Damit der Glaube nicht zur Folklore wirdMut zur Theologie

Die Theologie gilt im Ausland als eine der Stärken der katholischen Kirche hierzulande. Spielt sie aber im deutschen Katholizismus selbst noch eine Rolle? Wie viel Theologie und vor allem welche wird in der Kirche vor Ort überhaupt gewünscht und nachgefragt? Und wie sieht eine Reflexion auf den Glauben aus, die diesem angesichts der gesellschaftlichen Infragestellungen zu mehr Überzeugungskraft verhilft?

Dem Bildungsbürgertum ist das Wort des Mephistopheles aus Goethes Faust bekannt: Es sei in der Theologie „so vielverborgnes Gift“, dass es am besten sei, lieber gleich auf den„Einen“ zu hören und „auf des Meisters“ Wort zu schwören. Es ist bekannt, wem Faust selbst sich anschließt, und auch ist bekannt, dass seine Geschichte nicht gerade glücklich verläuft. Ob es ihm anders ergangen wäre, wenn er der Theologie vertraut hätte, sei dahin gestellt. Dazu wüsste man zuvor auch gerne, auf welche Theologie Faust denn hätte hören sollen. Mephistopheles hat ja nur deshalb leichtes Spiel mit ihm, weil es eine menschliche Unruhe des Herzens gibt, die sich mit zu einfachen theologischen Erklärungen nicht abfinden will. Auch Religion und Glaube machen nicht so einfach glücklich, wie man vielleicht meinen könnte. Der Mensch ist dazu zu unruhig. Macht Religion restlos glücklich, dann wohl nur deshalb, weil sie das Fragen abstellt. Hierzu ist Faust nicht bereit. Eine Inszenierung seiner Figur, die Faust sich der Eindeutigkeit einer Theologie überlässt, die keine Frage mehr kennt, hätte wohl kaum den Stoff für einen Klassiker der Weltliteratur abgegeben. Das Gift der Theologie, auf die Mephistopheles anspielt, verströmt den Geist der Langeweile – modern ausgedrückt: Es ist die Langeweile einer Theologie, die auf Fragen antwortet, die niemand mehr stellt, weil sie sich als Fragen erledigt haben.

Es ist auffällig, dass bis in die Gegenwart hinein auch in der deutschen Kirche sich immer wieder Stimmen vernehmen lassen, die mit einer verbreiteten Animosität gegen die Theologie spielen. Frömmigkeit und Theologie werden gegeneinander ausgespielt, Innerlichkeit gegen eine jedenfalls zu starke Vernunft in Glaubenssachen in Stellung gebracht. Ins Visiergerät dabei vor allem eine Theologie, die sich der Komplexität heutigen universitären Denkens stellt. Womit einer solchen Theologie indirekt unterstellt wird, sich aus den kirchlichen Vollzügen, aus einer gelebten Frömmigkeit verabschiedet zu haben beziehungsweise auf diese von der Höhe des Katheders herunterzuschauen. Wenn nicht gar der Theologie der Vorwurf gemacht wird, die trotz der gegenwärtigen Konjunktur des Religionsthemas wohl kaum überwundene Kirchenkrise, auch die Krise des christlichen Glaubens mitzuverantworten. Ist dieser Vorbehalt gegenüber einer den offenen Dialog wagenden Theologie eher von „konservativer“ Seite zu hören, so muss sich zumal eine um Begründungsleistungen bemühte Theologie seit den siebziger Jahren von anderer Seite im Ergebnis ähnliche Vorwürfe gefallen lassen. Sozialethisches Engagement wird gegen ein begrifflich komplexes Denken, die Praxis Jesu gegen ein mit Fragen ringendes Denken ausgespielt. An der Geringschätzung, bisweilen am Rufmord einer Theologie, die hermeneutisch aufmerksam bleibt für ihre Zeit, die sich vor allem auch irritieren lässt durch neue kulturelle Selbstverständnisse und die doch zugleich die für den Glauben sprechenden Gründe je neu öffentlich sondiert und vertritt, die nach Gründen sucht und deshalb auch komplexe und diffizile Gedankengänge wagt, beteiligen sich unterschiedlichste Gruppen. Rechnet man dann noch den permanenten Druck hinzu, unter dem die Theologie an den staatlichen Universitäten steht, ihre Existenz rechtfertigen zu sollen, so zeichnen sich diffizile Gemengelagen ab.

Mitleidsbekundungen kann die Theologie nicht erwarten, darum darf es ihr auch nicht zu tun sein. Sondern sie hat sich um eine Erschließung des Glaubens zu kümmern, die nervös bleibt für die „Zeichen der Zeit“ und so eine Alternative zu den Verführungskünsten des Mephistopheles aufbietet, die ins Chaos führen. Die biblischen Traditionen atmen den Geist der Langeweile gerade nicht, sie müssen in ihrer für die Fragen unserer Zeit offenen Bedeutungsfülle nur erschlossen werden. Selbstverständlich vermögen diese Schriften zwar nicht Antwort auf alle jetzt anstehenden Fragen zu geben. Wie sollte dies auch geschehen, würde doch eine solche Vorstellung völlig geschichtslos sein und nicht damit rechnen, dass wirklich neue Fragen aufgrund eines veränderten Wissens über die Welt und den Menschen auf Antwort drängen. Aber sie können identitätsstiftend sein, weil sie selbst unruhig sind, sie die Nervosität eines Faust, die sich auf die Frage aller Fragen konzentriert, gerade nicht verdammen, sondern ernst nehmen: Was ist der Mensch? Theologie hat Antwort auf diese Frage zu geben, und zwar methodisch kontrolliert und im Gespräch mit den anderen universitären Disziplinen. Aufgrund ihres Selbstverständnisses, Glaubenswissenschaft und als solche zugleich Wissenschaft vom Menschen zu sein, kann sich die Theologie deshalb auch nicht auf kulturhistorische oder religionswissenschaftliche Fragestellungen einengen lassen. Und genauso kann auch nur ein Katholizismus in Deutschland Zukunft haben, der sich aus dem Glauben speist, der aber zugleich Vernunft und Wissenschaft gerade nicht verachtet. Faust fehlte es nicht am Verstehen, sondern am Glaubenkönnen. Man könnte heute den Eindruck gewinnen, als sei es umgekehrt. Viele Bildungsveranstaltungen gerade im außeruniversitären Bereich vermitteln diesen Eindruck. Glauben will man schon, aber was? Und kann man glauben, ohne in Widerstreit mit sich zu geraten?

Nachdem vieles, was über Jahrhunderte selbstverständlich geglaubt wurde, im Zuge der Neuzeit an Plausibilität verlor, fällt das Verstehen der tradierten Glaubenswahrheiten immer schwerer. Selbst das Wort von dem Gott, der sich erniedrigt hat und selbst Mensch geworden ist, ist angefragt. Und es ist nicht deshalb angefragt, weil man nicht glauben will. Sondern weil viele Prämissen, unter denen es erschlossen wurde und die die Frömmigkeitstraditionen wie beispielsweise auch das Liedgut bis heute prägen, unglaubwürdig geworden sind. Aufmerksam gemacht sei nur auf satisfaktionstheoretischen Engführungen beim Verständnis des Kreuzes Jesu (vgl. Thomas Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, 3. Aufl., München 1991). Inwieweit theologische Neuaufbrüche des 20. Jahrhunderts das breite Glaubensbewusstsein prägen konnten, lässt sich nur schwer überprüfen. Vieles spricht aber dafür, dass die entstandenen Leerstellen zunehmend synkretistisch mit Versatzstücken aus anderen Religionen besetzt werden. Dies schmälert aber nicht das Verdienst der Universitätstheologie, überhaupt neue Deutungshorizonte zur Verfügung gestellt zu haben, sondern unterstreicht nur ihre Bedeutung. Will sich der Katholizismus nicht auf eine nichts sagende Universalreligion reduzieren, wird er auf Theologie angewiesen sein, die je neu zur Sprache bringt, was den Kern des christlichen Glaubens ausmacht. Diese wird aber auch eine Sprache suchen müssen, die verstanden wird.

Permanente Wissenszuwächse gerade im Bereich der Anthropologie

Nun ist die Zukunft universitärer Theologie hierzulande nur beiläufig das Thema. Gefragt werden soll vielmehr nach den Entwicklungschancen eines Katholizismus in einer Gesellschaft, in der Bildung zu einer immer wichtigeren Größe wird. Wohin auch immer sich die deutsche Gesellschaft entwickelt, welches Gepräge auch immer sie kulturell und sozial aufweisen wird, so steht doch eines fest: Sie wird immer schneller gewonnene Wissenszuwächse integrieren müssen. Dabei wird Bildung keineswegs nur aus ökonomischen Gründen zu einer lebenslangen Aufgabe werden. Neues Wissen verabschiedet immer auch altes, differenziert oder modifiziert bis dahin geltende Überzeugungen. Darüber werden gewachsene traditionale Selbstverständnisse angefragt. Dass jemand selbstverständlich religiös ist, vielleicht sogar selbstverständlich christlich-konfessionell gebunden ist, ist zu einem Minderheitenphänomen geworden. Ein gelebter Glaube ist anstrengend und wird zunehmend anstrengend werden, weil er angefragt ist etwa durch permanente Wissenszuwächse im Bereich der Anthropologie. Die von den empirischen Humanwissenschaften erzielten Einsichten in seine biologische Herkunft, das genetisches Material, in das der Mensch verstrickt ist, müssen zwangsläufig auch religiös begründete Vorstellungen vom Menschen in Frage stellen. Von den Menschen, die den Glauben riskieren wollen und ihn nicht einfach gegen alle Vernunft setzen wollen, werden deshalb massive Anstrengungen abverlangt.

Gleichzeitig zeichnet sich eine Tendenz ab, dass das Interesse an religiösen Fragestellungen sich stärker auf Kreise mit einem höheren Bildungsniveau konzentriert, „zu einer Angelegenheit der besser Situierten“ wird (Matthias Drobinski, „Gott? Klingt spannend. Warum die neue Religiosität der Jugendlichen nur das Phänomen einer Minderheit ist“, in: Süddeutsche Zeitung, 9. März 2006). Zumal in der jüngeren Generation, die weitaus weniger aus traditionalen Zusammenhängen heraus lebt, ist der Zusammenhang von Bildungsniveau, damit aber auch der sozialen Stellung und dem Interesse an Religion unübersehbar. Wer dies konstatiert, wertet sozial nicht. Das Phänomen fügt sich bruchlos ein in die jüngsten Pisa-Studien und dem hier nachgewiesenen Zusammenhang von Bildung und sozialer Herkunft. Zudem muss diese Verlagerung des religiösen Interesses ja auch keineswegs zwangsläufig dazu führen, dass die Parteilichkeit des Glaubens die Ausbildung elitärer, am Ende kleinherziger Selbstbezogenheit begünstigt. Überraschen kann das Phänomen, dass Religion beziehungsweise vorsichtiger: eine religiöse Sehnsucht immer stärker zu einem Phänomen bildungsinteressierter Schichten wird, auch aus anderen Gründen nicht. Der Verlust einer unbefragten Identitätsmöglichkeit aus dem Glauben heraus ist zwar längst kein Phänomen mehr, das sich auf intellektuelle Milieus beschränkt. Zwar mag es traditionelle Milieus auch in Deutschland noch geben. Regionale Unterschiede spielen hier sicherlich eine Rolle. Eine selbstverständlich gelebte Frömmigkeit ist aber gleichwohl zur Ausnahme geworden und wird dies weiter werden. Skepsis herrscht längst auch da, wo die Rituale noch funktionieren.

Der Mensch angesichts von Letztfragen

Es ist keineswegs so, dass sich mit der Auflösung traditioneller Glaubensmilieus das Interesse an religiösen Fragestellungen verflüchtigen müsste. Ganz im Gegenteil kann der Verlust einer Selbstverständlichkeit, mit der „man“ halt glaubte, sogar zur Chance für eine ganz andere existentielle Dichte und damit für den Katholizismus selbst werden. So wie ja auch in noch stark konfessionell geprägten Kreisen der überlieferte Glaube da überzeugte, wo er eine tiefe Verwurzelung aufwies – in menschenverachtenden Regimen für die Menschlichkeit kämpfte, notfalls Menschen sogar bereit waren, mit dem eigenen Leben dafür zu bezahlen. Bis heute bringen die christlichen Konfessionen, bringt der Katholizismus immer wieder solche Menschen hervor – Menschen, die aus einer tiefen religiösen Sehnsucht heraus sich der Wette Pascals auf den Gott der biblischen Traditionen verschreiben.

Das Paradox einer anamnetischen Solidarität

Eine religiöse Sehnsucht, die offensichtlich tief in der conditio humana gründet, scheint auch durch die laufenden Modernisierungsprozesse nicht getilgt zu werden. Vielleicht wird sie sogar durch die Rasanz der ablaufenden Entwicklungen nochmals in ganz anderer Weise zu sich selbst provoziert. Je unsicherer, je anfordernder die Welt wird, um so mehr wird die Frage nach der an sich schon problematischen Identität und damit die Frage nach der Bestimmung des Menschen zum Problem. Gerade in Gesellschaften, die sich nicht mehr aus selbstverständlichen Traditionen heraus entwickeln, muss dem Menschen das Unbehaustsein seiner Existenz zum Problem werden.

Gesellschaftliche Individualisierungsprozesse, Zuwächse an freien Gestaltungsräumen der eigenen Existenz und des kulturellen Zusammenlebens weisen als Kehrseite immer eine Zunahme des Drucks aus, die eigene Existenz nun auch frei gestalten zu müssen. Auch wer (auch wenn das von außen nie abschließend zu beurteilen ist) im sich entwickelnden kulturellen Selbstverständnis einer enttraditionalisierten Gesellschaft mehr mitschwimmt, als der eigenen Existenz ein selbstgewähltes Gepräge zu geben, gestaltet schließlich faktisch seinen Freiheitsraum. Dies zu spüren, nicht mehr in unbefragten Selbstverständlichkeiten existieren zu können, verunsichert, kann aber auch ein intensives Interesse für Fragen der Religion wecken. Es gibt ein tief im Menschen angelegtes Bedürfnis nach einem Glück, dass die Kürze augenblicklicher Glückserfahrungen überdauert, das den Menschen in die Letztfragen führt, in Fragen, die die Fragen der Religion sind. Hinzu kommen die Fragen, die jedenfalls von moralisch sensiblen Menschen nicht verdrängt werden können: Gibt es nicht das „Paradox einer anamnetischen Solidarität“ (Helmut Peukert), niemandes Tod akzeptieren zu dürfen, besonders nicht den Tod derer, denen Entsetzliches durch andere Menschen geschah? Findet nicht selbst der beste Wille hier eine Grenze, die nicht mehr zu überschreiten ist und die Hoffnung auf einen Gott fordert, der rettet? Kommt hier nicht ein Begriff des Katholischen in den Blick, der so manche ökumenische Zwistigkeit der Gegenwart auf einen größeren Horizont hin sprengt?

Gegen die Vernunft halten es dauerhaft weder Religion noch Glaube aus

Die voranschreitenden Individualisierungsprozesse, wie sie zumal für die westeuropäischen Landstriche zu verzeichnen sind, müssen keineswegs dazu führen, dass das Interesse an den Glaubenstraditionen abstirbt. Vielleicht ist es sogar vielmehr so, dass gerade dann, wenn in der Instanz des Individuums diese Letztfragen gestellt werden und nun unabweisbar nach Antwort verlangen, der Glaube seine ganze Tiefe und Weite entfaltet. Aber alles dies sind Fragen, die nicht selbstverständlich sind, die ihrerseits den Index historischer Kontingenz aufweisen. Deshalb kann es nicht verwundern, dass nur da, wo Fragen wie diese gestellt werden, sich das Religionsinteresse rührt. Deshalb wird auch ein Katholizismus, der diese Fragekultur nicht pflegt, zur Folklore werden. Zugleich kann man auch nur davor warnen, etwa den jüngsten Karikaturenstreit nun dafür zu funktionalisieren, sich endlich wieder zu den eigenen kulturellen Wurzeln zu bekennen. In einer multikulturellen Gesellschaft, die Deutschland faktisch darstellt, ist dies zwar eine große Versuchung, um gesellschaftlich-kulturelle Stabilität zu garantieren. Ohne aber den Glauben selbst in seiner lebensermöglichenden und humanisierenden Bedeutung mit Vernunftgründen auszuweisen, ohne ihn durch das enge Nadelöhr vernünftiger Prüfung zu treiben, um so eine wirkliche existentielle Entscheidung zu ermöglichen, droht dem deutschen Katholizismus, zu einer Funktion zur Stabilisierung gesellschaftlicher Prozesse zu verkommen.

Dies alles weist darauf hin, dass in Glaubensfragen ein weitaus höheres Maß an intellektueller Einsichtsmöglichkeit verlangt ist, als dies vielleicht gegenwärtig erahnt wird. Der Sinn fürs Unendliche allein, die Sehnsucht nach einem sinngebenden Grund, wird dauerhaft keine religiöse und damit auch keine christliche Existenz retten, wenn dieser Sinn gegen jede Vernunft behauptet werden soll. Dazu ist das Aufklärungserbe in den europäischen Traditionen und auch in Deutschland zu stark, und das ist auch gut so. Ob es beim Philosophen Kant, der das Wissen schließlich begrenzen wollte, um dem Glauben Platz zu schaffen, nicht doch die Tendenz gibt, Gott auf die moralischen Begriffe unserer Vernunft, Religion auf „eine reine Vernunftsache“(Streit der Fakultäten A 11) zu verkürzen, sei hier dahingestellt. In einem aber ist Kant und allen anderen, die den Vernunftgebrauch in Sachen Religion nicht zugunsten eines Offenbarungspositivismus oder aber einer in ihrer Bedeutung sonntäglich reduzierten reinen Innerlichkeit reduzieren wollen, Recht zu geben: Gegen die Vernunft halten es dauerhaft weder Religion noch Glaube aus. Ganz im Gegenteil kann man angesichts der zumindest mit religiösem Vokabular angestachelten weltpolitischen Konflikte der Gegenwart gar nicht häufig genug betonen, dass auch in Sachen Religion Vernunft zu herrschen hat, und zwar eine Vernunft, die eine Universalität der Würde und Rechte der Freiheit einklagt. Aber es geht auch um die Vernünftigkeit des Glaubens selbst. Was Kant für das aufkommende 19. Jahrhundert formuliert hat, gilt zu Beginn des 21. Jahrhunderts in noch viel nachdrücklicherer Weise. Auf den christlichen Glauben bezogen: Entweder der überlieferte Glaube an den menschgewordenen Gott lässt sich einschreiben in das sonstige Wissen des Menschen von sich und der Welt, lässt sich bewähren angesichtseiner Natur- und Weltgeschichte, die nicht nur das Wunder des Menschseins ermöglicht, sondern auch unfassliches Elend und Unheil bereithält, oder er wird absterben. Der Mensch ist auf Identität ausgerichtet, und deshalb bedarf er dieser vernünftigen Integrationsleistung. Einmal aufgebrochene Fragen lassen sich nicht wieder verdrängen. Signifikant hierfür ist etwa, mit welcher Hartnäckigkeit das Problem der Theodizee bis heute in der Literatur des deutschen Sprachraums präsent ist.

In einer nicht verkürzten Bedeutung ist dieser Integrationswille im Begriff des Katholischen angelegt. Wie man auch immer übersetzt: Ohne die Bedeutung des Allgemeinen und Allumfassenden verengt man die im Bekenntnis aller Christinnen und Christen ausgesagte Substanz des Glaubens, die zugleich einen Auftrag für Kultur, Gesellschaft und Welt darstellt, nämlich unter den Bedingungen einer konkreten Geschichte je neu die ganze Bedeutungsfülle des Glaubens zu erschließen. Auch wenn im Selbstverständnis des christlichen Glaubens vorausgesetzt ist, dass Gott sein erstes Wort ist, ja dieser Glaube nur deshalb möglich ist, weil Gott sich dem Menschen zuerst ausgesagt hat, dieses Wort dem Menschen ein Ja sagt, das ihn unendlich würdigt sogar noch vor allem Tun, vor aller Leistung, so ist doch auch daran festzuhalten, dass dieser Glaube welthaltig ist und deshalb ganzkonkret praktisch werden will. Er will in die konkreten Verhältnisse hinein übersetzt werden, besitzt seine Wahrheit nur so. Einer der Erzfeinde bereits des Glaubens der antiken Welt, eine leibabschätzige und damit weltverachtende Gnosis, gibt es zwar bis heute. Vielleicht muss selbst der gegenwärtige Jugendlichkeitswahn zunächst noch einmal als verspätete Reaktion auf diese verächtliche Tendenz gelesen werden, bevor man ihn der berechtigten Kritik unterzieht. Dass aber die christliche Agape gegen wirksam gewordene Tendenzen ganz im Gegenteil den Eros, das konkrete und leibhaftige Dasein des Menschen, Geschichte und Kultur wertschätzt, hat Benedikt XVI. in seiner ersten Enzyklika mit Nachdruck herausgestellt. Ein sich an dieser Wertschätzung des Menschen und der Weltausrichtender Katholizismus kann auch deshalb nie wissenschafts- und damit auch nie theologiefeindlich sein. Ganz im Gegenteil wird er um seiner eigenen Sache willen sich offen und dialogisch in den kulturell-gesellschaftlichen Suchbewegungen seiner Zeit bewegen, sich neugierig neues Wissen über den Menschen, über seine biologische Herkunft und seine „Natur“ aneignen und etwas über das sich verändernde Selbstverständnis des Menschen erfahren wollen, wie es sich etwa im zeitgenössischen Kulturschaffen seinen Ausdrucksucht.

Katholizität bedeutet Dialog

Der Katholizismus stellt ja recht verstanden auch überhaupt kein Gegenüber zur Welt dar, sondern ereignet sich in der Welt. Auch das zunächst vielleicht zutiefst Fremde, das vielleicht sogar Beunruhigende darf deshalb nicht verängstigen. Oder aber der Glaube muss sich fragen lassen, ob er nichtinnerlich vielleicht schon zutiefst verängstigt ist und sich deshalb diesem ihm aus der eigenen sichtbar geprägten Tradition heraus betrachtet Fremden verweigert. Von hieraus bis zur Folklore und damit zur Archivierung des Glaubens ist dann aber nur noch ein kurzer Weg.

Eine Katholizität, der es um die lebensversprechende Kraft des Glaubens geht, bedeutet immer auch Dialog, weil es Christsein nur in und das heißt: in einer ausgedeuteten Welt gibt. Er ist immer bereits inkulturiert, erschließt seine Bedeutung in der Geschichte und kennt deshalb die Welt auch keineswegs als Gegenüber. In einer Wissensgesellschaft, für die die Universitäten eine fundamentale Rolle hierzulande spielen, kann es deshalb auch keinen Katholizismus geben, der nicht Theologie als Wissenschaft will und nicht darauf dringt, dass die Theologie an den staatlichen Universitäten ihr Existenzrecht behält. Diese stellen gerade keine Gefahr für das „Eigentliche“ dar, sondern bringen auf ihre Weise das Eigentliche dieses Glaubens zum Ausdruck. Es geht nicht nur darum, weltoffen zu sein, weil der Glaube zutiefst weltbezogen und welthaltig ist. Sondern es geht vor allem auch darum, den Glauben selbst immer tiefer zu erschließen. Dies aber wird in einer Wissensgesellschaft wie der deutschen nicht ohne eine Theologie gehen können, die sich deren Fragen und auch deren intellektuellen Standards stellt.

Theologie vollzieht sich nicht nur in institutionalisierter universitärer Verortung

Der zumeist stille Verdacht, dass dann die Theologie vielleicht doch nicht bei ihrer eigenen Sache sein oder vielleicht auch zu wenig spirituell orientiert sein könnte, muss deshalb, eben weil es hier um das Katholische selbst geht, mit Nachdruck zurückgewiesen werden. Natürlich gibt es auch die Gefahr der Anpassung, die Gefahr, die Sache des Glaubens aus dem Blick zu verlieren. Methodische Ideale erzwingen immer auch Begrenzungen der Perspektive. Aber dies ist dann eine Aufforderung an die Theologie, den Gebrauch von Methoden kritisch zu diskutieren und sich nicht naiv in ihrem Gegenstand begrenzen zu lassen – und kein Wort gegen die Theologie als solche an staatlichen und damit religionsneutralen Universitäten. Fremdperspektiven auf die Sache des Glaubens und die „Geschichte des geglaubten Gottes“ (Andreas Holzem) einzunehmen, sich auch kritisch anfragen zu lassen, muss keineswegs Ängste auslösen. Im Gegenteil. In der selbständigen, möglicherweise auch kritischen Aneignung dieser Fremdperspektiven erschließt sich erst die ganze Bedeutungsfülle des Glaubens an den Gott, der sich selbst offenbar gemacht hat.

Dabei vollzieht sich Theologie selbstverständlich nicht nur in institutionalisierter universitärer Verortung. Überall dort, wo der Glaube erschlossen wird, geschieht nichts anderes als Theologie, Auslegung des Glaubens an Gott. Theologie ist nicht ausschließlich die Sache von Spezialisten, sondern all derer, die sich in eigener Autonomie der Sache des Glaubens verschreiben. Überall da, wo sich Menschen selbständig kreativ in die Überlieferung des Glaubens einschreiben, geschieht deshalb Theologie. Allerdings muss damit gerechnet werden, dass eine Gründe sondierende, diskursoffene Theologie für die Überlieferung des Glaubens eine immer größere Rolle spielen wird. In einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder in lebenslange Bildungsprozesse einfordert, wird ein Glaube, der ein vages Gefühl fürs Unendliche darstellt, keine große Chance haben, vor allem aber auch nicht sein kreatives und veränderndes Potenzial entwickeln. Die dialogische Struktur des Christlichen selbst, sein welthaltiger und damit immer auch geschichtlicher Charakter ermutigt dazu, sich ohne selbst aufgesetzte Scheuklappen je neu auf die Zeit einzulassen. Es geht nicht nur darum, die Unterscheidung der Geister zu betreiben, die dann eingefordert ist, wenn das Evangelium von dem Gott, der alle Menschen als seine Ebenbilder geschaffen hat, in einem partikularen Menschendenken bestritten wird. Sondern es geht auch um eine neugierige und kreative Präsenz des Katholischen, das dadurch erst katholisch wird. Die vielen Bildungseinrichtungen auf allen kirchlichen Ebenen und die Akademien im deutschen Katholizismus oder auch das Cusanuswerk, die Bischöfliche Studienförderung, sind Beispiele einer solchen kulturellen Präsenz, durch die der Glaube sich erschließt und durch die zugleich neugierig gemacht wird für den Glauben an den lebensbejahenden Gott. Hier findet Dialog statt, der das Evangelium vom menschenfreundlichen Gott übersetzt – ein Dialog im Übrigen, der über die Beteiligten auch Einfluss nimmt auf die Entwicklung der deutschen Gesellschaft bis in ihre sozioökonomischen Grundlagen hinein.

Und genauso wichtig neben solchen institutionalisierten Formen sind solche Formen von katholischer Präsenz, wie sie durch die einzelnen Christinnen und Christen in den verschiedensten Dimensionen ihrer Lebenszusammenhänge gelebt werden – bescheiden und freundlich-neugierig zugleich und genau dadurch überzeugend. Das Evangelium wirkt dann wie der häufig zitierte Sauerteig. So ist die Kirche aller Getauften missionarisch tätig.

Kein Katholizismus ohne ökumenische Gemeinschaft

Eine solche Präsenz reduziert das Christsein nicht auf ein Dabeisein. Für den Katholizismus der Zukunft wird es im gleichen Maße auch immer dringlicher werden, sein Proprium zu vertreten – bei aller Weltzugewandtheit auch unterscheidbar zu bleiben dadurch, dass auf den eigentlichen Grund der Neugierde, aber auch der Freude am und dem entschiedenen Einsatz für das Dasein aufmerksam gemacht wird: auf Gott als den schöpferischen Ursprung des Seins. Aber er vertritt dieses sein Proprium gerade nicht in einem Gegenüber zur Welt. Sondern indem er dem Evangelium in der Welt und als Teil der Welt Gehör verschafft. In der Gesellschaft der Zukunft wird dies vermehrt intellektuelle und kulturelle Kompetenzen verlangen. Dies wird enorme theologische Anstrengungen bedeuten, zu denen alle Christinnen und Christen ermutigt sind. Deshalb kann es keinen Katholizismus geben, der nicht in ökumenischer Gemeinschaft existiert.

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