Es war ein herbstlich kühler Montagmorgen im säkularen Osten, in Südthüringen. Aber die Kirche, die große Meininger Stadtkirche Sankt Marien war so voll wie sonst wohl nur am Heiligen Abend. Für manche doch recht unerwartet strömten die Menschen geradezu in die Kirche. Denn ein normaler herbstlich kühler Montag war dieser Tag nicht. Es war der Reformationstag 2016. Und während im schwedischen Lund Papst Franziskus zusammen mit Bischof Munib Younan, Generalsekretär Dr. Martin Junge und Erzbischöfin Antje Jakelen als Vertretern des Lutherischen Weltbundes Gottesdienst feierte, stimmten zeitgleich römisch-katholische und lutherische Christen im südlichen Thüringen in die Worte derselben Liturgie ein, die auch in Lund gefeiert wurde. Und in Lund, in Meiningen und vielen Orten der Erde hörten Christen in diesen Tagen auf die Worte der gemeinsamen Erklärung zum katholisch-lutherischen Reformationsgedenken und verpflichteten sich hier wie dort mit folgenden Worten: „Im Bewusstsein, dass die Art und Weise, wie wir miteinander in Beziehung treten, unser Zeugnis für das Evangelium prägt, verpflichten wir uns, in der Gemeinschaft, die in der Taufe wurzelt, weiter zu wachsen, indem wir uns bemühen, die verbleibenden Hindernisse zu beseitigen, die uns davon abhalten, die volle Einheit zu erlangen. Christus will, dass wir eins sind, damit die Welt glaubt (vgl. Joh 17,21).“
Unerschrocken und schöpferisch, freudig und hoffnungsvoll
Diese Erklärung schloss mit dem Aufruf an Katholiken und Lutheraner: „Wir wenden uns an alle lutherischen und katholischen Gemeinden und Gemeinschaften, unerschrocken und schöpferisch, freudig und hoffnungsvoll bezüglich ihres Vorsatzes zu sein, den großen Weg, der vor uns liegt, fortzusetzen. Statt der Konflikte der Vergangenheit, soll Gottes Gabe der Einheit unter uns die Zusammenarbeit leiten und unsere Solidarität vertiefen. Indem wir uns im Glauben an Christus näher kommen, indem wir miteinander beten, indem wir aufeinander hören und Christi Liebe in unseren Beziehungen leben, öffnen wir uns, Katholiken und Lutheraner, der Macht des Dreieinen Gottes. In Christus verwurzelt und ihn bezeugend erneuern wir unseren Entschluss, treue Boten von Gottes grenzenloser Liebe für die ganze Menschheit zu sein.“ Nach diesem Gottesdienst standen viele noch lange zusammen, erzählten einander alte und nicht so alte Geschichten von Trennung und Versöhnung, von der Sehnsucht nach Gemeinschaft und Einheit. So manches Gespräch hat mich damals sehr berührt und lange bewegt. Unter Tränen erzählten Menschen, wie sehr noch ihre Elterngeneration darunter gelitten hatte, dass Ehen zwischen Katholiken und Lutheranern in den Familien nicht gern gesehen wurden, im besten Fall schweigend toleriert, im schlimmeren Fall zu lang anhaltenden Zerwürfnissen und Trennungen führten und zuweilen genau deshalb erst gar nicht geschlossen worden waren. Und immer wieder fanden auch der Schmerz und das Unverständnis über die nicht mögliche volle Gemeinschaft am Tisch des Herrn ihren Ausdruck.
Warum erinnere ich an diesen Reformationstag 2016 und die Erklärung von Lund? Ich denke deshalb, weil mir die Fragestellung „welche Form von Gemeinschaft ist angesichts weiterhin bestehender Lehrdifferenzen und Unterschiede im Kirchenbegriff möglich“ bei näherem Hinsehen doch als recht kleingläubig erscheint. Oder besser: als eine sehr auf unsere menschlichen Vorstellungen, von dem, was uns möglich erscheint, konzentriert und wenig vertrauend auf das, was Gott uns immer wieder neu an Möglichkeitsräumen eröffnet. Denn, daran erinnert uns die Erklärung von Lund deutlich: „Christus will, dass wir eins sind, damit die Welt glaubt.“ Es geht also in erster Linie nicht darum, was wir für möglich ansehen, sondern es geht darum, was Christus will und was Gott um Christi Willen für uns für möglich ansieht. Es geht zweitens weiter darum, den Schmerz von Menschen über so viel Trennung und Abgrenzung zu lindern – so sie ihn denn überhaupt noch empfinden und sie der Institution Kirche nicht schon enttäuscht den Rücken gekehrt haben. Und drittens haben wir uns in Lund verpflichtet, uns von Gottes Gabe der Einheit leiten zu lassen. Ich werde deshalb in meinem Impuls nicht der viel diskutierten und auch hier bereits klug und ausführlich bedachten Alternative „Einheit oder Kirchengemeinschaft“ nachgehen (vgl. Jennifer Wasmuth, Einheit und/oder Kirchengemeinschaft?, in: Catholica 76, 2022/2, 98–105), zumal es gute Gründe für den Versuch gibt, „das römisch-katholische Konzept von Einheit und das protestantische Konzept von Kirchengemeinschaft zu integrieren“ (103), und zwar so, dass es um Einheit und Kirchengemeinschaft gehen sollte. Wolfgang Thönissen hat dazu sechs Schritte erarbeitet (vgl. Wolfgang Thönissen, Georg Hintzen, Kirchengemeinschaft möglich? Einheitsverständnis und Einheitskonzepte in der Diskussion, Paderborn 2001 (Thema Ökumene 1), darin insbesondere Thönissen, Einheitsverständnis und Einheitsmodell nach katholischer Lehre, 73-125), bei denen er selbst wie auch Jennifer Wasmuth und Bernd Oberdorfer (vgl. Und nun zum Kleingedruckten. Operationalisierungsfragen ökumenischer Verständigung, in: ders./Thomas Söding (Hg.), Wachsende Zustimmung und offene Fragen. Die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre im Licht ihrer Wirkung, Freiburg 2019 (QD 302), 345-370.) allerdings weiteren Arbeits- und Gesprächsbedarf sieht, insbesondere im Blick auf die Differenzen zu Amtsverständnis, Bischofsamt und des Primats des Bischofs von Rom.
Michael Ebertz, Professor für Soziologie, Sozialpolitik und Freie Wohlfahrtspflege an der Katholischen Hochschule Freiburg, bis 2021 persönliches Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken, merkt aus soziologischer Sicht zu den verschiedenen Einheitsmodellen allerdings deutlich kritisch an, er nenne „solche Einheitsmodelle lieber konfessionsgebundene Konnektivitätsimaginationen“ (Vielfalt als Problem? Eine soziologische Anfrage, in: Ökumenische Rundschau 70, 2/2021, 137–150, 146). Ebertz, der als Leiter des Zentrums für katholische Sozialforschung insbesondere zu Herausforderungen der Kirche im 20. und 21. Jahrhundert in Deutschland und Europa sowie zu Kirchenbindung und Kirchenaustritten forschte, hält die bisher diskutierten Einheitsmodelle für „nur partiell konsensfähig, weil sie das Risiko bergen, je eigene Strukturmerkmale, die zur ‚vorgegebenen‘ kollektiven Identitätsausrüstung erklärt werden, in Frage zu stellen.“ (146) Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, dass unsere ökumenischen Schritte aufeinander zu jeweils dann zum Stillstand kommen oder jedenfalls recht kleine Schrittlängen anzunehmen scheinen, wenn zunächst Einigkeit über die Zielperspektive erreicht werden soll. Wenn es also darum geht, dass wir als Menschen mit Herz und Verstand nachvollziehen sowie organisational/institutionell in sichtbarer Weise gestalten und dem Ausdruck verleihen, was uns in Christus schon längst geschenkt ist – mit Worten des Kolosserbriefes: „Denn es hat Gott gefallen, alle Fülle in ihm wohnen zu lassen und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.“
Interaktionen im Grenzland
Wo Einigkeit darüber, wie wir der uns geschenkten und in Christus verkörperten Einheit sichtbar Ausdruck verleihen können, nicht oder jedenfalls gegenwärtig nicht vollständig erzielt werden kann, kann dennoch einstweilen die gemeinsame Weggemeinschaft wertgeschätzt und als gegenwärtig mögliche Form der Einheit und Gemeinschaft anerkannt werden. Einheit wird dann nicht als Struktur-, sondern als Prozesskategorie verstanden (147). Dabei bekommen Interaktionen wie gemeinsame liturgisches Feiern, Begegnungen von Einzelnen und Gruppen, Kooperationen, Pilgerwege, das persönliche Gespräch und gemeinsames Handeln, die wirkliche Kommunikation unter Anwesenden in Gleichörtlichkeit und Gleichzeitigkeit ein neues Gewicht – und lassen sich auch „als Folge von, als Einsicht in und als Gespür für die unlösbare Komplexität integrativer Konfessionsbeziehungen“ (149) interpretieren. Wenn dabei Begegnung und Interaktion eine neue und größere Bedeutung bekommen, findet damit zugleich, auch darauf hat Ebertz hingewiesen, „eine Umgewichtung von der Sachdimension auf die Sozialdimension“ (150) statt. „Auf diese Weise wird Einheit neu denkbar, nicht mehr (nur) substantialistisch, sondern relationalistisch.“ (150)
In einer solchen Kontaktarena, einem solchen durch Beziehungen aufgespannten Interaktionsraum, kann viel passieren. Denn, um es mit Worten des Historikers
Jürgen Osterhammel zu sagen, „Interaktionsräume sind Sphären, in denen mehrere verschiedenartige Zivilisationen in dauerhaften Kontakt miteinander stehen und in denen es trotz mancher Spannungen und Unverträglichkeiten immer wieder zu hybriden Neubildungen kommt.“ (Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Sonderausgabe München 2011, 157). Wenn also Weggemeinschaft, Begegnung, Prozess als gegenwärtig mögliche, sozusagen vorläufige, vorauslaufende Form sichtbarer Einheit auf dem Weg zur in Christus verkörperten Einheit gesehen wird, schließt das auch das Bewusstsein dafür und die Bereitschaft dazu ein, die relationalen Interaktionsräume nicht von der Metapher der Grenze und der Grenzziehungen her zu verstehen, sondern von der Metapher der Schwelle aus zu denken und zu gestalten. Oder kurz gesagt: in Beziehungen, die als Prozess, als Weggemeinschaft im gegenseitigen und personalen Austausch gestaltet und verstanden werden, verändern sich immer alle Seiten. Allerdings, auch das gehört zur Erwägung möglicher Formen von Gemeinschaft, die sich als Gemeinschaft im Werden, als Prozess, in Interaktion und Begegnung versteht: Interaktion erreicht in ihrer Eigengesetzlichkeit nicht „den Komplexitätsgrad interorganisationaler Verbindlichkeit, den sie angesichts seiner zahlreichen Risiken möglicherweise auch und gerade unterlaufen will.“ (Ebertz, 149). Und genau das macht Charme wie Begrenzung von Interaktion aus.
Einheit: In Christus bereits bestehend und unter uns im Werden und Wachsen auf ihn hin –
Impulse aus Epheser- und Kolosserbrief
Wahrscheinlich wird es sinnvoll sein, in der Suche nach Gemeinschaft angesichts weiterhin bestehender Lehrdifferenzen und Unterschiede Sozial- und Sachdimension nicht voneinander zu trennen, sondern immer wieder neu aufeinander zu beziehen. Also: gemeinsames Handeln, Feiern, persönlichen Austausch und Begegnung mit theologischem Gespräch und systematisch-theologischer respektive dogmatischer Debatte verbinden. Dabei könnte die gemeinsame Re-lecture neutestamentlicher Texte, zum Beispiel des Epheserbriefes und seiner Vorstellung von Einheit, hilfreich sein. Das zentrale Anliegen des Epheserbriefes ist Einheit, wobei die Einheit in Christus längst besteht und nicht erst von Menschen geschaffen werden muss. „Weil Christus diese Einheit bereits ‚gemacht‘ (2,4) und ‚geschaffen‘ hat (2,14) gilt es, diese nicht erst herzustellen, sondern zu ‚bewahren‘ (4,3).“ (Ulrich Heckel, Die sieben Kennzeichen für die Einheit der Kirche. Exegetische Impulse zu einer ökumenischen Theologie der Einheit nach Eph 4, 1–6, in: Welche Einheit suchen wir? Auf dem Weg zur 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 2022 in Karlsruhe, hg. von der Ev. Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 2020, 14–20, 16)
Nach Heckel lassen sich aus dem Epheserbrief in Eph 4,1–6 sieben Kennzeichen der Einheit ableiten: „Die erste Dreierreihe (ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung) spannt den Bogen pneumatologisch von der Ekklesiologie zur Eschatologie, die zweite Trias verbindet christologisch das Bekenntnis zu dem einen Herrn mit dem einen Glauben und der einen Taufe und am Ende steht das Bekenntnis zu dem einen Gott und Vater“ (16); also: ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater. Die dann im Anschluss aufgezählten Ämter (Eph 4, 7–20) gehören nicht zu den Kennzeichen der Einheit. Denn, so Heckel, „nicht sie garantieren die Einheit der Kirche, sondern allein Christus, der eine Herr (4,5), fügt und hält als Haupt (4,15) und Heiland des Leibes (5,23) die Kirche in einem Leib und einem Geist (2,16.18; 4,4) ebenso zusammen, wie der ganze Bau auf ihm als Eckstein aufbaut (2,20f). Er ist Ursprung und Ziel der Einheit.“ (17) Die Ämter der Wortverkündigung sind zwar für die Kirche konstitutiv, weil die Existenz der Kirche an das Evangelium und seine Verkündigung geknüpft ist, ihre konkrete Ausgestaltung aber wird im Epheserbrief offen gehalten.
Folgt man diesen exegetischen Beobachtungen, so wäre festzuhalten, dass die Ämter von Christus eingesetzt und durch die Verkündigung des Evangeliums bestimmt sind. Unterschiede in der Ämterstruktur müssten dann, ich zitiere noch einmal Ulrich Heckel, „nicht mehr kirchentrennend wirken, sondern … die weltweite Kirche [könnte] in versöhnter Verschiedenheit als lebendiger Organismus in der konkreten organisatorischen Ausgestaltung als Körperschaft, in Ämtern, Liturgie, Mission und Diakonie so vielfältig sein wie ein Leib mit vielen Gliedern.“ (20) Für die Ämter bliebe dann die Möglichkeit unterschiedlicher Ausgestaltung und Unterschiede in der Ordnung müssten nicht mehr kirchentrennend wirken, „sofern sie den sieben Kennzeichen für die Einheit der Kirche nicht widersprechen.“ (20) Was hier nur grob skizziert werden kann, lohnt aus meiner Sicht das tiefer und weiter führende ökumenische Gespräch, eng orientiert an der Heiligen Schrift. Zumal der Epheserbrief immer wieder bedeutet, dass Einheit keine feste Größe ist, sondern auf Christus hin (4,13.15) im Wachsen begriffen ist.
Wo sind wir angekommen auf dem Weg aus dem ökumenischen Gottesdienst im säkularen Süden Thüringens in unser ökumenisches Gespräch? Ich möchte es so zusammenfassen: Einheit muss gedacht und gelebt werden von der Einheit und auf die Einheit hin, wie sie in Christus bereits da ist. Maßgeblich dafür ist nicht das, was wir für möglich erachten, sondern was uns im Möglichkeitsraum Gottes durch sein schöpferisches Handeln eröffnet wird. Relationale Interaktionen wie nicht weniger relationale Diskussionen sind auf dem Weg zu immer größerer Gemeinschaft verschiedene Modi und aufeinander zu beziehen. Die gemeinsame ökumenische Re-lecture biblischer Texte, die sich mit der Frage der Einheit beschäftigen, wie zum Beispiel des Epheserbriefes, könnte uns im gemeinsamen Hören auf Gottes Wort im Zugehen auf das 1700-jährige Jubiläums des Konzils von Nizäa dabei neue Horizonte eröffnen. Und die Lektüre des Kolosserbriefes, vor allem des Christushymnus, könnte unseren Blick dabei noch einmal weiten. Denn der Kolosserbrief erinnert uns: Christus ist nicht nur Herr und Haupt seines Leibes und seiner Kirche, sondern alles Lebendigen, des ganzen Kosmos, der ganzen Schöpfung, die in ihm erschaffen und durch ihn erlöst ist. Die kosmische Dimension der Liebe Christi, die die ganze Menschheit, alles Lebendige, den ganzen Kosmos umfasst, stellt uns dann noch einmal eine ganz andere Dimension der Einheit vor Augen als „nur“ die der kirchlichen Einheit.
Was die damit verbundene Denkfigur der „deep incarnation“ mit ihren sowohl schöpfungs- wie erlösungstheologischen Implikationen für die Ökumene unter Einbeziehung der orthodoxen Kirchen in Interaktion wie dogmatischem Gespräch bedeuten könnte, führt hier und heute zu weit, ist aber ein letzter Impuls, den ich markieren möchte. „Denn in Christus, Ebenbild des unsichtbaren Gottes und Erstgeborene der Schöpfung, wurde alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen. Und er ist vor allem, und es besteht alles in ihm. Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde. Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten, auf dass er in allem der Erste sei. Denn es hat Gott gefallen, alle Fülle in ihm wohnen zu lassen und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.“ (Kol 1,16-20)