Großangriff der Hamas auf IsraelGewalt, Leiden, Ohnmacht überall?

Auf die Situation im Nahen Osten blicken viele Deutsche von der Seitenlinie. Doch auch von dort aus kann die Bosheit triumphieren. Ein Appell für die Überwindung der Sprachlosigkeit.

Pfütze mit Zaun
© Pixabay

Zuerst der Hamas-Terror im Süden Israels, der abscheulich ist und mit unerträglichen Bildern sich feiernden Bosheit triumphiert. Dann Israels entschiedene Auslösung eines Kriegs, mit dem es sein Recht wahrnimmt, sich zu verteidigen. Und bei dessen potenzieller Größenordnung und unübersichtlichem Schlagabtausch vor der erwarteten Bodenoffensive einem bereits der Atem stockt für das, was er für die Zivilbevölkerung in Gaza bedeutet, die der Lage dort ausgeliefert ist. Auch Israels Freunde und Sympathisanten tragen Bedenken und drängen zu humanitären Korridoren. Die USA wiederum raten offenbar Israels Führung, die Bodenoffensive zu verzögern, um vielleicht doch noch mehr Geiseln auslösen zu können. Schließlich eine gravierend verschärfte politische Spirale der Gewalt in der Region, die noch ganz andere, ebenso skrupellose wie mächtige Akteure auf den Plan rufen kann. Auch die heftigen Klagen aus der arabischen Welt und von palästinensischen Repräsentanten, getötete Palästinenser würden der internationalen Gemeinschaft scheinbar weniger gelten als die Toten der Israelis. Und dann der latente Antisemitismus hierzulande, der die Gelegenheit zur Demonstration als notorischen Tabubruch nutzt und aus der Deckung heraustritt, was jetzt viele verstört, die sich mit seiner Anonymität abgefunden hatten. Würde ihm jetzt als Bürgerrecht auf freie Meinungsäußerung nachgegeben, käme das der Öffnung des deutschen Tors zur Hölle gleich.

Schließlich auch die erwartbaren kirchlichen Friedensappelle, die dieses Mal mit sehr kurzen Halbwertszeiten auftreten wie beim Papst. Wieder einmal Ross und Reiter nicht wirklich nennend kommt Franziskus über Beschuldigung von Bewaffnung, über Friedensimperative, Gebets- und Fastenaufrufe nicht hinaus. „Jeder Krieg ist eine Niederlage!“, ruft er. Ob das mal stimmt. Der Zweite Weltkrieg war jedenfalls keine Niederlage der Alliierten und ich möchte mir nicht ausmalen, was geworden wäre, wäre er das gewesen. Wo wären wir hingeraten hier bei uns mit dem Totaler-Krieg-Geschrei und Verschweigen der Shoa, und was hätte das bedeutet in Israel, dem Gazastreifen und der West-Bank heute.

Nicht zuletzt deshalb stehen Deutsche wie ich an der Seitenlinie, was dort geschieht, und nicht mittendrin, was aber nicht keine Ohnmacht bedeutet. Wir bleiben „guilty bystander“ (Thomas Merton) und so sind wir jetzt bereits trügerischer Sicherheiten sowie leichtfertiger Einschätzungen einer gefährlichen Lage aus der Ferne überführt und beraubt. Die Seitenlinie bewahrt auch nicht vor Bosheit, weil Bosheit sich immer über ihre Lokalisierbarkeit hinaus ausweitet und es längst mit der Flut der Bilder des triumphierenden Terrors schon getan hat. Bosheit blüht in der Ausweitung auf. An der Seitenlinie kann man daher schuldig werden und es an Schuldigkeit gegenüber den Opfern des Terrors und den Ausgelieferten des Krieges mangeln lassen, lässt man die Ausweitung zu.

Kein Triumph für die Macht der Bosheit

Das ist es dann auch, was angesagt ist, wenn es die Sprache verschlägt wie jetzt. Geben wir dem Triumph der Macht der Bosheit keinen Raum. Bosheit nährt sich davon und schaut sich gierig um nach den nächsten Opfern. Im Hamas-Terror hat sie sich so manifestiert, dass bereits jetzt eine ganze Region in gefährlicher Schieflage ist. Ein Schweigen über das, was den Israelis mit diesem Terror geschehen ist, wird unverschämt, weil es das nicht einräumt und den Opfern aus dem Weg geht. Das gilt, auch wenn es nie die richtigen Worte gibt für das Leiden der Opfer, den Ermordeten auf der einen Seite, den Gefangenen und Ausgelieferten auf der anderen Seite des Zaunes um Gaza. Auch die objektiv fehlenden richtigen Worte sind keine subjektiv gültige Ausrede, weil das nur die Bosheit verschweigen würde, vor der man jedoch steht, aber nicht anzusprechen wagt. Darum helfen die verhärmten Debatten von sich ereifernden Worten auf den Social-Media-Kanälen nicht, die bloß die falschen Worte der anderen attackieren, und es führt auch kein Aufruhr im Feuilleton über zuspitzende Einlassungen von Slavoj Žižek und Judith Butler weiter.

Es geht in der Bosheit, die im Hamas-Terror sichtbar wurde, um die Israelis, deren fester Sicherheitsglaube desillusioniert wurde, aber auch um jede und jeden von uns. Schließlich steht, wer auch nur entfernt hinschaut, vor etwas radikal Bösem, vor dem banalen bösartigen Willen dazu und vor der verlogen-verführerischen Macht beider. Davor gibt es keine Neutralität, die nicht dieser Macht huldigt, wenn man sich in sie flüchtet. Das kontaminiert auch den gleichen Abstand zu beiden Seiten, mit dem man sich aus der verschärften Lage herauswinden will.

Das ist vielleicht etwas Weiterführendes, was theologische, religiöse und spirituelle Diskurse in dieser Lage beitragen können; sie sind auf Böses geeicht und können Widerstandspotentiale aktivieren, weil sie darum wissen, wie leicht sie ihm selbst verfallen. Böses muss man klar benennen, so sagen diese Traditionen; es darf nicht verschwiegen werden, weil es sich dann ausbreitet. Auch die Liebesbotschaft nennt den Feind beim Namen; sie ist kein Appeasement. Böses lässt sich auch nicht verstehen oder nachvollziehen, ohne dass man damit seiner Macht Raum gewährt, sich weiter auszubreiten. Verstehen von Bosheit ist mitschuldig an ihren Verlockungen.

Das gilt auch für die in der schamlosen Siedlerei der West-Bank offenkundigen Ungerechtigkeiten und Gewalttaten, Gemeinheiten und Ohnmacht nur für die anderen, die der Willen zur bösen Tat vorgeblich rächen soll. Aber auch ihr kurzfristiger Triumph verschärft nur deren zerstörerische Macht. Mit dem öffentlichen Jubel über den Hamas-Terror vom 7. Oktober hat die unverhohlene Bösartigkeit eines ‚atmosphärischen Jihadismus‘ (Gilles Kepel) auch Städte in Deutschland erreicht. Aber die vergebliche Kurzfristigkeit gilt auch für ein Kriegsgeschrei, dass jetzt einem Problem ein endgültiges Ende bereitet werden würde, welches die Akteure dieser Einlassungen davor genau lieber ausgeblendet und zugleich verschärft haben, um an der Macht zu bleiben. Jeder gewonnene Krieg Israels in Gaza wird kontaminiert von den Opfern unter der ausgelieferten Zivilbevölkerung; sie lassen sich nicht abhaken und in Kauf nehmen, ohne eine gravierende Belastung auf Dauer zu werden. Der Konflikt Israelis-Palästinenser hat sich mit dem Hamas-Terror nicht zurückgemeldet, weil er nie weg war. Er hat sich ausgeweitet auf eine Demütigung Israels, über die sich kein Nicht-Jude Schadenfreude erlauben darf, weil sie aus dem Hohn über die Opfer der Gewalt fließt. Aus dem gleichen Grund bleibt jede allfällige entfernte Betroffenheit schal, die nicht bei sich selbst ändert, was davor gefehlt hat und woran man es hat fehlen lassen.

Die Toten mahnen aus den Gräbern heraus

Mit all den Morden, Raketen und auch Bomben meldet sich eine bittere Wahrheit der Menschheit sehr klar zurück. Wie jeder Konflikt lässt sich auch dieser kapern und auf Kaperungen versteht sich Bosheit besser als alles andere. Sie triumphiert deshalb auch insbesondere über jede Ohnmacht, die abzustellen sie verheißt. Das führt zu dem wahrscheinlich einzig Vernünftigen, was Religion und Gottesglauben über die Überwindung des Bösen sagen können. Wie so viele andere, so wird auch dieser Konflikt nicht im Triumph beendet, auf keiner Seite, und auch nicht von einem Triumph des Friedens. Es gibt keinen Triumph über Böses, ohne dass es daraus triumphierend hervorgehen wird. Keine Niederlage, auch nicht die im Krieg, stiftet Frieden. Den gibt es erst zwischen Feinden, welche die Gewalt bereuen, zu der sie die jeweils anderen genötigt haben und von ihnen erzwungen hatten. Ob es dazu kommt, ist eine offene Frage, weshalb Kriege auch im kalten Zustand sehr lange überdauern können. Die Annäherung Israels und Saudi-Arabiens ist davon bereits jetzt getroffen.

Im Angesicht des Bösen sind Selbstrelativierungen von gravierendem Zuschnitt zu holen, und es ist nicht so weit von der Realität weg, fügt man hier „nur“ hinzu. Kriege muten das zu, auch Verteidigungskriege, und sie tun es nicht nur den Beteiligten an. Deshalb werden sie selbst mit denen, die der Gewalt darin brutal zum Opfer fallen, so ungern und so selten zu Grabe getragen. Aber deshalb können wir von der Seitenlinie nicht so tun, als hätten wir mit jenen nichts zu tun, die in diesen Gräbern landen. Sie mahnen aus ihren Gräbern heraus, dass Bosheit immer weiter geht als jede politische und staatliche Vernunft, die gar nicht anders kann, als sie entschieden zu bekämpfen. Gegen das Weiter-Gehen muss sich der Widerstand gegen Böses auf das konzentrieren, was die jeweilige Mahnung ist. Sie ist immer spezifisch und nicht die Rund-Um-Sicht auf alle Probleme. Einen Erfolg verspricht nur ein Widerstand, der nicht begeistert die Nase hochhält mit „Ausnahmezustand“, sondern die Augen auf das richtet, was hier und jetzt als nächster Schritt nötig wird.

Der nächste Schritt ist politisch, wirtschaftlich, kulturell, religiös, existentiell jeweils anders. Der theologisch nächste Schritt, zu dem allein ich hier etwas sagen kann, ist nicht schon mit der Erlösung vom Bösen gesetzt, um das Christen und Christinnen im Vater-Unser bitten und von deren Schon-Geschehen in Christus sie überzeugt sind. Das wäre eine „fallacy of misplaced concreteness“ (Alfred North Whitehead), mit der man nur der Frage ausweichen würde, ob die christlich geglaubte Erlösung überhaupt einen Unterschied in der Lage macht, in der sich die Israelis und die Ausgelieferten von Gaza befinden. Darauf gibt es keine einfache Antwort, wohl aber eine komplexe. Sie sagt nicht über die Köpfe der Betroffenen weg, was sie bedeutet, weshalb sie nicht mit einem einfachen Ja-Sagen daherkommen kann, das denen als Nicht-Christen dann womöglich auch noch klammheimlich aufs Auge gedrückt werden soll.

Aber die Antwort kann Nein sagen mit dem, wogegen sich diese Erlösung verwahrt: wie schnell Menschen im Bösen von Terror und triumphierender Gewalt geopfert werden, ohne dass es Sinn macht, Mitleiden zulässt und Nachdenken erträgt, und wie leicht dort verschwinden kann, was Menschen eigentlich zu Menschen macht und davor bewahrt, Unmenschen zu werden. Mit solchen Nein wird dem Ja Raum gegeben, wie notwendend es ist, sich damit nicht abzufinden, auch wenn es aussichtslos erscheint. Diesen Raum bewohnen nicht nur Christen und Christinnen. Sie können sich danach umschauen, wie bevölkert er ist durch Menschen von allen Seiten. Das mag fürs erste nur ein feiner Riss sein, aber er öffnet die starre Düsternis, mit der man von der Seitenlinie nach Israel und auf Gaza zu blicken versucht ist.

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