Es vollzog sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so scheint mir, ein Wandel im Verständnis der kirchlichen Ämter. Dieser Wandel lässt sich am besten in der Wahrnehmung des Papstamtes erkennen: Was weiß der durchschnittliche, christlich geprägte Bürger respektive Bürgerin von Paul VI.? Fast nichts. Sie kennen, wenn sie theologisch interessiert sind, die „Pillenenzyklika“, ordnen diesen Papst als theologisch konservativ ein – aber sonst wissen sie nichts, nichts über seine Herkunft, seine theologische Prägung; die Durchschnittskatholikin oder gar der Durchschnittsbürger wird nicht einmal seinen bürgerlichen Namen kennen, und das war auch zu seinen Lebzeiten so. Ähnliches würde für seinen Vorgänger, Pius XI., gelten, wenn sich um seine Haltung gegenüber dem Dritten Reich und dem italienischen Faschismus nicht eine Debatte mit Auswirkungen bis in die Tagespresse hinein entsponnen hätte. Über diese Päpste wussten bereits die Zeitgenossen Weniges über die Amtswirklichkeit hinaus, das gilt – um die Päpste davor in chronologisch absteigender Folge zu nennen: für Pius X. ebenso wie Benedikt XV. und für Leo XIII. Und das gilt sogar für Pius IX., der das Verständnis des Papstamtes und den Ort der katholischen Kirche in der modernen Welt zutiefst geprägt hat. Für alle Genannten gilt: die Person trat hinter dem Amt zurück.
Dies Zurücktreten der Person hinter das Amt ist in der Institution angelegt. Erkennbar ist das bereits in der Wahl eines neuen Namens in dem Moment, in dem der Gewählte die Wahl akzeptiert: von diesem Zeitpunkt an ist der bisherige Bischof oder Kardinal „der Papst“. Aus dem Träger des bürgerlichen Namens Karól Wojtyła beispielsweise wird Johannes Paul II. Die Wahl dieser Namen ist eingeschränkt durch die Reihe der bisherigen Päpste oder prägenden Gestalten der Kirchengeschichte. Die Amtsinhaber wählen Apostelnamen oder die Namen von Amtsträgern, deren Amtsführung der jeweilige Papst als vorbildlich betrachtet – so nimmt Johannes-Paul II. den Namen seines nach sehr kurzer Amtszeit verstorbenen Vorgängers auf, der seinerseits die Namen und Programme seiner beiden Vorgänger – Paul VI. und Johannes XXIII. – vereinte. Benedikt XVI. bezieht sich mit seiner Namenswahl ausdrücklich auf das Friedensengagement von Benedikt XV., der von 1914 bis 1922 das Amt innehatte. Die mit dem Amtsnamen verbundenen Anliegen früherer Amtsinhaber werden mit der Namenswahl zum Programm des gegenwärtigen Papstes. Die Anliegen werden aber gerade damit der Amtsrolle zugeschrieben und durch sie legitimiert, nicht als individuelle Vorlieben in das Amt eingetragen.
Auch Benedikt XVI. führte das Amt als individuelle Person
Dieses Zurücktreten der Person hinter das Amt löste sich seit den Fünfzigerjahren Schritt für Schritt auf. Selbstverständlich war der Papst immer schon für andere Menschen die Projektionsfläche von Anliegen und Wünschen, für die er jeweils angeblich oder tatsächlich steht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschieht aber etwas anderes: mit Ernst Kantorowiczs berühmter Unterscheidung zu sprechen: auch in der individuellen Wahrnehmung des Amtes durch den Amtsträger tritt der natürliche Körper des Papstes, die individuelle, sterbliche Person des Amtsinhabers zunehmend hinter seinem Amtskörper hervor. Das hat schwerwiegende Folgen, mit Max Weber: an die Stelle der bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Legitimation der päpstlichen Autorität durch das Amt, das im kirchlichen Recht und im Herkommen begründet ist, tritt nun die Legitimation der päpstlichen Autorität durch das Charisma einer Person. Das war ganz deutlich bei Johannes XXIII., dem Papst, der nicht umsonst die Versöhnung der Kirche mit der „Welt von heute“ auf seine Fahnen geschrieben hatte und in der Tat als eine Art Medienstar auftrat; er war nicht zufällig auch ein Zeitgenosse John F. Kennedys. Das war noch deutlicher bei Johannes Paul II., der durch seine Auslandsreisen nicht einfach durch die amtliche, sondern durch die persönliche Ausstrahlung den zentrifugalen Tendenzen der Weltkirche zu begegnen versuchte; Johannes Paul II. wirkte zudem nicht nur durch amtliche Texte, sondern beispielsweise durch Bilder, die ihn beim Babyküssen und beim Skifahren zeigten, und er wirkte am Ende durch sein individuelles Sterben, mit dem er das Zeugnis der Kirche von der Würde des menschlichen Lebens bis zum Ende unterstrich: das war der bisherige Höhepunkt der Begründung des Amtes und seiner Botschaft durch den, wie Kantorowicz sagt: sterblichen Körper des Amtsträgers. Das manifestiert sich in seinen letzten amtsoffiziellen Auftritten; das manifestiert sich in seinen noch zu Lebzeiten (2003) erschienen Buch: es trägt im Deutschen den Haupttitel „Ich bin ganz in Gottes Hand“ und den bezeichnenden Untertitel: „Persönliche Notizen“. Als Autor wird auf dem Buchcover der deutschen Ausgabe sowohl Karól Wojtyła als auch – in faksimilierter handschriftlicher, also höchstpersönlicher Unterschrift – Johannes Paul II. genannt. Entsprechend ist auf dem Titelcover der Autor in päpstlicher Montur, aber erkennbar als nachdenklich versunkenes Individuum abgebildet. Eine beeindruckende Manifestation des Willens zur Verbindung von Amt und individueller Person – aber: das geht immer zu Lasten der Amtsperson.
Auch Benedikt XVI. führte das Amt als individuelle Person: sein Selbstverständnis als Professor fand mit der Übernahme des Papstamtes nicht etwa ein Ende und verschwand nicht hinter der Amtsperson, sondern er erhob den Anspruch, als Papst individueller Wissenschaftler sein zu können. Er wirkte nicht nur durch amtliche Verlautbarungen, sondern hielt als Papst explizit akademische Vorlesungen in Hörsälen deutscher Universitäten. Er veröffentlichte darüber hinaus als Papst ein explizit wissenschaftliches Werk zum Leben Jesu, in dem er als Autor ebenfalls unter seinen beiden Namen, dem amtlichen und dem bürgerlichen, firmierte; wenn man dem nachdenkt, ist das eine hochproblematische Wahrnehmung eines professoralen, ausdrücklich der akademischen Diskussion ausgesetzten Lehramtes durch den Inhaber der höchsten, ex cathedra infalliblen Lehrautorität in der katholischen Kirche. Dass diese Verbindung von professoraler Lehre und amtlicher Lehrautorität schief gehen kann, konnte man in den Auseinandersetzungen um die „Regensburger Rede“ beobachten.
Franziskus: Ein Papst wählt den Namen eines mittelalterlichen Charismatikers
Und ganz deutlich ist der Anspruch einer Verbindung von Amt und persönlichem Charisma beim gegenwärtigen Papst, der schon bei der Namenswahl mit der Tradition brach und nun ausgerechnet den Namen eines mittelalterlichen Charismatikers wählte, der hoch zu ehren ist, in seiner Biographie und Wirkungsgeschichte aber das absolute Gegenteil einer Amtsautorität und ein Kritiker der Amtskirche war oder jedenfalls in der gegenwärtigen Rezeption so erscheint. Man kann darin den Anspruch lesen, persönliches Charisma und Amtsautorität zu verbinden. Ob das gut gehen wird, ist noch offen; jedenfalls wird die Führung des Papstamtes durch Franziskus an genau dem Punkt – zu Recht oder zu Unrecht – als problematisch wahrgenommen, an dem er durch persönliches Charisma zu wirken versucht: mit Interviews, überraschenden Anrufen, jovialen Pressekontakten im Flugzeug und offenbar unabgesprochenen öffentlichen Statements.
Selbstverständlich ist dies Hervortreten der Person und der Versuch, das Amt des Papstes auf das persönliche Charisma zu stützen, den Gesetzen der Mediengesellschaft geschuldet. Gewiss gewinnt, wenn es gut geht, das Amt dadurch zunächst einmal an Akzeptanz. Allerdings kann das auch gewaltig schiefgehen. Und es gilt eben ganz abgesehen vom Gelingen oder Misslingen des Experiments im Einzelfall: Wenn diese Bühne einmal betreten ist, muss sie weiter bedient werden. Jeder künftige Papst wird immer auch am Kriterium des persönlichen Charismas gemessen werden, und der für alle Amtsträger gleiche Amtscharakter – um diesen sakramentalen Ausdruck einmal aufzunehmen – wird in der öffentlichen Wahrnehmung als unzureichend empfunden. Wer das Amt auf das persönliche Charisma begründet, ruiniert das Amt. Nicht umsonst gibt es traditionell eigentlich nur zwei institutionelle Orte, an dem die individuelle Person des Papstes kirchlich eine Rolle spielt, und beide sind der Öffentlichkeit entzogen: die Beichte des Papstes. Und das Verfahren der Selig- und Heiligsprechung nach seinem Ableben.
Darüber hinaus wäre es zutiefst naiv, wenn man glauben würde, dass diese Begründung des Amtes durch die Person im Falle des Papstamtes die öffentliche Wahrnehmung der folgenden hierarchischen Stufen unberührt lassen würde. Wenn der Papst als Charismatiker wirkt, wird das zur Anforderung für die Wahrnehmung des Bischofsamtes auf allen Stufen der Hierarchie. Dann werden die Bischöfe nolens volens wahrgenommen als Träger einer progressiven oder konservativen Agenda, als Repräsentanten bestimmter (kirchen)politischer Ansichten oder im Blick auf individuelle Eigenheiten oder ihre mehr oder weniger interessante Biographie.
Dieser Ansatz, das Amt und seine Autorität auf die Persönlichkeit des Trägers zu stützen, ist jedenfalls im Falle des Papstamtes, aber auch im Falle des bischöflichen Amtes insgesamt theologisch verfehlt. Das ist natürlich eine kühne These, wenn sie aus dem Mund eines liberalen protestantischen Theologen kommt – aber ein freundlich gesonnener Blick von außen, der versucht, die Perspektive und die Stärke einer katholischen Amtstheologie zu verstehen und im Rahmen seiner Möglichkeiten verständlich zu machen, scheint mir doch als zugeneigt fragender Beitrag hilfreich zu sein.
Der Schauspieler darf nicht sich selbst spielen
Es war Papst Leo I., genannt „der Große“ (Papst 440-461), der in den überlieferten Ansprachen zu seinen Amtsjubiläen immer wieder darauf hingewiesen hat, dass nicht er selbst, sondern dass in seiner Person der Apostel Petrus in der Kirche gegenwärtig ist und regiert, und zwar so, dass in ihm immer die Situation gegenwärtig ist, in der das Papstamt – nach römisch-katholischem Verständnis – begründet ist: die Situation des Bekenntnisses von Caesarea. Nach dem Zeugnis des Matthäus stellt Jesus die Frage: „Wer sagt ihr, dass ich sei?“ Und der Apostel Petrus beantwortet sie für alle Apostel mit dem Bekenntnis: „Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn.“ (Matthäus 16,16) Und daraufhin wird Petrus, so berichtet Matthäus weiter, von Jesus als der Fels (griechisch pétra), auf dem die Kirche erbaut ist, bezeichnet und ihm wird die Binde- und Lösegewalt übertragen – im Petersdom zu Rom sind diese Bibelverse mit der Einsetzung des Petrusdienstes im Architrav über den Säulen umlaufend präsentiert. Wenn man das als die Stiftungserzählung des Papstamtes ernst nimmt, dann muss man eben sagen, dass der jeweilige Amtsinhaber nicht für sich selbst steht und nicht durch sein individuelles Charisma wirkt, sondern dass er eine Rolle – die des Petrus – und eine Amtsfunktion übernimmt, denen seine gesamte Person zu dienen hat. Wie eine Schauspielrolle kann dieses Amt besser oder schlechter dargestellt werden – aber es darf niemals dazu kommen, dass der Schauspieler nicht mehr einen anderen, sondern sich selbst spielt. Wenn das Amt die Person „trägt“, dann wird nicht die Person, sondern das Amt groß und wirksam – wie zur Zeit Leos I., der auf dem Höhepunkt des wesentlich oströmischen Streites um das Verständnis der Person Jesu mit einem Lehrschreiben an den Patriarchen von Konstantinopel 449 entscheidend und klärend in diese Auseinandersetzung eingriff und genau darin die begründende Situation des Petrusbekenntnisses in seiner Zeit vergegenwärtigte.
Und das gilt selbstverständlich auch für alle Bischöfe neben dem Papst, die nicht theologisierende oder persönlich gewinnende Individuen sind, sich so nicht verstehen und so nicht wahrgenommen werden sollten. Vielmehr sind sie in der jeweiligen Gegenwart und für die jeweilige Diözese Repräsentanten des Jüngerkreises um Jesus von Nazareth, auf den sie durch die Reihe der Handauflegungen zurückgehen.
Mir als (liberalem) Protestanten scheint, dass sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dies Verhältnis von Amt und Person in der oben skizzierten Weise verschoben hat zugunsten einer Begründung der Amtsautorität auf die individuelle Person und ihr Charisma oder ihre intellektuellen Fähigkeiten. Dieses Problem der Wahrnehmung des Papstamtes hat Folgen, weil es sich, wie gesagt, auch auf den anderen Ebenen der Ämterhierarchie darstellt. Die römisch-katholische Kirche lässt sich gerade in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um den Umgang mit den Missbrauchsskandalen und um die Funktion des Amtes in der Kirche das Gesetz der Mediengesellschaft aufdrängen, nach dem Ämter personalisiert werden und die Wahrnehmung eines Amtes auf die Vorlieben und Einstellungen des individuellen Amtsinhabers gestützt werden. Dann gelten einzelne Bischöfe oder Kurienkardinäle in ihrer individuellen Prägung als konservativ oder progressiv, und es besteht die Erwartung, dass sich diese individuelle persönliche oder theologische Prägung auch in ihren amtlichen Entscheidungen niederschlägt. Es werden aus der Außenperspektive Vermutungen über die individuelle Zugehörigkeit der Amtsträger zu theologischen Richtungen oder kirchenpolitischen Parteiungen angestellt, die ihren Grund darin haben, dass sich die Amtsträger genau so darstellen: als individuelle Persönlichkeiten.
Das ist übrigens eine Zumutung, der sich im staatlichen Bereich beispielsweise Inhaberinnen von Richterämtern oder Verwaltungspersonen immer wieder erwehren müssen; und dies tun sie unter Hinweis auf die Bindung ihrer Entscheidungen durch das überindividuelle Recht, hinter dem persönliche Vorlieben zurücktreten müssen. Die Einsicht, dass ein Amtsträger auch in der kirchlichen Hierarchie nicht für sich selbst steht, sondern eine Rolle spielt, die ein Teil des großen Baumes der Kirche und der Gemeinschaft der Bischöfe ist, die auf den Apostelkreis um Jesus Christus zurückgeht und diesen Jüngerkreis in der Gegenwart repräsentiert, geht nach meinem Eindruck immer weiter verloren. Das ist einer der Gründe dafür, dass kirchliche Amtsträger in der Öffentlichkeit zunehmend als Personen mit Sympathiewerten wahrgenommen und daraufhin abgelehnt oder akzeptiert werden.
Wenn die Person das Amt dominiert
Spätestens jetzt aber ist einzuräumen: Person und Amt sind nie fein säuberlich getrennt; soweit ist die hier vorgenommene Zuordnung natürlich holzschnittartig. Eine Amtsrolle kann mehr oder weniger angemessen wahrgenommen werden – das ist auch eine Frage der persönlichen Befähigung. Und vor allem kann ein Amtsträger sich persönlich in der Tat so verhalten, dass er ohne Schaden für das Amt für seine Amtsrolle nicht mehr infrage kommt. Es ist daher selbstverständlich legitim, die Frage zu stellen, ob ein Bischof sich im Umgang mit dem Missbrauchsskandal angemessen verhalten hat. Wenn man diese Frage aber sachgerecht stellt, dann muss man sie als die Frage stellen, ob er in diesem Umgang mit den Missbrauchsfällen seiner Amtsrolle gerecht geworden ist. Der Hintergrund der Kritik kann nicht die Frage sein, ob die individuellen kirchenpolitischen Einstellungen des Amtsträgers gefallen und der Amtsträger in Umfragen positiv abschneidet – da entscheiden persönliche Sympathiewerte. Die Frage kann mit Bezug auf alle Inhaber des Bischofsamtes nur die sein, ob seine Person samt ihren kirchenpolitischen Einstellungen hinter der Amtsrolle verschwindet, oder ob die Person die Rolle – gewollt oder ungewollt – dominiert. Das amtsschädigende Dominieren der Person kann in mindestens zwei Weisen geschehen: Wenn der Amtsträger das persönliche Charisma in den Vordergrund stellt und darauf die Akzeptanz des Amtes gründet, dominiert die Person das Amt; und wenn der Amtsträger durch tatsächliches individuelles Verhalten die „Würde des Amtes“ beschädigt – auch dann dominiert die Person das Amt, und die Person kommt für die Amtsrolle darum möglicherweise nicht mehr infrage.
Diese Frage der persönlichen Eignung für das Amt stellt sich vor der Berufung und sollte da geklärt werden; und sie kann in der und durch die Amtsführung aufbrechen. Im regulären Verhalten hat aber ein Amtsträger zu vermitteln, dass er ein überindividuelles Amt und die Gemeinschaft der Apostel repräsentiert und dahinter als Person zurücktritt; und genau dies zu akzeptieren und zu respektieren muss von jedem Katholiken und jeder Katholikin, wenn er oder sie denn recht beraten ist, erwartet werden, und zwar so lange, wie der Inhaber eines geistlichen Amtes nicht in der (im Falle eines Bischofs) einzig zulässigen Weise – nämlich durch den Papst – von der Wahrnehmung der Amtsrolle gelöst wurde. Denn das Amt wird auch dann beschädigt, wenn diese päpstliche Aufgabe von anderen Personen usurpiert und dem Amtsträger öffentlich der Respekt entzogen wird. Zur Größe der katholischen Kirche gehört dieses Amtsverständnis.
Eine solche steile Amtstheologie weckt Fragen: Natürlich zum einen die Frage, ob nicht genau diese Theologie ein entscheidender Auslöser für die Missbrauchstaten war – wie in der MGH-Studie diagnostiziert wird: „Klerikalismus meint ein hierarchisch-autoritäres System, das auf Seiten des Priesters zu einer Haltung führen kann, nicht geweihte Personen in Interaktionen zu dominieren, weil er qua Amt und Weihe eine übergeordnete Position innehat. Sexueller Missbrauch ist ein extremer Auswuchs dieser Dominanz.“ Meine Gegenfrage: ist das so? Ist der sexuelle Missbrauch nicht vielmehr der Versuch, aus der Autorität des Amtes Vorteile für die individuelle Person zu ziehen, also genau die Folge der Vorordnung der Person vor das Amt? Ist, wenn das so ist, die Abhilfe wirklich der Verzicht auf die Autorität der Amtsrolle und die Begründung der Amtsfunktionen auf die Qualitäten der Person? Oder wäre die Abhilfe nicht vielmehr die klare Unterscheidung von Amt und Person und die Einschärfung der Anforderungen und des Verzichts, die die Amtsrolle der Person auferlegt?
Der Ort für das Charisma in der Kirche
Nun mag man – zweite Frage – einwenden: wir leben aber doch nun einmal in einer Mediengesellschaft, und die Wahrnehmung der Kirche hängt wesentlich am Charisma von Personen. Das ist selbstverständlich zutreffend. Aber der Ort, an dem das individuelle Charisma eine Rolle spielen darf und muss, ist – wenn ich das Amtsverständnis der katholischen Kirche richtig verstanden habe – auf keiner hierarchischen Ebene der Kirche das Weiheamt. Das bedeutet mitnichten, dass es in der Kirche keine Orte gäbe, wo das persönliche Charisma entscheidend ist und nach Innen und Außen wirken darf. Der Ort des Charismas ist, mit der Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils zu sprechen, der Apostolat der Laien, vor allem aber und häufig vergessen: die Nonnen und Mönche, also die Institutionen des geweihten Lebens, soweit die Wirksamkeit „in der Welt“ zu ihren Aufgaben gehört. Es ist in der Tat so, dass es über die gesamte Kirchengeschichte hin Spannungen zwischen dem hierarchischen Amt einerseits und den Orden beziehungsweise Kongregationen andererseits gegeben hat, und dass die Gemeinschaften des geistlichen Lebens immer wieder Motor der geistlichen Erneuerung waren – und zwar im Ausgang von charismatischen Gestalten und Reformatoren (ich als Protestant würde natürlich den Augustinermönch Luther dazu zählen). Es gibt nach meinem Eindruck auch in der Gegenwart Klöster, geistliche Gemeinschaften und individuelle Persönlichkeiten, die diese Aufgabe einer charismatisch begründeten Wirksamkeit in die Gesellschaft hinein wahrnehmen; und es gibt selbstverständlich auch Laiengemeinschaften, einzelne Persönlichkeiten und repräsentative Laienorganisationen, die als überzeugende Persönlichkeiten für die Kirche stehen und wirksam sind.
Das Verhältnis und die Unterscheidung beider Aspekte der Kirche – der amtlichen und der persönlichen Wirksamkeit – scheint mir in der Gegenwart verlorenzugehen: die Amtsträger wollen Charismatiker sein, und die Charismatiker Amtsträger; und genau so werden sie in den gesellschaftlichen Diskussionen wahrgenommen. Und in den gegenwärtigen Debatten um den „Synodalen Weg“ und das Priesteramt der Frau scheint mir das Verhältnis beider Aspekte der Kirche nicht mehr, wie in vielen Situationen der Vergangenheit, spannungsvoll, sondern eher konfliktträchtig zu sein. Es wäre die Frage zu stellen, ob das Verhältnis nicht sachdienlicher zu lösen wäre, wenn die amtliche und die persönliche beziehungsweise charismatische Autorität klarer getrennt würden und damit deutlich würde, dass eine Erneuerung selbstverständlich von dem Punkt ausgehen muss, wo das Persönliche und Charismatische seinen Ort hat und wo die Wirksamkeit und Legitimität an der Akzeptanz der Person als Person hängt – eben: in den Laien und vor allem in den monastischen Gemeinschaften. Dieser Bereich und seine Wahrnehmung müssten aber getragen sein von einem Verständnis und einer Anerkennung der besonderen Funktion, die das bischöfliche Amt und die Bewahrung der überindividuellen Wahrheit in der katholischen Kirche hat. Und die Inhaber des kirchlichen Amtes müssten sich umgekehrt intensiv um die Förderung der Personen und Institutionen bemühen, die die Kirche durch ihr Charisma repräsentieren – eine Aufgabe, die sie selbst nicht in die Hand nehmen können und dürfen.