Ende des Jahres 2012 meldete Facebook das Überschreiten der Grenze von einer Milliarde Nutzerinnen und Nutzer weltweit. Im selben Jahr setzte Papst Benedikt XVI. seinen ersten Tweet im Sozialen Netzwerk Twitter (heute „X“) ab und schrieb im darauffolgenden Jahr in einer Botschaft zum 47. Welttag der Sozialen Kommunikationsmittel: „Wenn diese Räume gut und ausgewogen genutzt werden, leisten sie einen Beitrag dazu, Formen von Dialog und Diskussion zu unterstützen, die die Einheit unter den Menschen stärken und wirksam die Harmonie der Menschheitsfamilie fördern können, sofern sie von Respekt, Rücksicht auf die Privatsphäre, Verantwortlichkeit und dem Bemühen um die Wahrheit geprägt sind. Der Austausch von Informationen kann wahre Kommunikation werden, die Beziehungen können zur Freundschaft reifen, die Kontakte die Gemeinschaftsbildung leichter machen" (Soziale Netzwerke – Portale der Wahrheit und des Glaubens, 12. Mai 2013). Er stand damit in der kirchlichen Tradition einer seit dem Zweiten Vatikanum grundsätzlich positiven Bewertung neuer kommunikativer Technologien und Möglichkeiten, die auch unter dem Pontifikat von Papst Franziskus fortgesetzt wurde.
Arbeitshilfe aus dem Vatikan
Im Mai 2023 veröffentlichte das Dikasterium für Kommunikation das Dokument „Towards Full Presence. A Pastoral Reflection on Engagement with Social Media”, das bisher nicht in deutscher Sprache verfügbar ist. Es ist „das Ergebnis einer Reflexion unter Beteiligung von Experten, Lehrern, jungen Berufstätigen und Führungskräften, Laien, Geistlichen und Ordensleuten“. Neben Fragen der digitalen Bildung und der künstlichen Intelligenz geht es darin im Wesentlichen um die Kultur der Sozialen Medien. Das Dokument stellt fest, dass es heutzutage nicht möglich sei, über Soziale Medien zu sprechen, ohne ihren kommerziellen Wert zu berücksichtigen. Personen seien sowohl Verbraucher als auch Waren. Und als Waren, so das Papier, werden ihre Profile und Daten an andere Unternehmen verkauft (Nr. 13). Kritisch werden in diesem Zusammenhang auch die obligatorisch anzunehmenden Nutzungsbedingungen der Dienste gesehen, die dies ermöglichen, sowie die individuellen Algorithmen, die dafür sorgen, dass Nutzer die Dienste möglichst lange nutzen.
Angesichts zunehmender Spaltungen und Radikalisierung in den Netzwerken fragt der Text, wie man die Online-Umgebung zu dem Ort machen kann, der er sein könne und solle; einen Ort des Teilens, der Zusammenarbeit und der Zugehörigkeit, der auf gegenseitigem Vertrauen basiert (Nr. 23). Voraussetzung dafür sei neben der Authentizität der Nutzer vor allem die Bereitschaft, den Wert und die Würde derer zu erkennen, mit deren Meinung wir nicht übereinstimmen: Wir seien eingeladen, über unser Sicherheitsnetz und unsere Blasen hinauszuschauen. Der Text stellt – auch für Gruppen, die sich „katholisch“ nennen - einen oft konfrontativen „digitalen Tribalismus“ fest und fordert auf, von der Begegnung zur Beziehung zu gelangen (Nr. 55). Das Social Web sei, so das Dokument, nicht in Stein gemeißelt: „Wir können es ändern. Wir können zu Treibern des Wandels werden und uns neue Modelle vorstellen, die auf Vertrauen, Transparenz, Gleichberechtigung und Inklusion basieren.“ Digitale Räume müssten so umgebaut werden, dass sie zu menschlicheren und gesünderen Umgebungen werden (Nr. 58).
Obwohl das vatikanische Dokument zahlreiche Fallstricke der Sozialen Medien wahrnimmt und auch deren kommerziellen Betrieb an mehreren Stellen kritisch sieht, verlassen die geforderten Konsequenzen nicht die ethische Ebene und zielen allein auf eine Verhaltensänderung christlicher Nutzer.
Das "Fediverse" als Option für die Zukunft?
Diese kann allerdings eine weitere Hürde nicht einreißen, die sich spätestens seit den „Schrems II-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofs vielen europäischen Inhalteanbietern in den Sozialen Medien stellt: die Anforderungen des Datenschutzes, der durch die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) beziehungsweise das daraus abgeleitete, Kirchliche Datenschutzgesetz (KDG) gestellt werden. Zunehmend stellt sich die Frage, ob Facebook, Instagram und andere Dienste in Zukunft noch datenschutzkonform betrieben werden können. Erste Verbote für eine kirchliche Nutzung sind bereits ausgesprochen worden. Und es deutet sich an, dass der im kommenden Jahr in Kraft tretende Digital Market Act (DMA) der EU den nichteuropäischen Sozialen Netzwerken weitere Probleme bereiten wird.
Eine Lösung für viele dieser Schwierigkeiten auch für kirchliche Anbieter könnte sich durch eine Weiterentwicklung, Unterstützung und Nutzung des Fediverse ergeben. Der Begriff setzt sich aus federation und universe zusammen. Dieses „föderale Universum“ meint ein weltweites, aber dezentrales Netzwerk, das allein schon durch dieses Prinzip dem ursprünglichen Gedanken des Internets vor dessen Kommerzialisierung nahekommt. Technisch steckt hinter dem Fediverse ein Open Source-Protokoll namens ActivityPub, das es jeder Institution oder auch Einzelperson ermöglicht, einen eigenen Server für Dienste im Fediverse zu betreiben. Es ist damit das Gegenteil von Facebook, Instagram, X und anderen geschlossenen Netzwerken, weil es seinen Nutzern darüber hinaus ermöglicht, sich mit dem eigenen Account und damit den eigenen Daten plattformübergreifend in diesem Netz zu bewegen. Das neben der Dezentralität und der Freiheit der Nutzer wichtigste Merkmal des Fediverse: Es ist nicht kommerziell betrieben. Zudem ist das Netzwerk auf europäischer Ebene datenschutzkonform.
Die bekanntesten Fediverse-Apps sind bislang weitgehend Alternativen zu bestehenden Diensten. Bei Mastodon zum Beispiel handelt es sich mehr oder weniger um einen Twitter-Klon. Dasselbe gilt für PeerTube als YouTube-Ersatz oder Friendica als Facebook-Alternative. Eine große App, die eine ganz neue Zielgruppe erschafft, fehlt bislang noch.
Bleibende Herausforderung
Eine Herausforderung für das Fediverse ist derzeit die Moderation der Inhalte. Die Einrichtung von Uploadfiltern und der Umgang mit Hasskommentaren und Fake News sind schon für die großen kommerziellen Netzwerke keine leichte Aufgabe. Wie hoch die Anforderungen durch den europäischen „Digital Services Act“ konkret sind, ist auch abhängig davon, wie dieser mit einer dezentralen Plattform umgeht. Trotzdem bleibt hier eine Schwachstelle. Zwar können etwa Mastodon-Server andere Server blockieren, trotzdem können sich extreme Bubbles freier bilden als in anderen Netzwerken. Auf der anderen Seite können einzelne Server theoretisch auch wieder so streng moderiert werden, dass sie zu einer sehr zensierten eigenen Blase werden.
Das Fediverse ist somit derzeit hinsichtlich Reichweite, Technik und Nutzungsqualität (noch) keine wirkliche Alternative zu den großen Sozialen Netzwerken. Aber für die Kirche könnte es sich lohnen, sich hier sowohl im Geist des Evangeliums als auch im Sinne des Gemeinwohls bei der Weiterentwicklung zu engagieren. Nötig sind dazu personelle Ressourcen und finanzieller Einsatz, um Server zu betreiben, Diskussionen zu moderieren beziehungsweise Inhalte zu filtern und sich vielleicht sogar an der technischen Weiterentwicklung zu beteiligen. Wer aber, wenn nicht die großen Kirchen in Deutschland, sollten sich ein solches Engagement leisten? Nicht nur, um datenschutzkonform kommunizieren zu können, sondern auch, um den ursprünglichen Zielen der Sozialen Medien wieder näher zu kommen. Zumindest die Beteiligung an öffentlichen Foren und Veranstaltungen zu diesem Thema läge nahe, genauso aber der Betrieb eigener Server zum Ausbau des Netzwerks.
Beteiligung am öffentlichen und fachlichen Diskurs
Dass das Konzept des Fediverse derzeit immer populärer wird, liegt wesentlich im Niedergang von Twitter begründet. Doch das Fediverse ist zugleich Ausdruck einer breiteren Bewegung, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Abhängigkeit von den großen Internetkonzernen zu reduzieren. Durchaus kritisch muss man deshalb bewerten, dass der Konzern Meta seine kürzlich eigene Twitter-Alternative namens Threads ebenfalls auf dem ActivityPub-Protokoll laufen lässt und damit auf einen Schlag zum größten Player im Fediverse geworden ist.
Es gibt aber neben dem Fediverse noch weitere Initiativen und Projekte, die Teil der Absetzbewegung von „Big Tech“ sind und deren Betrachtung oder Unterstützung sich lohnt – gerade für Institutionen wie die Kirche. Von Interesse kann hier etwa die „Beyond Platforms Initiative“ im Bereich der Mediatheken sein, die an einem neuen Mediensystem arbeiten will.
Organisationen und Einrichtungen wie die Kirche, denen Einheit unter den Menschen, gesellschaftlicher Friede, Dialog und eine Kultur des gegenseitigen Respekts wichtig sind, sollten sich dieser Entwicklungen bewusst sein und sich selbst als Teil davon begreifen. Denn es geht dabei um nicht weniger als um die Zukunft eines Internets, das nicht nur von wenigen kommerziellen Konzernen dominiert und kontrolliert wird - um eine Bewegung, die sich an die Euphorie der Anfangstage des Mediums erinnert und daran, dass man die Hoffnungen, die einmal mit diesem Menschen verbindenden Netz verbunden waren, nicht zu schnell aufgeben darf.