Bis zum heutigen Tage hat die formelle Wiederzulassung der vorkonziliaren Messe (forma extraordinaria) durch Benedikt XVI. mehr Irritationen verursacht als Klarheit geschaffen – und mit Blick auf Begründung und Motiv bei nicht wenigen Katholiken Kopfschütteln hervorgerufen. Das Motuproprio „Summorum Pontificum“ von 2007 bleibt in der Schilderung des Anliegens verbal im Allgemeinen: Der Reichtum der römischen Liturgie in ihrer älteren Form solle bewahrt und für das geistliche Leben der Gläubigen fruchtbar gemacht werden.
Konkreter wird das Anliegen des ehemaligen Papstes mit dem Wunsch, die Zulassung der Messfeier nach dem Missale Romanum von 1962 möge der Versöhnung innerhalb der Kirche dienen. 2011 wurde eine Instruktion zur Ausführung des Motuproprios erlassen – „Universae ecclesiae“ –, und zwar von der Kommission Ecclesia Dei, die sich mit der gewünschten Wiedereingliederung der traditionalistischen Pius-Bruderschaft befasst; mit dieser Verortung der Zuständigkeit für eine liturgische Richtungsentscheidung ist das Tor für weitere Interpretationen geöffnet.
Es gibt keine belastbare statistische Erhebung für den Orbis catholicus, wie hoch die Zahl derer war, die vor dem päpstlichen Schreiben 2007 mittels Sondergenehmigungen die tridentinische Form der Messe feiern durften – auch nicht über die Entwicklung nach Erlass der Forma-extraordinaria-Regelung. Für den deutschsprachigen Bereich dürfte es sich – gerechnet auf die Gesamtschar der katholischen Gläubigen, die wöchentlich an einer Messfeier teilnehmen – auf jeden Fall im niedrigsten Promille-Bereich bewegen. Inoffizielle Schätzungen gehen zudem von einer leicht sinkenden Zahl der Messen im tridentinischen Ritus zumindest für den Bereich der deutschen Diözesen aus. Von daher wäre keine Notwendigkeit gegeben gewesen, fast fünf Jahrzehnte nach ihrer Ablösung diese gottesdienstliche Feierform wieder zuzulassen und damit de facto eine Parallelliturgie zu schaffen – liturgiegeschichtlich wohl ein singulärer Fall.
Weshalb und für wen nahm man nun das Nebeneinander unterschiedlicher Festkalender, unterschiedlicher Formen und Formeln bei Sakramentenspendungen und divergierender Textfassungen in Gebeten (bis hin zu einer theologisch verschlimmbesserten Juden-Fürbitte am Karfreitag) in Kauf? Weshalb riskierte man, eines der kostbarsten Güter der Kirche zu beschädigen – ihre Einheit, die seit Jahrhunderten auch in einer weltumspannenden gemeinsamen Liturgie zum Ausdruck kommt? Der Dialog mit den Traditionalisten hat in der Zeit nach dem Konzil bis zum Jahr 2007 einen solchen Schritt nicht gebraucht, und die Zahl derer, die diese Form der Feier wünschen, rechtfertigte kein eigenes päpstliches Dekret.
Verhängnisvolle Kontexte
Sollte es sich hier also doch um eine inhaltlich motivierte Korrektur der letzten Liturgiereform handeln? Dann wäre dies eine theologische Schubumkehr, mit der sich die Kirchenleitung in Rom von wesentlichen Grundsätzen des Zweiten Vatikanischen Konzils zu distanzieren versucht. Diese Annahme wurde stets als boshafte und kränkende Unterstellung vehement bestritten – und dennoch zugleich durch konkrete Verhaltensweisen massiv genährt.
Es ist die unheilvolle Melange mehrerer Entwicklungen, die seit Jahren im Bereich der Liturgie zu verzeichnen sind und in deren Kontext die Wiederzulassung der tridentinischen Messe einen bewusst platzierten Faktor ausmacht. Da war das deutlich über die Grenzen des Erträglichen hinaus gehende Entgegenkommen denen gegenüber, die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (und nicht zuletzt seiner Liturgiereform wegen) der römisch-katholischen Gemeinschaft den Rücken gekehrt und diese letzte Kirchenversammlung als nicht verbindlich angesehen hatten: Die Traditionalisten der Pius-Bruderschaft durften (und dürfen) sich einer sie geradezu umwerbenden Aufmerksamkeit erfreuen, die nicht wenige in der Mitte der Kirche verwurzelte Katholiken sehr erstaunte.
Das ging bis zu dem (freilich auf niedrigem intellektuellen Niveau bereits gescheiterten) Versuch eines emeritierten Kardinals, die lehramtliche Verbindlichkeit von Konzilsdokumenten etwa hinsichtlich der bei den Traditionalisten äußerst unbeliebten Religionstoleranz einem Relevanz-Ranking zu unterwerfen, um einige Aussagen des letzten Konzils für diese Klientel offenbar mundgerecht aufzubereiten. Die pontifikale Geduld war schier grenzenlos (vor allem verglichen mit dem Verhalten gegenüber anderen Kritikern, die bei Weitem nicht so stark vom katholischen Kurs abwichen und bei denen die Reaktion erheblich kurzatmiger war).
Eine zweite Tendenz – und auch sie trifft katholische Teilkirchen in der ganzen Welt: der beinharte Zentralismus Roms im Umgang mit liturgischen Büchern! Die Auseinandersetzung über die nicht akzeptierte Übersetzung des Messbuches im anglophonen Bereich war wohl nur ein Vorspiel: Der nächste Akt findet derzeit im deutschsprachigen Katholizismus statt. Nachdem die End-Abnehmer (also der Klerus) dem neuen Beerdigungsrituale aus nachvollziehbaren Gründen die Akzeptanz verweigerten (es erschien dann ein deutlich abgespecktes Manuale, das nun langsam in Gebrauch kommt – von dem man allerdings noch nicht weiß, wie es in Rom beurteilt wird), sind die neuen Konfliktfelder konkret abgesteckt: das Messbuch und – ganz aktuell – das Gesangbuch, das im Advent des Jahres erscheinen soll und vom dem nun den Kirchengemeinden Vorausexemplare zugesandt wurden (vgl. dieses Heft, 20 ff.).
Bischöfe in der Zwickmühle
Die jetzt auftauchenden Schwierigkeiten haben eine längere Vorgeschichte – genauer gesagt, beginnen sie im Jahr 2001 mit der Instruktion „Liturgiam authenticam“, die den „Gebrauch der Volkssprache bei der Herausgabe der Bücher der römischen Liturgie“ regelt. In Artikel 108 dieser Instruktion wird über die liturgischen Gesänge und Hymnen (also die Kirchenlieder), die in der sonntäglichen Messe eingesetzt werden, festgestellt: „Wenn sie beim gläubigen Volk weiter verbreitet sind, sollen sie von hinreichend fester Gestalt sein, sodass im Volk eine Verwirrung vermieden wird.“ Als Konsequenz hatte jede Bischofskonferenz eine Liste mit den muttersprachlichen Gesängen, die für die Feier der Messe geeignet sind, in Rom zur Rekognoszierung vorzulegen.
Ob es nun notwendig war, gleich das ganze Manuskript des neuen Gesangbuchs dem Vatikan zur Genehmigung zuzusenden (so wie es die deutschen Bischöfe dann wohl taten), bleibt dahingestellt; die Instruktion von 2001 führte jetzt jedenfalls zu einer fatalen Konsequenz: Von Rom aus wurde in einem singulären und gleichermaßen empörenden Akt zentralistischer Anmaßung bestimmt, welche Lieder in einer großen Teilkirche im Rahmen einer Messfeier gesungen werden dürfen und welche nicht – als reichten theologische Kompetenz und Kirchlichkeit der deutschen Bischöfe nicht aus, um ein Gesangbuch zu verabschieden, das sich mit Recht „katholisch“ nennen darf!
Dabei geht es hinsichtlich der Frage, welche Gesänge „hinreichend fester Gestalt sind, um beim Volk Verwirrung zu vermeiden“, in den seltensten Fällen um theologische Fragen. Wenn man beispielsweise den in unseren Kirchengemeinden weithin verbreiteten und geschätzten Liedern des niederländischen Dichters Huub Oosterhuis das Siegel „liturgiefähig“ verweigerte, dann nicht etwa, weil sich hier Häresien oder falsche theologische Akzente fänden – sondern nur und ausschließlich, weil der Autor seinen Orden und den Priesterstand verlassen und geheiratet hat. Machte man künftig solche moralischen Regeln zum Maßstab der Zulassung von Kunst im kirchlichen Bereich, wären weite Teile der Vatikanischen Museen nicht mehr zu besichtigen sowie sakrale Kunstwerke im Petersdom zu verhängen, und zahlreiche Sarkophage von Päpsten dürften der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich gemacht werden, um „das Volk vor Verwirrung zu bewahren“; die Absurdität eines solchen Vorgehens liegt auf der Hand.
Den römischen Liturgiewächtern zufolge hätten die Oosterhuis-Lieder wohl überhaupt nicht ins Gesangbuch aufgenommen werden dürfen – wie in den Niederlanden bereits geschehen. Dass die deutschen Bischöfe mutigerweise die Lieder trotzdem aufnahmen, ist wohl der Sorge geschuldet, das Gesangbuch könnte sonst genauso ein Ladenhüter werden wie das Beerdigungsrituale seinerzeit.
Für die Kirchengemeinden wird sich diesbezüglich nicht viel ändern; denn das römische Verdikt hat sich im neuen Gesangbuch lediglich in zwei Buchstaben niedergeschlagen: „Li“ steht nun gelegentlich an den Titeln der Abschnitte und bezeichnet Gesänge, die gemäß „Liturgiam authenticam“ für die Feier der Liturgie als geeignet angesehen werden – wobei sich „Liturgie“ missverständlicherweise lediglich auf die Feier der Messe bezieht.
Aber man darf auf Roms Reaktion gespannt sein – genauso wie auf das sicherlich nun einsetzende eifrige Buchführen derer, die genau registrieren und weitermelden, wann wo welches „unerlaubte“ Lied in einer Messe zum Einsatz kam. So mancher Bischof wird sich ob des von ihm mit verabschiedeten Kompromisses in der Zwickmühle sehen – und hoffentlich können sich die Pfarrer dann auf die Loyalität ihrer Oberhirten verlassen.
Ungleiche Wahl der Mittel
Was haben wir nun hier? Auf der einen Seite eine demonstrative und folgenreiche liturgische Öffnung für eine kleine Gruppe, die beharrlich hinter einer Kirchenreform zurückgeblieben ist – auf der anderen Seite der Versuch, über den Ausschluss von Liedern die Liturgie einer ungleich größeren Gemeinschaft zu beschneiden und dadurch zu maßregeln. Entweder passt das gar nicht zusammen – oder es passt eben sehr gut!
Wenn man diese Vorgänge dann noch auf die ausstehende deutsche Übersetzung des Messbuchs hochrechnet, so kann man die Not der Bischöfe nachvollziehen, denen auch nicht verborgen geblieben sein dürfte, dass nicht wenige Pfarrer bereits heute zu anderen Textfassungen greifen, wenn sie mit ihrer Gemeinde die Messe feiern. Und eines zeichnet sich wohl jetzt schon ab: Verständlicher, sprachlich besser und gemeindenäher als das derzeit noch gültige wird das neue deutsche Messbuch in weiten Teilen wohl nicht werden.
Der handfeste Streit um die genaue Übersetzung der Wandlungsworte gab einen Vorgeschmack: Obwohl der Unterschied zwischen „alle“ und „viele“ lediglich auf der Vokabelebene anzusiedeln ist (da inhaltlich wohl keiner theologisch sauber erklären kann, für wen Christus sein Blut nicht vergossen hätte), wurde das Auswechseln des Wortes päpstlich angeordnet. Weitere Irritationen werden die Folge sein – und Katechesen sollen nun helfen, dem Volk Gottes zu erklären, weshalb man künftig „viele“ sagt, aber nach wie vor „alle“ meint. Ob sich in diesen Diskussionen die Realität der aktuellen gemeindlichen Probleme widerspiegelt, wird sich am Grad der Aufmerksamkeit ablesen lassen, die man der Umsetzung des neuen Messbuchs entgegenbringen wird. Roma locuta … Rom hat gesprochen – aber die Sache wird wohl auf ihre eigene Art und Weise erledigt: Man muss die Latte nur hoch genug legen, damit viele Menschen erhobenen Hauptes darunter hergehen können – ein horizontales Schisma sui generis!
Römischer Zentralismus in Sachen Liturgie, der bis hin zu Bischöfen die Christen zur Weißglut bringt, jahrelanges Umwerben der Traditionalisten auch um den Preis, für vier gewonnene Bischöfe vom rechten Rand Massen von Katholiken aus der Mitte zu verlieren, und eben die Wiederzulassung der tridentinischen Messe wenn nicht als Korrektur, dann doch als Korrektiv der letzten Liturgiereform: drei Themen, die man mit gutem Recht je für sich betrachten könnte … und mit noch besserem Recht zusammen betrachten muss! Denn sollte es je Papst Benedikts Bestreben gewesen sein, das Schisma zwischen nachvatikanischer Kirche und Traditionalisten auf liturgischem Wege durch eine „Weitung“ des Spektrums von Messfeierformen heilen zu wollen, so wäre dieses Vorhaben in zweierlei Beziehung gescheitert.
Das Schisma ist (natürlich) nicht beendet worden, denn der Graben des theologisch Trennenden wurde immer tiefer und weiter, je mehr sich die römischen Behörden den Traditionalisten näherten, für die eine Einigung das Ende ihrer selbstgewählt märtyrerhaften Identität und Existenz bedeutet hätte. Und zum anderen entsteht durch dieses Vorgehen in den Kirchengemeinden ein viel tieferer Riss, der ungleich mehr Katholiken betrifft und der den Entfremdungsprozess zwischen den offiziell Verantwortlichen und einer breiten Masse von Gläubigen rasch vorantreiben wird, von der galoppierenden Glaubwürdigkeitsschwindsucht im Verhältnis zur Gegenwart einmal ganz zu schweigen.
Zum Wesen der Kirche gehört die Wandlungsfähigkeit hinsichtlich ihrer äußeren Gestalt, ihrer liturgischen Formen und ihres Verhältnisses zur Welt, in der sie existiert und in die hinein sie die Botschaft Christi zu verkündigen hat. Diese Fähigkeit, ja Notwendigkeit zur Wandlung ist eine direkte Konsequenz aus der Tatsache, dass der Gott und Vater Jesu Christi sich den Menschen als Gott der Geschichte zeigen und ihren geschichtlichen Weg mit ihnen gehen will. So war und ist es notwendig, das Wesentliche der Botschaft immer wieder neu in den Blick zu nehmen und der historischen Situation adäquate Formen des Feierns, Betens und Verkündigens zu finden.
Hieraus resultiert auch die Erkenntnis, dass heute – 50 Jahre nach der liturgischen Reform des Zweiten Vatikanums – bei der Feier der Liturgie Defizite sichtbar geworden sind, die es aufzuarbeiten und zu beseitigen gilt. Den Auftrag dazu formuliert ein Grundprinzip unserer Kirche: ecclesia beziehungsweise liturgia semper reformanda. In diesem Sinne böte übrigens auch das neue Messbuch eine Chance, nicht nur mechanisch lateinische Vokabeln zu übersetzen, sondern aus dem Geist der deutschen Sprache heraus liturgische Texte zu schaffen, die theologisch exakt, poetisch kraftvoll und zugleich zeitgemäß sind; nur diese Qualität würde überzeugen.
Ihre geschichtliche Kontingenz kann die Kirche nicht abstreifen; sie kann nicht so tun, als wäre es möglich, aus der Geschichte auszutreten, indem eine liturgische Momentaufnahme gleichsam eingefroren und ihr der Charakter überzeitlicher Gültigkeit zugesprochen wird. Auch das Missale Romanum von 1570 (in seiner Fassung von 1962 bereits nicht wenigen Änderungen unterzogen) kodifizierte die Messe, indem viele und zu dieser Zeit schon teils sehr alte lokale Traditionen beendet wurden. So notwendig es den Vätern des Tridentinums erschien, der katholischen Welt des 16. Jahrhunderts erstmals ein einheitliches Messbuch vorzuschreiben, so notwendig erschien es den Vätern des Zweiten Vatikanums, unter den Gegebenheiten einer inzwischen vollkommen veränderten Weltkirche dieses Missale durch ein neues zu ersetzen und dabei auch die Prinzipien gottesdienstlichen Feierns neu zu bestimmen.
Das Faszinierende dabei war, dass dieses Neue so neu gar nicht war, sondern in vielen Facetten wiederum durch theologische Rückgriffe auf andere, noch weiter als das Tridentinum zurückliegende Traditionen (wie die der ausführlich in den Konzilsdokumenten zitierten Kirchenväter) zu Stande kam. Das galt für den Gedanken der eucharistischen Mahlgemeinschaft, die sich um den Tisch des Herrn versammelt, genauso wie für die liturgische Rollenverteilung und die Ausrichtung des sacerdotalen Priestertums auf die Aufgabe, das allgemeine Priestertum aller Getauften zur Entfaltung zu bringen.
Umso unerklärlicher ist es, dass nun diese eine Momentaufnahme der Liturgiegeschichte (tridentinische Messe in der Fassung von 1962) aus dem historischen Prozess des Werdens und Vergehens von Formen herausgelöst und verabsolutiert wird – als wäre dies die seit unvordenklichen Zeiten unveränderte „alte Messe“, die mit der Liturgiereform des Zweiten Vatikanums durch lauter moderne Neuheiten zerstört worden wäre.
„Fascinosum“ gerade für junge Kleriker
Der Anspruch, eine liturgische Form von überzeitlicher Gültigkeit wieder hergestellt zu wissen, scheint nun nicht nur für die primäre Klientel, der mit „Summorum Pontificum“ die Hand gereicht werden sollte, ausgesprochen reizvoll zu sein. Auch wenn aussagekräftiges statistisches Material zur Entwicklung der Forma-extraordinaria-Zelebrationen fehlt, so wird doch aus persönlichen Berichten eine Tendenz sichtbar: Unter denen, die diese Gottesdienste (be)suchen, sind nicht wenige junge Menschen, die allein schon aufgrund ihres Lebensalters die Liturgie vor dem Zweiten Vatikanum nicht miterlebt haben.
Sie haben auch den Seufzer der Erleichterung nicht gehört, den viele Geistliche nach der Liturgiereform vor 50 Jahren ausgestoßen haben. Die erneuerte Liturgie brachte einerseits Vereinfachungen mit sich; auf der anderen Seite setzte sie durch die neu ermöglichte Flexibilität bei der konkreten Gestaltung einzelner Elemente ein hohes Maß an Ars celebrandi, an Feierkompetenz, voraus. Liturgie ereignet sich in der Spannung zwischen objektiven Vorgaben und Aktualisierungen in die Zeit hinein. Um die Balance zwischen der vertikalen (Gott – Mensch) und der horizontalen (Mensch – Mensch) Dimension liturgischen Handelns zu halten, braucht es historisches Bewusstsein, theologische (biblische) Kenntnis, ein großes ästhetisches Sensorium und zugleich die Fähigkeit zum Dialog mit der Gegenwart. Das ist eine unter Umständen sehr anstrengende Neuerung gegenüber der tridentinischen Liturgie.
Deren festes und nicht in Frage zu stellendes Regelwerk – ein wundersames Therapeutikum gegen die „Häresie der Formlosigkeit“ – gibt offenbar Sicherheit für die eigene Rolle und entlastet zugleich von der Notwendigkeit individueller Gestaltung: Man weiß ganz genau, wann welche der vielen Verbeugungen zu machen und wo eines der zahlreichen Kreuzzeichen zu schlagen ist, denn man gehört „dazu“!
Manche junge Kleriker finden zugleich den alten Platz ihres Standes wieder; die hiermit einhergehende Über-Kultung der Liturgie, die üppige Barockisierung der Gewänder und Geräte hebt den Priester in eine Funktion zurück, die mit Blick auf die theologischen Entwicklungen und gemeindlichen Realitäten der letzten Jahrzehnte zwar längstens obsolet geworden ist, aber wohl genau deswegen ein nicht zu unterschätzendes Maß an Faszination ausübt. Und wenn diese jungen Kleriker die Gemeinderealität, in die hinein sie entsandt sind, schließlich weit verfehlen, werden sie sich auf die oben geschilderten liturgischen Regelungen beziehen können: Rom erlaubt es so, Rom will es so!
„Nachdem alles zubereitet ist, wendet sich der Priester an das Volk und sagt: Betet, meine Brüder! Das Volk antwortet: Möge der Herr aus euren Händen dieses Opfer annehmen! Der Priester bleibt einen Augenblick still; dann verkündigt er plötzlich die Ewigkeit, Per omnia saecula saeculorum! und ruft: Erhebet eure Herzen! Und tausend Stimmen antworten: Habemus ad Dominum: Wir haben sie beim Herrn!“
Diese Zeilen entstammen einem auf seine Weise fast anrührenden Werk der katholischen Restauration im Frankreich des beginnenden 19. Jahrhunderts. Unter dem Titel „Le génie du Christianisme“ („Geist des Christentums oder Die Schönheiten der christlichen Religion“) veröffentlichte der französische Romantiker François-René de Chateaubriand (1768–1848) am Karfreitag des Jahres 1802 seine Abrechnung mit Aufklärung und Revolution. In der Wiederherstellung des katholischen Glaubens sah er die Heilung für die zerfahrene und aus seiner Sicht orientierungslose Welt, die ihn umgab.
Und es war vor allem die kirchliche Liturgie der vergangenen Jahrhunderte, die ihm hierfür als Arznei geeignet erschien: So entwarf der tapfer-fromme Ritter das Bild eines gloriosen Mysteriums, in dem die katholische Kirche als restaurativer Hort ihrer großen Vergangenheit ihre kultisch-ästhetische Schatztruhe öffnen und so der wahren Gottesbegegnung den Weg bahnen sollte. Chateaubriand belastete sich bei seiner Arbeit nicht mit tiefer gehender theologischer Sachkenntnis. Natürlich „verkündigte“ der Priester am Ende der Gabenbereitung nicht „die Ewigkeit“, sondern er beendete lediglich das still gesprochene Gabengebet mit einem lauten „ … per omnia saecula saeculorum“, was aber dem ästhetisch überhöhten Mysterium des katholischen Kultes keinen Abbruch tat, im Gegenteil!
Kaum jemand, der mit Blick auf die geschichtliche Dimension zwischen vorwärts und rückwärts unterscheiden kann, käme heute auf die Idee, diesem Buch und seinem Autor (den in einem Gespräch zwischen FAZ-Redakteur Lorenz Jäger und Prälat Wilhelm Imkamp in der „Deutschen Tagespost“ vom 23. Dezember 2010 letzterer als „Spitze des literarischen Fortschritts“ im 19. Jahrhundert ansah) mehr als einen historischen Platz zuzuweisen, würden nicht manche seiner Vorstellungen im Kontext aktueller Auseinandersetzungen um die Feier der Messe auf aufschlussreiche wie gleichermaßen krude Weise fröhliche Urständ feiern. Romantisierende Rückbesinnungen auf vermeintlich bessere Zeiten (die nur einen Vorteil haben, nämlich den, dass sie vorbei sind) sind gern benutzte Mechanismen in Krisen- und Entscheidungssituationen.
Längst schon haben manche aus der Wiederzulassung der tridentinischen Messe eine Speerspitze gegen die liturgische Reform des Zweiten Vatikanischen Konzils geschmiedet, egal, ob dies ursprünglich in der Intention Benedikts XVI. lag oder nicht. Und längst schon versuchen vatikanische Behörden, durch sukzessive Beschneidung ursprünglich ortskirchlicher Kompetenzen in Sachen Liturgie ihre Linie durchzupeitschen – koste es was es wolle!
Aus dem Munde der Reformkritiker war und ist oft zu hören, wie sehr die Annäherung (wenn nicht gar Anbiederung) an den Zeitgeist die Kirche und ihre Liturgie verweltlicht und dadurch ihrem Wesen entfremdet habe. Doch in der aktuellen Situation ist klar zu erkennen, dass kaum etwas so sehr dem Zeitgeist verpflichtet ist wie das momentan auszumachende Bestreben, auf die Probleme unserer Zeit mit einem Fluchtaffekt zu reagieren, der schnurstracks in einen romantisierenden Kulturästhetizismus führt. Dahinter verbirgt sich eine Methode, ein Programm – und wenn man es drastischer ausdrücken will: ein anderes Bild von Kirche! Wie sagt Goethe in seinem „Faust“ so treffend?: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln!“