Die (Kirchen-)Rechtslage ist eindeutig: Wie die meisten kirchlichen Amtsträger kann auch ein Diözesanbischof sein Amt nicht selbstbestimmt aufgeben. Er kann der für ihn zuständigen Autorität, dem Papst, lediglich den Amtsverzicht anbieten. Wie es danach weitergeht, liegt im freien Ermessen des Papstes. Lehnt er das Verzichtsangebot ab, bleibt der Diözesanbischof im Amt. Nimmt der Papst das Angebot an, erlangt der Amtsverzicht Rechtskraft, der Diözesanbischof verliert sein Amt, der bischöfliche Stuhl wird vakant. Für seine Entscheidung hat der Papst drei Monate Zeit. Trifft er während dieses Zeitraums keine Entscheidung und handelt es sich nicht um einen wegen des Erreichens der Altersgrenze angebotenen Amtsverzicht, wird von Rechts wegen eine ablehnende Antwort vermutet, und das Verzichtsangebot verliert jede Rechtskraft. Es ist nicht mehr in der Welt, nach Ablauf der Frist kann es daher auch nicht mehr angenommen werden.
Indes ist der Papst als mit kirchlicher Höchstgewalt ausgestatteter Souverän der katholischen Kirche und als dominus canonum nicht an seine eigenen Gesetze gebunden. Er könnte ein Verzichtsangebot ungeachtet der verstrichenen Frist für weiterhin gültig erklären und es zu einem späteren Zeitpunkt rechtswirksam akzeptieren – mit allen für den Diözesanbischof resultierenden Rechtsfolgen. Doch selbst wenn der Papst ein Verzichtsangebot kodexkonform als nicht mehr gültig betrachtete, wäre es ihm unbenommen, einen Diözesanbischof jederzeit sofort aus dem Amt zu entlassen. Er brauchte nicht ein Rücktrittsangebot abzuwarten. Der Papst bewegte sich in diesen Fällen zwar außerhalb des Rahmens, der durch das kirchliche Gesetzbuch festgelegt ist; er bliebe gleichwohl im Rahmen der ihm zukommenden rechtlichen Möglichkeiten.
Sollte der Papst aus Gründen kirchenpolitischer Opportunität bestrebt sein, seine Höchstgewalt nicht auszuspielen, bieten ihm auch die geltenden rechtlichen Bestimmungen ausreichend Spielraum für eine Maßnahme. Durch ein Motu Proprio aus dem Jahr 2016 (Come una Madre amorevole) hat Papst Franziskus die rechtliche Grundlage für die Amtsenthebung von Diözesanbischöfen geschaffen. Sie kommt in Betracht, wenn ein Diözesanbischof objektiv in schwerwiegender Weise die von seinem Amt geforderte Sorgfaltspflicht verletzt hat, selbst wenn er nicht schwer schuldhaft gehandelt hat – etwa indem er durch Fahrlässigkeit oder Unterlassen physischen, moralischen, geistlichen oder finanziellen Schaden für Einzelpersonen oder für die kirchliche Gemeinschaft verursacht hat. Ausdrücklich benennt das Motu Proprio Versagen im Umgang mit Sexualstraftaten. Gibt es ernsthafte Hinweise auf ein einschlägiges Fehlverhalten, leitet der Apostolische Stuhl eine Untersuchung ein. Steht das Fehlverhalten fest, kann ohne weiteres ein Amtsenthebungsdekret erlassen werden. Alternativ kann dem Bischof eine kurze Frist gesetzt werden, um den Amtsverzicht anzubieten. So erhält er die Gelegenheit, gesichtswahrend aus dem Amt zu scheiden. Nutzt er die Frist nicht, wird er gleichwohl seines Amtes enthoben.
Was ergibt sich daraus für den Fall des Kölner Erzbischofs Kardinal Rainer Maria Woelki?
Erstens: Der Amtsverzicht, den Kardinal Woelki – nach Darstellung von Papst Franziskus – auf Veranlassung des Papstes Ende Februar oder Anfang März 2022 angeboten hat, ist nach geltendem Recht nicht mehr rechtskräftig. Als Papst Franziskus im Mai 2022 in einem Interview sagte, er halte das Rücktrittsgesuch „in der Hand“, war es noch rechtskräftig. Dass Franziskus es unverändert für rechtskräftig hält, lässt sich nicht belegen; eine entsprechende Positionierung des Papstes ist nicht bekannt geworden. Bekannt geworden ist lediglich das Drängen deutscher Bischöfe auf eine Entscheidung anlässlich des Ad-Limina-Besuches. Ob und inwieweit sie sich dafür auf das Verzichtsangebot berufen haben – wofür es eine rechtliche Grundlage damals nicht mehr gab – oder ob sie einfach ein Machtwort des Papstes gefordert haben, ist nicht bekannt.
Zweitens: Sollten sie ein Machtwort gefordert haben (oder weiterhin fordern), wäre zu fragen, warum sie ausgerechnet in diesem Fall jene Ausübung päpstlicher Höchstgewalt erwarten, die etwa der DBK-Vorsitzende Bischof Bätzing – im gleichen Zusammenhang – als „einsame Spitzenentscheidung“ kritisiert, als Situation, in der „das System der hierarchischen Autoritätsausübung seine offensichtlichen Grenzen“ finde.
Drittens: Wer fordert, der Papst müsse in der Causa Woelki endlich entscheiden, übersieht: Indem der Papst die Drei-Monats-Frist verstreichen ließ, hat er eine Entscheidung getroffen. Von Rechts wegen ist zu vermuten, das Rücktrittsgesuch sei damit abgelehnt. Eine ausdrückliche Ablehnung des Gesuchs, womöglich flankiert von einer Meldung des Presseamts des Heiligen Stuhls, wäre zwar eindeutiger gewesen. Anlass für die Annahme, der Papst habe noch nicht entschieden, gibt es gleichwohl nicht. Zumindest hat er entschieden, bis auf Weiteres nichts zu unternehmen.
Viertens: Sollte der Papst davon abrücken und den bischöflichen Stuhl in Köln vakant sehen wollen, könnte er jederzeit dafür sorgen. Er könnte dazu jenseits geltender Normen seine Höchstgewalt beanspruchen; erforderlich wäre das nicht. Er müsste nicht einmal eine Untersuchung gemäß Come una Madre amorevole veranlassen (für die sich vermutlich Gründe finden ließen). Kardinal Woelki hat schon einmal dem Wunsch des Papstes entsprochen, den Amtsverzicht anzubieten (auch wenn zunächst der Eindruck entstehen konnte, er sei dazu nicht aufgefordert worden). Er würde dies auf päpstliches Geheiß und eingedenk seines Gehorsamsversprechens mit höchster Wahrscheinlichkeit umstandslos wiederholen.
Fünftens: Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, Papst Franziskus habe an der Amtsführung von Kardinal Woelki derzeit nichts Relevantes auszusetzen und teile auch nicht die Einschätzung, die Situation in der Erzdiözese Köln fordere sein Eingreifen. In jenem Interview vom Mai 2022 sagte er: „Ich glaube […] nicht, dass Köln die einzige Diözese in der Welt ist, in der es Konflikte gibt. Und ich behandle sie wie jede andere Diözese in der Welt, die Konflikte erlebt. Mir fällt eine ein, die den Konflikt noch nicht beendet hat: Arecibo in Puerto Rico, und das schon seit Jahren. Es gibt viele solche Diözesen.“ Offenbar hat Papst Franziskus eine hohe Toleranzschwelle. Das mag manchen, vielleicht sogar vielen sehr missfallen. Dass sich Papst Franziskus durch wiederholte Forderungen nach einer „Entscheidung“ – die letztlich darauf hinauslaufen, er möge Kardinal Woelki in den Ruhestand versetzen – von seiner Linie abbringen lässt, ist indes nicht zu erwarten.