Antworten zu einer Replik von Matthias Sellmann auf „Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt“ Auf das Vorzeichen kommt es an

Die Theologie wird durch die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft herausgefordert. Die Suche nach einer Rezeptur treibt nicht zuletzt die Pastoraltheologie um: Kontexte und Antworten zu einer Replik von Matthias Sellmann.

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Matthias Sellmann hat über die akademische Gepflogenheit von Rezensionen hinaus an prominentem Ort eine Replik auf mein Buch „Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt“ verfasst, die dazu angetan ist, ein neues pastoraltheologisches Diskursfeld aufzutun (vgl. HK, Oktober 2024, 46–49). Besseres kann einer akademischen beziehungsweise universitären Disziplin wie der Pastoraltheologie, die sich seit jeher im Spannungsfeld zwischen Kirche, Universität und Gegenwartskultur bewegt, nicht passieren. Auch für ein kleines, insbesondere für Engagierte im Haupt- und Ehrenamt geschriebenes Buch ist dies mehr als ein Glücksfall. Matthias Sellmann bittet dabei um Klärung für ihn offener Punkte, die jedoch nicht in erster Linie die Hauptthesen des Bandes betreffen, sondern einzelne Schlussfolgerungen. Dem komme ich in kollegialer Verbundenheit gerne nach.

Matthias Sellmann und mich verbindet, dass wir Pastoraltheologie unter anderem von der Praxis her letztlich für die Praxis treiben möchten. Die übergroßen Passungsprobleme kirchlichen Lebens und Handelns mit heutigen Lebenswelten wahrzunehmen und zu bearbeiten, prägt unsere Arbeit. Daher bin ich dankbar für seinen qualifizierten Zwischenruf, in dem ich vieles von dem wiedererkenne, was meine Perspektive auf gegenwärtige Wirklichkeiten bestimmt.

Insbesondere daher ist mir der Entstehungshintergrund des Buches wichtig. Dieser ist in erster Linie biographisch zu verstehen, deshalb beginnt der Band nicht mit einem Forschungsstand, sondern mit Erinnerungen an die eigene Ausbildungszeit als Seelsorger. Hier wurden nämlich für mich  und ich vermute für viele andere  jene Prämissen weitergegeben, die nicht mehr (?) stimmen: Wenn Ihr Euch nur genug in der Gemeindearbeit hingebt, dann wird die Pastoral erfolgreich. Wenn Ihr nur immer und genug an der Subjektwerdung der Gemeinde arbeitet, dann ist das Reich Gottes fast schon da. Auch der Kommentar eines älteren Kollegen, wie: „Lass mich den Gottesdienst mal feiern, dann ist der auch wieder voll“, gehören in dieses Repertoire. Der nagende Zweifel an solchen vermeintlichen Richtigkeiten ist eine wichtige Motivation für mein eigenes wissenschaftliches Arbeiten. Gleichzeitig wäre es unfair, nicht auch die hohe Qualität der pastoralen Ausbildung zu würdigen. Jene Prämissen lagen seinerzeit Ende des 20. Jahrhunderts einfach in der Luft.

Daher ist mit dem Buch nicht in erster Linie der wissenschaftliche Diskurs adressiert (er wird  entsprechend nicht aufgerufen), sondern unhinterfragte pastorale „Dogmen“. Im Band ist bewusst der Begriff der „Optimierung“ (und gerade nicht jener im Diskurs gebräuchlich der „Innovation“) leitend, der derzeitigen soziologischen Arbeiten entlehnt ist (etwa: Anja Röcke, Soziologie der Selbstoptimierung, Berlin 2021). Dies vorausschickend gehe ich auf die Punkte von Matthias Sellmann ein.

Das Duo von Optimierung und Transformation

Matthias Sellmann hat Recht: So ganz will ich die Optimierung, oder anders, die Frage nach „Qualität in der Seelsorge" nicht verabschieden. Und zwar zunächst aufgrund der eigenen Erfahrung in der Pastoral: Jede Seelsorgerin und jeder Seelsorger wird aus der eigenen Praxis bestätigen können, dass sich Menschen auch nach Jahrzehnten an einen Besuch, eine für sie hilfreiche Predigt oder Begegnungen im Kontext von Kasual- oder Sakramentenpastoral wertschätzend (aber auch an das Gegenteil!) erinnern, oft Dinge, von denen man selbst gar nichts mehr weiß. Ein desillusioniertes „Es bringt ja alles sowieso nichts“ wäre hier also kontraproduktiv und schlichtweg falsch. Doch, es „bringt" was, jedoch außerhalb unserer Kategorien von Sicht- und Messbarkeit oder Wirksamkeit. Wenn wir am sakramentalen Wesen der Kirche und damit von Seelsorge festhalten wollen, dann ist es immer auch Gott, der durch Seelsorgende vieldimensional wirkt – allerdings so, wie er will, und oft gerade nicht, wie wir es gerne hätten. Optimierung birgt immer auch die Gefahr, diese Dimension unterzubetonen. Gerade dieser Gedanke, besonders aber die seelsorglich immer wieder erlebte Realität tatsächlicher Unverfügbarkeiten, hält mich von der Entwicklung einer objektiven beziehungsweise engeren Kriteriologie ab.

Vor allem aber will das Duo von Optimierung und Transformation in erster Linie die Frage stellen, mit welchem Vorzeichen vor der Klammer wir künftig Pastoral denken und gestalten wollen. Mir geht es bei dem Doppel von Transformation und Optimierung um folgende Unterscheidung: Es hat für Theoriebildung, Praxis und besonders für den pastoralen Habitus völlig unterschiedliche Konsequenzen, ob man innerhalb einer als gegeben akzeptierten Transformation (hier verstanden als eine wenig zu beeinflussende Säkularisierung) optimiert oder ob die Optimierung als – womöglich einziges und universell wirkmächtiges  Mittel verstanden wird, um die Transformation zu bearbeiten, ansatzweise zu steuern oder sogar gänzlich rückgängig zu machen. Armin Nassehi macht diese Unterscheidung ebenfalls in seinem neuesten Buch auf, das leider erst nach Erscheinen meines Bandes auf den Markt kam (vgl. Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken, München 2024). Er spricht von Transformation und Steuerung.

Transformation möchte Nassehi dabei reflexiv verstanden wissen: Die Gesellschaft transformiert sich; Steuerung hingegen suggeriert mehr Kausalität und wirksame Beeinflussung der gesellschaftlichen Transformation(en), als sie tatsächlich besitzt. Stattdessen bringt Nassehi die „kleinen Schritte“ ins Spiel: „Kleine Schritte sind solche, die in konkrete Situationen passen.“ Wenn man also auf den großen Konzeptentwurf oder Kriterienkatalog verzichtet, heißt das nicht, in Lethargie oder Passivität zu fallen. Gewählte Konzeptlosigkeit bedeutet daher nicht Planlosigkeit!

Ermutigung für kleine Schritte

Außerdem herrscht nach allem, was sich wahrnehmen lässt, in vielen pastoralen Vollzügen mittlerweile eine gewisse Konzeptmüdigkeit: Schon wieder ein neuer Pastoralprozess, obwohl der letzte ja noch nicht abgeschlossen ist oder zumindest vordergründig fast keinerlei Effekt hatte. Dies verstärkt bei vielen Seelsorgenden den Eindruck, dass zu hohe konzeptionelle Vorgaben und Erwartungen vor allem mehr Arbeit und Aufwand mit sich bringen. Dem will meine Auslassung an dieser Stelle absichtlich Rechnung tragen. Sie will ermutigen, seelsorgliche Kompetenzen in Einzelnen unter neuen Vorzeichen im Sinne von Nassehis „kleinen Schritten“ zu aktivieren. Insbesondere will sie jedoch entlasten und dadurch bestenfalls neue Kreativitäten freisetzen oder Freiräume ermöglichen.

Gleichzeitig sehe ich deutlich, dass es tools etwa der Evaluation und des Qualitätsmanagements für die Seelsorge braucht. Die Frage ist allerdings wiederum, unter welchem Vorzeichen. Zudem: Pastorale Orte, Gelegenheiten, (Nicht-)Notwendigkeiten sind so komplex, dass Seelsorgende am besten wissen, was dran und passend ist. Mein Buch wollte daher Koordinaten und Rahmen beschreiben, bei denen jede und jeder frei ist, sie für das eigene Arbeiten als hilfreich  oder auch nicht  zu betrachten. Vergleichbares gilt für strategische Entscheidungen, die es auf unterschiedlichen Ebenen braucht. Aber vielleicht kann es auch diese Prozesse entlasten, wenn sie mit einem realistischen, das heißt empirisch basierten Erwartungsmanagement oder Vorzeichen verbunden werden.

Eine andere Rückfrage von Matthias Sellmann bezieht sich auf die von mir deutlich eingeforderte Notwendigkeit von unter anderem strukturellen Verbesserungen bei Themen wie Missbrauchsaufarbeitung und Prävention. Dieser Einwand lässt sich leicht beantworten. Aus einschlägigen Studien ist bekannt und erprobt, was hier wie verändert und daher verbessert werden muss, damit es systemische Wirksamkeit erhält. Dies verhält sich jedoch bei pastoralen Optimierungen aufs Ganze gesehen nachweislich anders.

Zur kooperativen Verbindung von Kirche und Staat

Ein weiterer Einwand thematisiert die kooperative Verbindung von Kirche und Staat in Deutschland. Vor dem Hintergrund der analysierten Daten geht es mir beim Nachdenken über diese Konstellation in keiner Weise um eine aus welchen Gründen auch immer „anzustrebende (neue) Zielvorstellung“, sondern um ein prospektives Befassen mit Realitäten, wie sie schon bald ins Haus stehen könnten. Zugleich zeigt mir gerade die Situation einer populistischen Regierung in den Niederlanden, wie faktisch volatil Kooperationen mittel- bis langfristig werden könnten. Vor diesem Hintergrund ist es mir wichtig aufzuzeigen, dass Modelle nicht alternativlos sind und wie angesichts der schnellen Verschiebungen auf dem religiösen und (!) politischen Feld – dies ist mir vor allem wichtig – vermutlich irgendwann ein sich inklusiv verstehendes Christentum darin eine neue Rolle wird finden müssen. Schon heute zeigen die Diskussionen um Ablösung der Staatsleistungen, wie wenig diese noch auf allgemeines Verständnis stoßen. Da sollte es die Aufgabe eines akademisch arbeitenden Faches wie der Pastoraltheologie sein, Szenarien vorzudenken und theologisch möglichst tief zu durchdringen. Insgesamt wollte der Band allerdings gerade im vorletzten Teil nicht mehr als Schneisen schlagen, die andernorts reflexiv vertieft aufgegriffen werden können (vgl. 19).

In diesem Sinne kann und muss man sicherlich auch die Bedeutung der „institutionellen Trägerstrukturen“ für eine nachhaltige Glaubenskommunikation empirisch zur Kenntnis nehmen und so weit es – in Zeiten schwindender Ressourcen – möglich ist, ideell wie materiell unterstützen. Das relativiert allerdings nicht, dass der Großtrend innerhalb der deutschen und anderen Gesellschaften ein säkularisierender ist, dessen Konsequenzen man sich ungeschönt stellen sollte.

Keine Relativierung des christlichen Universalismusanspruchs 

Ein nächster Punkt adressiert den christlichen Universalismus. Hier möchte ich deutlich unterstreichen, dass ich diesen in keiner Weise relativiert habe. Das entsprechende Kapitel im Band lautet: „Freilassen: Den christlichen Universalismus neu (!) denken“ (106108). Es stellt sich jedoch die wesentliche Frage, wie man diesen einerseits – sozusagen ad intra – aufrechterhalten kann, ohne dass er sich ad extra als intolerant, übergriffig oder besserwisserisch formatiert.

Erwähnt werden zwei konkrete Denkangebote. Einmal mit Christoph Markschies die Vision der vorkonstantischen Zeit, dass nicht alle Christen werden müssen, aber überall im römischen Reich Christen leben sollten, um damit an allen Orten das Evangelium als Option oder Samenkorn in Wort und Tat vergegenwärtigen zu können. Diese Vorstellung, die auch der paulinischen Missionstheologie zugrunde liegt, ist keine Relativierung, sondern sollte ebenfalls eine entlastende Funktion haben und aufzeigen, dass hinter dem Begriff des Universalismus auch anderes entdeckt werden kann, als wir landläufig, also „konstantinisch geprägt", denken. Ein weiterer Hinweis stammt aus der Liturgie des Karfreitags, wo in den Fürbitten die Weise der Erlösung, wie Gott sie konkret schenkt, im Falle des Volkes des ersten Bundes ihm überlassen wird. Mein Vorschlag bezieht sich darauf, dies auch auf Menschen hin, die Gott nicht kennen oder für sich brauchen, weiter zu denken. Das meint mitnichten, den Universalismus zu verabschieden, sondern ihn und seine Konkretion dem Ratschluss Gottes anzuvertrauen. Schließlich könnte eine Relativierung des christlichen Universalismus einen Heilspartikularismus implizieren, den ich für gefährlich halte. Die Konsequenz wäre – neben anderem  ein „legalistischer Rückzugskatholizismus“ (vgl. 148).

Ein Einwand am Rande betrifft die Methode quantitativer Sozialforschung bei der Feststellung säkularer Existenzformen. Dieses Argument ist so alt wie die klassische Säkularisierungstheorie. In der Sellmann`schen Fassung wirkt es fast zirkulär: Menschen können Items nicht dechiffrieren, weil die hinter ihnen liegenden religiösen Codes den Befragten semantisch bereits völlig fremd sind. Wenn dem so wäre, würde das nur die Tatsache durch und durch säkularer Lebensentwürfe bestätigen: Denn sie verstehen diese Codes nicht, weil sie ihnen schon sehr oder zu lange buchstäblich nichts mehr sagen. Bei der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (vgl. HK, Dezember 2023, 13–16) wurden allerdings gerade die religiösen Items eigens in Testbefragungen erprobt und es kamen nur diejenigen in den Fragebogen, die auch eine Resonanz bei Befragten auslösten, also nach den Regeln empirischer Sozialforschung funktionierten.

Bleibende Leerstellen 

Bei all dem bleiben natürlich in meinem Buch Leerstellen: Was etwa bedeutet eine immer religionslosere Gesellschaft für deren künftiges wertebasiertes Zusammenleben? Welche Konsequenzen wären aus den erhobenen Befunden religionspädagogisch zu ziehen? Hier wie an anderen Stellen ergeben sich interessante inner- wie außertheologische Kooperationsoptionen für die Pastoraltheologie, die ganz auf der Linie eines von Matthias Sellmann stark gemachten „gemeinwohlorientierten Pastoralverständnisses“ liegen könnten. Die große Herausforderung wird allerdings darin bestehen, wie sich ein solches Verständnis wiederum inmitten schwindender Ressourcen und jenseits identitär-kirchlicher Versuchbarkeiten in der Realität ausbuchstabieren wird.

In allem Ringen um Argumente und Positionen möchte ich am Schluss festhalten: Matthias Sellmann lässt sich in seiner Reaktion auf meine Überlegungen von der Leidenschaft für die gemeinsame Sache einer zukunftsfähigen und zugleich illusionslosen seelsorglichen Praxis leiten. Wenn uns auch dies in Zukunft antreibt, ist mir um die Zukunft der Pastoraltheologie nicht bange.

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