75 Jahre MenschenrechtschartaDie Feststimmung bleibt aus

Es war ein immenser Schritt: Am 10. Dezember 1948 wurde die Charta der Menschenrechte von den Vereinten Nationen verabschiedet. Doch mit der Charta allein ist es nicht getan.

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Kein Zweifel: Menschenrechte werden massenhaft missachtet. Vor allem da, wo es bewaffnete Konflikte gibt, wo strukturelle Gewalt zu offener Gewalt wird. Aber auch Meinungs- und Gewissensfreiheit sind Menschenrechte, das Recht auf Bildung, das Recht auf Entwicklung. Eine Liste guter Wünsche, die sich leider nur in einem kleinen Teil der Welt verwirklichen lässt? Die Menschenrechtscharta, die die Vollversammlung der Vereinten Nationen vor 75 Jahren am 10. Dezember 1948 verabschiedet hat, sieht das anders. Sie folgt der Argumentation der philosophischen Aufklärung und erklärt die Menschenrechte für universal – und das in einer Zeit, in der die Entkolonisierung gerade erst begonnen hatte.

Dass es so etwas wie unveräußerliche Menschenrechte gibt, gehörte wohl schon immer zum Wissen der Menschheit. Alle Religionen dieser Welt haben dieses intuitive Wissen in unterschiedlichen Formen und Graden codiert. Dies beginnt mit ganz elementaren Gewaltverboten: Nicht-Kombattanten sind im Kriegsfall zu schützen, selbst Sklaven haben gewisse Rechte, Kinder müssen angemessen versorgt werden, Arbeiter dürfen nicht unbeschränkt ausgebeutet werden.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte versucht zum ersten Mal in der Geschichte, diese Rechte in 30 Artikeln zu formulieren und ihre Mitgliedsstaaten darauf zu verpflichten, auch wenn es sich bei der Charta formal lediglich um eine Erklärung und nicht um ein Abkommen handelt. Dies geschah vor dem Hintergrund der schlimmen Gewalt gegen Menschen durch Nazi-Deutschland und seine Verbündeten im Zweiten Weltkrieg. Die Menschenrechtscharta wurde bisher in mehr als 460 Sprachen übersetzt – damit ist sie einer der meistübersetzten Texte überhaupt.

Die berühmte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist zwar ursprünglich nicht rechtsverbindlich, gilt jedoch inzwischen als Völkergewohnheitsrecht. Das ist vor allem das Resultat der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993. Darüber hinaus ist sie die Grundlage eines komplexen Vertragswerks von mehreren Abkommen und Protokollen auf der Ebene der Vereinten Nationen, die versuchen, Menschenrechte in internationales Recht einzugießen: Insbesondere bürgerliche und soziale Rechte, sowie – viel diskutiert – das Recht auf Entwicklung. Andere Rechtsfragen bleiben offen. Auf dem Tisch liegt konkret die Forderung nach einem Flüchtlingspakt. Eine andere komplexe Frage ist, ob zukünftige Generationen einen Rechtsanspruch auf eine intakte natürliche Umwelt haben. Das mag alles etwas theoretisch klingen, dient aber nicht nur der Beruhigung des Gewissens, sondern hat praktische Konsequenzen. Autoritäre Staaten wollen im UN-Menschenrechtsrat nicht im Regen stehen.

Alles gut und schön, doch was hat ein Grubenarbeiter im Kongo, der unter lebensgefährlichen Bedingungen Coltan aus der Erde buddelt, das anschließend zur Weiterverarbeitung in die reichen Industrieländer verfrachtet wird, von der Menschenrechtscharta? Was haben die Menschen im Bürgerkriegsland Sudan davon, was die Schneiderin in Bangladesch, die nicht weiß, wie sie das Schulgeld für ihre Kinder aufbringen soll?

Von der Universalität der Menschenrechte

Wie universell sind die Menschenrechte eigentlich? Die Idee der Würde des Menschen – wie sie im deutschen Grundgesetz verankert ist - und der daraus abzuleitenden Rechte ist einerseits tief in der judeo-christlichen Tradition verwurzelt, doch formuliert wurde sie zuerst von den Philosophen der Aufklärung. Die katholische Kirche hat sich lange Zeit schwer damit getan, doch das Zweite Vatikanische Konzil stellte sich insbesondere in der Erklärung „Dignitatis humanae“ klar und mit biblisch-theologischen Argumenten hinter die Menschenrechtscharta, die sie – genau wie das Grundgesetz – von der Würde des Menschen ableitet. Wie genau die Menschenrechte zu begründen sind, ist durchaus umstritten, doch die katholische Theologie besteht auf dem naturrechtlichen Ansatz des Menschenrechtsschutzes: Die Menschenrechtscharta ist aus dieser Sicht nicht einfach ein Übereinkommen mit dem Ziel eines besseren Zusammenlebens der Menschen und Staaten, sondern eine Formulierung natürlicher Rechte, die immer und überall ohne Ausnahme gelten.

Letzteres wird durchaus auch theoretisch in Frage gestellt. Die Kritik richtet sich vor allem gegen die „westlichen Werte“, die der Menschenrechtscharta angeblich zugrunde liegen. Nicht nur aus dem chinesischen Kulturkreis heraus gibt es Stimmen, die das Wohl der Gemeinschaft vor das Wohl des Individuums stellen. Die Volksrepublik China hat 2004 zwar demonstrativ die Menschenrechte in seine Verfassung aufgenommen – doch von einer Gewährung der individuellen Freiheitsrechte kann nach wie vor keine Rede sein. Gelegentlich wird argumentiert, nicht-westliche Kulturen legten mehr Wert auf die die Pflichten und weniger die Rechte des Individuums. Die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ von 1990 gibt der Scharia in zentralen Punkten Vorrang, selbst vor den Kinderrechten und vor dem Recht auf Religionsfreiheit – was aber auch innerislamisch auf Kritik gestoßen ist.

Von afrikanischer Seite wird unter anderem der Kisuaheli-Begriff „ubuntu“ („Menschlichkeit“) als Grundlage für eine afrikanische Basis der Menschenrechtsdebatte ins Feld geführt. Issa G. Shivji (Tansania) setzt allerdings mehr auf Vergemeinschaftung und sieht den Individualismus der Menschenrechtscharta teilweise kritisch. Wie beim konfuzianisch geprägten Denken sehen auch viele afrikanische Denker tendenziell Gemeinschaftlichkeit im Spannungsverhältnis zu einem abendländisch geprägten Individualismus. Manche verweisen dabei auf die kommunikative Basis der Vergemeinschaftung in der Kultur des afrikanischen Palavers.

Für den aus Puerto Rico stammenden und in den USA lehrenden Soziologen Ramón Grossfoguel ist die Formulierung von individuellen Menschenrechte von Anfang an mit einem rassistischen Unterton behaftet. Statt die Beseitigung von gesellschaftlichem Unrecht einzufordern, zielten sie auf die Erhaltung des status quo ab und hätten daher machterhaltende Funktion. Diese Kritik ist durchaus nicht einfach vom Tisch zu wischen. Andererseits ist auch die erstarkende Selbstbehauptung von Diversität identitätspolitischer Entwürfe nicht unproblematisch. Sie richtet den Blick auf Minderheiten, die nach langer Unterdrückung mit Sonderrechten ausgestattet werden müssen, um zu überleben und sich in das größere Ganze einbringen zu können.

Universalität kann überhaupt mehr ein Problem als die Lösung erscheinen: Hat nicht jede Kultur und jede Subkultur ihre eigenen Werte, die geschützt werden müssen? Michel Foucault hat schon vor mehr als einem halben Jahrhundert das Ende von universalistischen Narrativen einläuten wollen, die allesamt „metaphysisch“ und damit von Dominanzstreben motiviert seien. Kritiker haben zurecht darauf hingewiesen, dass diese postmoderne Relativierung nicht zuletzt die Universalität der Menschenrechte unterminiert.

Es braucht einen Weltgerichtshof für Menschenrechte

Einerseits steht die Menschenrechtscharta in der Tat in der Tradition der europäisch geprägten Aufklärung und zumindest indirekt in der jüdisch-christlichen Tradition. Andererseits sind Menschenrechte entweder universal oder es gibt sie nicht. Zurecht wird auf die Beteiligung von bedeutenden nicht-westlichen Denkern wie Peng Chun Chang (1892-1957) und Charles Habib Malik (1906-1987) an der Erarbeitung der Charta von 1948 hingewiesen.

Das Römer Statut und die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag 2002 ist nicht für Menschenrechte, sondern für einige Kernpunkte des Völkerstrafrechts zuständig, unter anderem Genozid. Gewiss wurde 1993 nach dem Ende des Kalten Krieges das Hochkommissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen eingerichtet. In den letzten Jahren werden allerdings die Debatten im Menschenrechtsrat, wo die Debatten über die Länderberichte ausgetragen werden, zunehmend von Koalitionen autoritärer Staaten geprägt, die die Diskussionen um die Länderberichte ausbremsen oder völlig blockieren.

Was fehlt, ist ein Weltgerichtshof für Menschenrechte. An Stelle eines Weltgerichtshofes behilft man sich im Moment mit dem sogenannten Weltrechtsprinzip, das die strafrechtliche Verfolgung von schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen grundsätzlich in jedem Land möglich macht. Ziel muss die Einrichtung eines unabhängigen internationalen Gerichts sein, das sozusagen die letzte Instanz für Menschenrechtsklagen darstellen kann, die sich im eigenen Land nicht durchsetzen lassen – notfalls gegen die jeweiligen Regierungen oder auch gegen transnationale Konzerne.

Doch bis dahin ist noch ein weiter Weg. Der UN-Sicherheitsrat ist spätestens seit dem Krieg in der Ukraine kaum noch handlungsfähig. Im Nahen Osten kocht der Konflikt zwischen dem Iran und seinen Verbündeten und der arabisch-sunnitischen Welt gefährlich hoch, und seit dem 7. Oktober starrt die Welt gebannt auf den Konflikt zwischen Israel und der Hamas. Am Horn von Afrika entwickelt sich die nächste Hungerkatastrophe. Die Sorge um die menschengemachte Klimaveränderung droht von den aktuellen Problemlagen ganz in den Hintergrund gedrängt zu werden. Und die Sorge um die Lage der Menschenrechte in großen Teilen dieser Welt gleich mit. Ein Tag zum Feiern ist der 75 Jahrestag der Verabschiedung der Menschenrechtscharta durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen wahrlich nicht.

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