Editorial

Die Liturgie sei der „Gipfelpunkt, zu dem das Tun der Kirche strebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt“.So formulierte das Zweite Vatikanische Konzil vor fünfzig Jahren in seiner Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“, dem ersten Dokument, das es verabschiedete. Aber werden diese hohen Worte von der heutigen kirchlichen Wirklichkeit gedeckt? Wie steht es konkret um den Gottesdienst als einem für den christlichen Glauben zentralen Vollzug?

In Deutschland wie auch in den meisten seiner Nachbarländer findet nur eine immer kleiner werdende Minderheit der Katholiken regelmäßig den Weg in die sonntägliche Eucharistiefeier. Für die meisten gelegentlichen Besucher ist diese Feier ein Buch mit sieben Siegeln. Andere Formen des Gottesdienstes führen vielerorts ein Schattendasein. Gleichzeitig ziehen liturgische Feiern bei herausragenden Anlässen oder mit aufwendiger musikalischer Gestaltung nach wie vor viele Menschen an.

Es herrscht kirchlicherseits eine verbreitete Unsicherheit in Bezug auf den gesellschaftlichen und kulturellen Ort des christlichen Gottesdienstes, auf seinen Stellenwert in einer religiösen Situation, die durch Pluralisierung und Individualisierung gekennzeichnet ist. Mit der Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die katholische Kirche in einer gewaltigen Kraftanstrengung ihrem Gottesdienst eine erneuerte Gestalt gegeben; auch andere christliche Kirchen haben sich in den letzten Jahrzehnten um Gottesdienstreformen bemüht. Aber das derzeitige gottesdienstliche Leben provoziert unvermeidlicherweise die Frage, ob man es bei diesem Reformschub belassen kann.

Grund genug, das neue Heft in der Reihe „HK-Spezial“ dem Thema Liturgie zu widmen. Natürlich ist die Herder Korrespondenz keine liturgische Fachzeitschrift. Aber sie hat sich seit jeher die Aufgabe gestellt, Entwicklungen auf den verschiedenen grundlegenden Handlungsfeldern der Kirche zu analysieren und auf Zukunft hin zu bewerten. Dass dazu der gottesdienstliche Bereich bis hin zu neuen Gebet- und Gesangbüchern gehört, steht außer Frage.

Das Heft lässt ausgewiesene Autorinnen und Autoren zu Wort kommen; es befasst sich mit theologischen Grundfragen eines heutigen Liturgieverständnisses ebenso wie mit Versuchen, Gottesdienste für besondere Zielgruppen oder zu besonderen Anlässen zu gestalten. Dazu kommen Beiträge zu einzelnen wichtigen Gestaltungselementen wie etwa der Musik im Gottesdienst und zur aktuellen gottesdienstlichen Kultur in bestimmten Ländern beziehungsweise Regionen. Auch die Gottesdienstreformen in den evangelischen Kirchen werden vergleichend einbezogen.

Im Hintergrund steht fast durchweg die spannende Frage nach dem Verhältnis von Traditionsbindung und Neugestaltung. Inwiefern braucht es um der Identität von Glauben und Kirche willen die Pflege des gottesdienstlichen Erbes, das ja auch für manche Zeitgenossen durchaus attraktiv ist? Und wie viel Mut zur Flexibilität in der Gestaltung, wie viel Phantasie ist notwendig, um Gottesdienst und Leben in eine produktive Beziehung bringen zu können? Es geht schließlich auch darum, wie sich die Kirche mit ihren Gottesdiensten angesichts des heutigen Angebots an Ritualen behaupten kann.

Patentrezepte für das heikle Feld des Gottesdienstes gibt es nicht; das wird an den Beiträgen in diesem „HK-Spezial“ deutlich. Es wäre viel gewonnen, wenn es dazu beitragen könnte, manche Diskussionen zu entkrampfen, Gegenakzente zu geschichtsblinder liturgischer Betriebsamkeit wie zu unsensibler, gedankenloser liturgischer Routine zu setzen. Das könnte Verständnis und Vollzug des Gottesdienstes wirklich helfen. Den Autorinnen und Autoren danken wir für die unkomplizierte Zusammenarbeit.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!

Ulrich Ruh

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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