr werden… Natürlich kann’s kälter werden… nämlich wenn du langsamer machst, viel langsamer, deine Kraft erlahmt, dann wird es vielleicht noch kälter, rasch kälter… Dann werden die Züge, die du schwimmst, immer kleiner, die Arme immer kürzer ausgefahren, immer ungenauer, weil du auch keine Konzentration mehr hast für sie, sich alles woanders zusammenzieht…Jetzt nur nicht anhalten, nicht einhalten, nicht kürzer treten, den Rhythmus halten, einigermaßen wenigstens, so gut du kannst, Rhythmus halten, mich ihm anvertrauen, dachte ich. Und das Wort anvertrauen strich mit geheimnisvoller Wärme über mich hin, als ich’s dachte, daher wiederdachte: anvertrauen…

Lichtjahre entfernt

Aber eben dieses Vertrauen, das anvertraute, hätte ich gebrochen. Wenn sie jetzt aufwacht, die Kleider da liegen sieht… Kann sie mich in der Ferne überhaupt sehen…? Wenn ich, wenn die Kälte mir noch ein wenig näher rückt, mir zusetzt, wenn ich… wenn ich loslasse, wie andere im Schnee loslassen, sich sagen: nur ein wenig ausruhen… nur ein paar Minuten Ruhe… Schlaf… Wenn ich unterginge, sie mich nicht sähe, unterginge, um auszuruhen, oder unterginge bei „Herzversagen“…, sie wüsste ja gar nicht, sie wüsste nicht wo… Es war unverantwortlich von mir, sie nicht geweckt zu haben, unverantwortlich, rücksichtslos, so etwas überhaupt begonnen zu haben… Oder sie verschläft alles, ja, besser sie verschläft alles, und dann… Schon bin ich zurück… Du, ich bin rausgeschwommen, habe versucht… Siehst du den Felsen dort?… den Felsen dort draußen…? Aber der ist nicht zu erreichen, sagt sie… Das ist doch kein Felsen, hör ich sie sagen, ganz langsam es flüstern, wie zu einem Kind, dem man Gute Nacht wünscht und die Dummheiten, mit denen es das Zubettgehen hinauszögern will, ausredet, indem man erklärt: „Das ist kein Fels, ist auch keine Insel da draußen. Das ist der Rock of Ages. Der ist Lichtjahre entfernt… Wolltest du den erreichen, wärst du erst im nächsten Leben zu mir zurückgekehrt. In another life… Gut, dass ich umgekehrt bin, gut, dass ich umgekehrt…

Ich kann nicht mehr… das… das Wasser schnürt mir alles zu… Ich kann sagen: nur nicht langsamer werden, ich kann’s sagen, kann’s denken, aber irgendetwas schränkt ein, hüllt ein, hüllt mich ein, zieht mich zusammen… im Netz. Wie in einem Netz verkürzt mir’s die Züge…

Aber wenn du’s schaffst, wenn du das schaffst… Ja, es ist gut, so zu denken, Zug um Zug so zu denken, so lang du noch kannst… Wenn du’s schaffst und sie noch schläft und du ihr sagst, wo du warst, vor… vor… wie langer Zeit… wie viel Zeit ist vergangen…? wo du vormals warst, dort draußen gewesen warst, ganz dort draußen, am Fels, dem Felsen dort… siehst du ihn? Wo? Dort. Dort draußen? Der Fels da, der kleine Fels? Klein ist er nicht, lass dir erzählen, klein nicht, ein ganzes Dorf hat darauf Platz, ich war dort… Und sie glaubt mir nicht. Sie glaubt, ich sei nass, weil ich in der Bucht geplanscht habe… Nein, sag ich, ich bin raus, ich wollte ganz raus… bin dann bis an den Horizont geschwommen, wo die Nebeldecke das Meer berührt, bis an den Rand der Welt… Du spinnst ja. Was für Zeug du da redest… Nein, wirklich, ich war dort, ich war dort und erzähl dir davon. Ich erzähle dir jetzt davon. Überhaupt bin ich nur dorthin, nur dorthin für dich, nur für dich, dir davon zu erzählen. Und jetzt glaubst du mir nicht? Das ist doch… Dort, ganz dort draußen willst Du gewesen sein, aber das ist doch… unglaublich…

Aber ich war dort, wäre dort gewesen and lived to tell the tale. Lived to tell the… – Mir ging der Sinn dieser Redensart auf, Zug für Zug erschloss er sich mir, man lebt überhaupt nur, um zu überleben, und anderen davon zu erzählen… zu berichten, wie es war… wie es war, wo eigentlich kein Überleben mehr war, weil niemand dort war, je dort war. War denn je jemand dort gewesen? Auf dieser Insel…?

Näher... nah

Und plötzlich durchfuhr mich’s, dass ich zu sehen oder… halluzinieren glaubte, dass es… dass, was ich sah, eben doch keine Insel sein konnte, dass ich Felsen sah und glaubte, in etwa abschätzen zu können, wie breit, wie steil sie waren, dass ich Algen sah, gelbschwarz und grün Ausgeworfenes, rötlich-braune Ringe oder Streifen an einem der Felsenansätze… die ich, wenn ich nur durchhielte, jetzt nur nicht… jetzt auf der letzten Strecke nur nicht… nur nicht umkippen… die ich erreichen würde, auf die ich zuhielt… Und plötzlich schien mich jeder Zug – der sonst wirkungslos und wie im Netz gehalten, vergeblich war – näherzubringen. Brachte mich näher… näher… nah…

Ich riss mich, wie im Sieg über den verhassten Feind, der mich zum Tod überreden wollte, an einem der unteren Felsteile aus dem Wasser… Rutschte aus auf dem kantig-glitschigen Stein, schlug mit den Knien auf – ohne Schmerz zu empfinden -… hielt mich eisern am Fels, zog mich nochmals… nochmals daran empor… Woher hatte ich überhaupt noch die Kraft? Ich hatte’s geschafft. Ich erklomm die darüber sich türmenden steilen Felsen der mächtigen Klippe, spürte meine nachstoßenden Füße nicht mehr, meine klammernden Hände nicht mehr, aber fühlte das Feuer, die befeuernde Euphorie der Tat selbst: hier zu sein, es tatsächlich geschafft zu haben.

Und vorsichtig jetzt… ich wandte mich vorsichtig um… jetzt nur keinen Fehler machen, keine falsche Bewegung… Den Rücken zum Felsen jetzt, angelehnt, prustend, Luft in mich saugend, zitternd – aber ich dachte nur: Aufregung, du bist aufgeregt, weil du dein Ziel erreicht hast, dein Ziel… –, sah ich zurück zum fernen Strand. Da stand sie… Ist sie das? Ist das Jude? Das muss sie sein… Und hinter ihr die kleine Grotte, vor der wir geschlafen hatten. Sieht sie mich denn?

Ich hob die Arme… Sah aber keine Reaktion. Winkte. Keine Reaktion.

Ich wandte mich nochmals um, stieg höher jetzt, wollte den Gipfel erreichen. Die Felsenburg erklimmen, ganz oben wollt ich stehen… Made it, Ma, top of the world! schoss mir kurz durch den Kopf, zerriss bei der nächsten Anstrengung schon, noch im Erklimmen, beim Suchen nach Ritzen, nach kleineren Klüften zum Halt für die Hände, Füße, den Körper nachzuziehen. Von wegen Cagney, das hier war ja nicht Schauspielerei, this is real, as real as it gets…

Oben, ganz oben. Gerade genug Platz, noch mit beiden Füßen zu stehen, mich aufzurichten. Und die Arme nach oben gereckt… wink ich nach ihr… Da. Sie sieht mich! Ich glaube sogar, sie springt in die Luft, vor Freude, ein Luftsprung… Ich glaube, das tatsächlich aus dieser Distanz zu erkennen. Und wirble mit den Armen – Ja, du siehst recht… Ich bin es!

Keine Ahnung, wann sie erwacht war. Vielleicht vor Minuten schon, vor quälenden Minuten, in denen sie mich ja vielleicht gar nicht gesehen hätte… In dieser wahnsinnigen Ungewissheit, nein… letztlich: Gewissheit, dass er… das der, den man mit Augen sucht, schon tot ist… tot sein könnte… Sonst würde man ihn doch sehen. Oder war ich ihr sichtbar gewesen? Vielleicht doch gleich sichtbar gewesen… auf dem stillen glatten Wasser… Da draußen, da schwimmt doch einer… Das muss er sein… das muss er sein… Noch mal springt sie in die Luft. Und ich recke den Arm nach oben. Noch mal!

Blutspuren

Da, beim ersten Versuch, wieder hinabzusteigen, sehe ich… seh ich’s ganz oben… auf der kantigen Krone des Felsens: Blut. Und ein paar Federn… Taubenfedern? Blut. Woher?

Ich sehe nicht lange nach… Bemerke Blut aber jetzt auch auf einem Felsen, an dem ich mich kurzeitig festhalte, schon im Abstieg begriffen. Grauenhaftes schießt mir durch den Kopf. Was fand hier statt? Irgendein Opfer? Wer hatte hier… Und wo sind die jetzt? Denn das Blut… ist doch noch frisch. Oder ist das Einbildung? Sind sie am Strand? Noch… oder wieder am Strand? Ist Jude in Gefahr?

Aber dann hätten wir doch Spuren von ihnen bemerkt. Abgesucht, auf Spuren gänzlich abgesucht, hatten wir die Bucht natürlich nicht. Es war ja nur lächerliche Neugier gewesen: ob wir die Ersten, die Einzigen sind…

Erst hier bemerke ich, dass ich – den Blutspuren ausweichend – ja die Rückseite des Felsens hinabsteige. Ich halte an, versuche instinktiv, mich seitlich wieder nach vorn zu arbeiten… dem Strand zu… Taste seitlich nach Stützen. Und halte dann doch nochmals inne… Ich fühle: Etwas hinter mir… Fast unmittelbar hinter mir… Eine Präsenz… Vorsichtig, jetzt nicht abzurutschen, wende ich mein Gesicht, um nach hinten zu blicken… Und sehe, keine zehn Meter entfernt, die Nebeldecke, die hier das Meer berührt, wie ein riesiges graues Angesicht im Meer versinken… Die Weltenkapsel zu verschließen. Ende der Welt… Unerwartet nah. Und ich muss hinstarren, bis mich Grauen überkommt. Weil ich sehe, dass das Angesicht näher rückt, sich heranmacht an mich …langsam… unmerklich näher herantritt… sich den zu besehen, der so frech sich umwendet nach ihm…Ich strauchle, bin dabei zu… –

Da riss ich mich weg, die Augen wieder ganz an den Felsen geheftet, hielt mich daran fest, begann… aus der Klammerung… wieder seitlich zu tasten, mit Händen und Füßen, den Felsen nach vorn zu umrunden… Bis der Strand – endlich! – wieder in Sicht kam.

Vergiss, was du sahst. Du brauchst jetzt jeden Rest deiner Kraft, jeden übrigen Splitter, den Rückweg zu schaffen, nicht auf halbem Weg schlapp zu machen… Vergiss, was du sahst, sonst zieht’s dich hinab…

Der Anblick Judes dort am Strand – jetzt, am Fuß der Klippe angelangt, sah ich sie nicht mehr, aber die Erinnerung daran, an den Anblick, an die große Wiedererkennung, den kleinen Luftsprung, den ich – wiederholt – zu sehen geglaubt hatte… Ihre Freude doch, als sie mich sah, zum ersten Mal wiedersah, lebend!, gaben mir Zuversicht, dass ich es schaffen würde. Sie hatte ja offensichtlich keine Zweifel daran, wie hätte sie sich sonst freuen können.

Ich sprang zurück ins eiskalte Wasser, empfand es aber zu meiner Überraschung als nicht mehr so kalt… immer noch kalt, eiskalt… aber aushaltbar jetzt, durchhaltbar… Weil ich mit jedem Zug… zurück ins Leben mich zog. Da stand es, noch fern… noch fern am Strand, aber sie erwartete mich bereits. Sie würde warten, bis ich käme…, sie, der ich doch anvertraut war.

Seltsam, dass keiner der morbiden Gedanken, die auf dem Herweg gedacht worden waren, auf dem Rückweg auftauchten… – Nur einmal, als ich erneut Müdigkeit zu fühlen glaubte, erschien das Bild jenes Schwimmers vor mir, als bräche er mir Bahn, schwämme so vor mir her, der Mann in Bierces Bürgerkriegsgeschichte. Er hatte geglaubt, sein Galgenstrick – an dem man ihn über der Brücke aufgehängt hatte – sei gerissen, hatte geglaubt, er sei in den Fluss gefallen, schwämme zurück, mit der Strömung des Flusses zurück, erreiche schon bald – denn schon sieht er’s in Sicht – das vertraute Ufer, in Sicht schon die Frau, die läuft ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen, ein Engel… – nur kurz dieses Bild, alles Einbildung, nur kurz, er hatte sich ja alles nur eingebildet, hing doch am Strick, in der Todessekunde hatte er sich den Rettungsrest „Zukunft“ erzählt, alles Einbildung…

Aber dass ich das denke, beweist doch, dass ich wirklich schwimme, mir das nicht einbilde, beweist doch, dass ich, als ich im Rücken des Felsens stand und mich umwandte…, nicht abgestürzt bin…, dass ich vor dem Angesicht zwar erstarrte, ja, strauchelte… aber nicht abgestürzt bin… Nicht abgestürzt bin… das beweist es doch. Aber ich ließ auch diesen Beweis nicht lang genug gelten, dachte: nicht denken daran, nicht an das, was du sahst, nicht an dein Straucheln, diesen einen Moment, ließ ihn nicht gelten, nicht tief genug in mich dringen, um die Euphorie abzutöten, die mich weiterschwimmen ließ. Denn es war doch die Euphorie, dieses sichere Wissen: Du hast es geschafft, du würdest es schaffen, wirst es ihr alles erzählen können, die mich bei jedem Zug auf dem Weg zurück befeuerte. Diese Vorfreude auf die Umarmung und die Erzählung, die folgen würde, noch in der Umarmung, die unaussprechlich beginnen würde und dann alles sagen würde, was geschehen war, was erlebt worden, was vom Felsen her, dem fern Erreichten her, mitgebracht worden war. Etwas Geraubtes, etwas, das eigentlich dort hätte bleiben müssen… abgestürzt und versunken.

Ich weiß nicht mehr, wie wir uns umarmten. Weiß nicht mehr, wie wir zurückstiegen. Die Kleider wollte ich nicht anziehen… Ich brannte wohl innerlich, bis wir oben waren, zurück durch die Nebeldecke, die unseren Strand verschloss. Erst auf dem Parkplatz, nein, erst im Auto… Ich erinnere, dass sie mir eine Decke aus dem Kofferraum brachte, die ich im Wagen um mich zog. Sie schaltete das Gebläse auf warm, bei laufendem Motor… Und ich begann, zu erzählen… Aufzutauen…

Erst da machte sie mich aufmerksam – sie sah es zuerst an der Decke, die ich mir auch über die Fußspitzen ziehen wollte… Das Blut. Meine Fußsohlen – waren blutüberströmt. Ich hatte sie mir, betäubt von der Kälte, beim Auf- und Abstieg an den Kanten des Felsens zerschnitten.

Was mir hier im Kleinen geschehen, mir individuell zugestoßen war – die aufgeschnittenen Fußsohlen, der unbemerkte Blutverlust entspräche, psychologisch gedeutet, einer gefährlich beschädigten Einstellung zur Realität, „dem festen Boden unter den Füßen“, einem unbewussten Verlust auch seelischer Energie (das vergossene Blut: libido leakage) –, das glaube ich auch am Größeren, am kollektiven Geschehen unserer Tage zu erkennen. Es ist etwas, das sich schon seit Jahren – mehr oder weniger unbemerkt – vollzieht. Wir gehen auf eine Schwelle zu, befinden uns bereits im Bruch, Umbruch, Wandel – einer Phase höchster Gefahr, mitten im „Schilfmeer“, dem Untergang unseres herrschenden alten Bewusstseins. In solchen Zeiten kommt blinde Sehnsucht auf, die sich einer verlorenen, einstigen „Ganzheit“ versichern will. Weil so viel Ungewissheit ansteht, verlangt es uns umso sehnlicher nach Versicherung, dass wir alle letztlich getragen werden. Eine Illusion, der wir verfallen. Denn in diesem Augenblick sind wir identifiziert und daher auch psychisch inflationiert – wie ich, der ich glaubte, dieses Abenteuer größenwahnsinnig wagen zu müssen. Ohne die Risiken zu bedenken – eben: identifiziert mit ihr, der Natur – und nicht mehr objektiv. Diese Unbewusstheit, diese Hybris, mag ein paar Mal ungestraft durchgehen im Leben des Einzelnen, droht dem Kollektiv aber mit tödlichem Ausgang.

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