Die Antwort der TheologieSinnstiftung in der Wachstumsgesellschaft

Online exklusiv: Aktuelle soziologische Befund dokumentieren nicht nur den Niedergang des Religiösen, sie arbeiten der Theologie auch zu. Statt also den Niedergang oder die Transformation des Religiösen in der Modernen zu beklagen, ist etwas anderes viel dringender geboten. Eine Antwort auf Helmut Zander (vgl. HK, Januar 2023, 36-39).

Ein Kreuz steht auf einem Feld
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So lange, wie die Säkularisierungsthese unangefochten galt, so schnell wurde sie um den letzten Jahrhundertwechsel totgesagt: Sogar von einer Wiederkehr der Religion war die Rede. Die Ernüchterung stellte sich jedoch bald ein: So zeigte sich, dass nicht die Religiosität der Menschen zugenommen hatte, sondern die Sichtbarkeit der religiösen Institutionen in der Öffentlichkeit. Aus der wiedergewonnenen Selbstverständlichkeit, in den Medien von Religion zu sprechen, durfte man aber gerade nicht auf ihr Erstarken schließen, sondern eher auf eine aus der Distanz gewonnene Leidenschaftslosigkeit. Religion war insofern interessant, als man sie selbst nicht mehr kannte.

Dabei, darauf haben der Historiker Thomas Großbölting und die Pastoraltheologin Regina Polak in ihrer Arbeit hingewiesen, ist Religion in Europa und insbesondere in Deutschland weiterhin präsent, sei es architektonisch in den Stadtbildern oder sei es politisch in diversen Räten und der Parteienlandschaft. Wer das Religiöse zwischenzeitlich retten wollte, indem er es im Raum des Privaten wirksam sah, traf genau nicht die Situation: Die Institutionen verlieren zwar seit Jahrzehnten beständig und nachhaltig ihre Mitglieder, sie sind aber nach wie vor präsent, finanzstark und gesellschaftlich mächtig. Was sich wirklich aufgelöst hat, ist die religiöse Überzeugung im Privaten: Der Religionssoziologe Gert Pickel attestiert nichts weniger, als dass traditionelle Religiosität für die individuelle Lebensführung in unserer deutschen Gesellschaft nahezu keine Rolle mehr spielt.

Eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Institutes der Evangelischen Kirche in Deutschland zu den Lebens- und Glaubenswelten junger Menschen aus dem Jahr 2018 zeigt dies eindrücklich: Auf die Frage, was das persönliche Leben bestimme, antworteten die befragten Jugendlichen mit großem Abstand: Sie selbst. Als nachrangig gaben sie an, von der Familie, von der Arbeit und von Freunden beeinflusst zu sein. Religiöser Glaube spielte in den Antworten nahezu keine Rolle, obwohl sich 20 Prozent der Jugendlichen selbst als religiös qualifizierten. Zugespitzt formuliert: Wovon die befragten Jugendlichen sich leiten lassen, ist der rein innerweltliche Bezug auf sie selbst, selbst wenn sie sich äußerlich-institutionell verorten.

Schon vor ein paar Jahren beschrieb der Soziologe Hubert Knoblauch einen Transformationsprozess: Religion sei demnach popularisiert worden (was mit dem Niedergang ihrer Institutionen korreliere) und habe sich dabei in ihren Bezugsgrößen verändert. Anstelle der großen Transzendenz seien nun innerweltliche Phänomene der Sinnstiftung getreten, er nennt dabei populäre Phänomene wie das Fanwesen im Fußball, den Körperkult oder die Zen-Meditation. Letztere ist dabei, so muss von theologischer Seite ergänzt werden, ihres ursprünglichen religiösen Kerns entledigt geworden. Es geht bei fernöstlichen Praktiken nur noch selten um das Transzendieren innerweltlicher Verstrickungen, sie dienen eher umgekehrt dazu, fit zu machen für den Alltag.

Dieser Gefahr unterliegen alle Religionen in modernen Gesellschaften: Sie können in ihrer Funktion als Kultur- oder Moralträgerinnen geschätzt werden, auch können sie in ihrer Rolle als Unterbrechung des Alltags selbigen anregen oder auch erträglicher machen. Diese Funktionen besitzen Religionen tatsächlich, schwierig wird es, wenn sie darauf reduziert werden. Genau das – also die Fokussierung auf diese Funktionen – könnte für die Religionsgemeinschaften selbst naheliegen, wenn sie mit der beschriebenen gesellschaftlichen Situation umgehen wollen.

Damit wird zwar der Wert der Religionsgemeinschaften für die moderne Gesellschaft leicht darstellbar (und etwa die Kirchensteuer begründbarer), sie bringen sich so allerdings erstens in Konkurrenz zu anderen Einrichtungen, die diese Funktionen ebenso – und vielleicht besser – bedienen können und werden zweitens angreifbar, wenn sie sie nicht ausreichend erfüllen. Vor allem bringt diese Engführung drittens die Religionen um ihre eigentliche Botschaft. Es scheint mir für die Theologie also dringlich geboten, die soziologischen Beschreibungen unserer Gesellschaft nicht dazu zu benutzen, den Niedergang oder die Transformation des Religiösen in der Moderne zu beklagen, sondern um das genuin andere und besondere von Religion zu erfassen.

Hier hat nun jüngst mit Hartmut Rosa, wiederum ein Soziologe, anregende Gedanken vorgelegt. In seinem aktuellen Spiegel-Bestseller „Demokratie braucht Religion“ verknüpft er die beiden großen Themen, mit denen er in seinem Fach Furore gemacht hat: das der ‚Beschleunigung‘ und das der ‚Resonanz‘. Mit der ‚Beschleunigung‘ will Rosa eine Krisenbeschreibung moderner Gesellschaft leisten: Die Gesellschaft, in der wir leben, sei gezwungen, sich permanent zu steigern und damit sich voranzutreiben. Das sei kein zufälliges Merkmal aktueller Entwicklungen, sondern der Wesenskern moderner Gesellschaften: Sie könnten sich nur stabilisieren, indem sie dynamisch vorwärtsgerichtet bleiben.

Da die heutige Gesellschaft den Sinn der Vorwärtsbewegung aber nicht mehr sehe, sei sie in einen rasenden Stillstand verfallen – und diesen sieht Rosa als die aktuelle Krise an. Es sei eben nicht mehr so, dass eine Patchworkreligiosität vorliege, wie es im Einklang mit der Individualisierungsthese des Religiösen bisher oftmals gedacht und beschrieben wurde. Nicht die Pluralität von Weltanschauungen und Sinnstiftungen sei die heutige Herausforderung, sondern ihr Fehlen. Dieser Befund muss die Theologie irritieren und elektrisieren, auf jeden Fall legt er nahe, dass Forderungen nach Pluralitätsfähigkeit der Kirche sicherlich weiterhin ihre Berechtigung auf einer äußeren Ebene haben, aber durch Überlegungen zum inneren Kern der Botschaft ergänzt werden müssen. Hier scheint mir die Theologie dringend nachlegen zu müssen – und zu können, indem sie schlichtweg auf ihre Stärken spielt.

Gesellschaftliche Krisenerfahrungen (zumal im jüdisch-christlichen Bereich) sind schließlich immer schon Einfallstore für religiöse Sinnstiftung gewesen. Tatsächlich fällt auch auf, dass die von Hubert Knoblauch genannten aktuellen transformierten Sinnangebote alle innerhalb der von Rosa monierten Beschleunigungslogik stehen: In allen Fällen geht es darum, innerweltlich etwas zu erreichen und zu zelebrieren: Ich versuche, Likes in Sozialen Medien zu erhalten, mittels Trainings mein ideales Körperbild umzusetzen oder im Sport den Erfolg meines Vereins zu verfolgen. Auch wenn ich beim Yoga meine innere Mitte suche, geht es zumeist um eine individuelle Leistungssteigerung. Religion könnte, so Rosas Pointe, hier eine andere Art von Sinnstiftung ins Spiel bringen, die diese Leistungsfixierung und damit die von ihm monierte Beschleunigungslogik durchbricht. Damit klingen (alte) theologische Konzepte an, die Religion die Rolle der „Unterbrechung“ zuschreiben und in der Transzendenz das „ganz andere“ wirksam sehen.

Das Problem, das Rosa adressiert, spielt sich nicht nur auf der individuellen Ebene oder innerhalb moderner Gesellschaften ab. Er beschreibt einen Vorgang , der sich in weltweiten Herausforderungen des Klimawandels oder beispielsweise auch im Gesundheitssektor in Pandemien zeigt. In beiden Fällen steckt im Kern des Problems eine ausbeuterische Wachstumslogik. Wir müssen uns schließlich steigern, um fortbestehen zu können. Wir brauchen also mehr Energie, um das Bestehende erhalten zu können, so die Analyse Rosas. Dadurch seien wir in ein Aggressionsverhältnis zur Welt geraten: Konkurrenzkampf, Ausbeutung und auch die härter werdenden politischen Kontroversen (Lagerdenken) seien die Folge. Die Welt und wir darin brennen aus – ein existenzieller Burnout, der sich spirituell in einer Leere spiegelt.

Dagegen setzt Rosa sein Konzept von ‚Resonanz‘: Hier geht es darum, dass wir uns anrufen lassen, innehalten, eine Pause machen, keine Aggression haben und aussenden, so wie wir Musik hören und in aus aufnehmen. Diese Haltung erzeuge ein anderes Weltverhältnis, das sich gegen die dargestellte Logik der Beschleunigung zu stellen vermag, und in hartem Kontrast zum dargestellten Befund steht, dass junge Menschen von heute vorrangig sich selbst als Referenzrahmen hätten.

Schon die vier Schritte, die Rosa als Elemente von Resonanz charakterisiert, lassen eine deutliche Nähe zu dem erkennen, was in der Theologie als religiöse Erfahrung oder als spirituelle Haltung beschrieben wird: Als Basis von Resonanz beschreibt Rosa die Affizierung, das Hören auf etwas anderes, das nicht nur in Harmonie zu mir steht, sondern das mich anregt, mich unterbricht und mit mir in Wechselwirkung tritt. So wird eine Selbstwirksamkeit erreicht, weil ich darauf antworte, es mich erreicht und beeinflusst hat. Dadurch entsteht eine Transformation, die meine Weltbeziehung und damit sowohl mich als auch die Welt verändert. Als viertes Element von Resonanz beschreibt Rosa ihre Unverfügbarkeit: Man kann sie nicht kaufen oder produzieren, sie entzieht sich also selbst einer Leistungs- und Optimierungslogik, wie sie unserer heutigen Gesellschaft unterliegt.

Rosa selbst deutet nur noch an, wie dieses Konzept sich im Religiösen wiederfindet, wie beispielsweise Kirchenräume sich der gesellschaftlichen Aggressionslogik entziehen oder im Kern von Liturgie und Beten das Anhören und Öffnen für das ganz andere steht. Die Theologie kann hier also weiterdenken, und das scheint mir insbesondere dahingehend wichtig, dass der Unterschied zwischen einer immanenten Grenzerfahrungen und einer Sinndeutung in Transzendenz bearbeitet wird: Wer an echte Transzendenz glaubt, der wird alles innerweltliche Geschehen relativieren, für den wird der Gehaltsscheck nicht das letzte Wort haben, die Selbstoptimierung verliert an Reiz, Gerechtigkeit wird zu einem Ideal jenseits menschlicher Gerichtsbarkeit. Zur Leistungslogik wird etwa die von Barmherzigkeit treten. Hier ließe sich noch vieles ergänzen, es ließe sich auf biblische Bilder vom Reich Gottes eingehen, das unsere Verantwortung gleichermaßen berücksichtig wie die Unverfügbarkeit letzter Wahrheiten.

Damit werden Themen und Topoi bespielt, die die Theologie schon oft aufgegriffen und bearbeitet hat. Das Spannende daran ist genau das: Der soziologische Befund markiert einen gesellschaftlichen Bedarf im Umgang mit einer bestehenden Krise, auf den theologische Sprache und kirchliches Handeln vielversprechende Antwortmöglichkeiten ausweisen könnten. Demnach wäre nun die Aufgabe der Theologie, nicht über schwindende Mitgliederzahlen der Institutionen oder automatisch mit der Moderne einhergehende Religionslosigkeit zu räsonieren, sondern den Transfer klassischer Religiosität in die heutige Krisenerfahrung zu reflektieren. Dazu hat der Soziologe Hartmut Rosa der Theologie ein Angebot gemacht: Wir sollten darauf eingehen.

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