Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerien hat Vorschläge zur Behebung des Lehrkräftemangels vorgelegt. Gelänge es, dass alle 447.000 Teilzeitlehrkräfte ihr Deputat aufstocken, käme man auf mehr als 200.000 zusätzliche Vollzeitstellen. Tolle Idee. Schon wabert in den Kommentaren das Klischee von den „faulen Säcken" unausgesprochen herum: „Liebe Lehrer, eine Frage … Ob es angesichts der aktuellen Lage akzeptabel ist, dass mehr als 100.000 Lehrerinnen und Lehrer weniger als 50 Prozent arbeiten …?“ Das gehöre zu den Fragen, die man jetzt den Lehrern stellen müsse (SZ, 28./29.01.23, S.4).
Man könnte – auch das wird ernsthaft diskutiert – größere Klassen einrichten. Oder pensionierte Lehrkräfte aus dem Ruhestand zurückholen. Studenten könnten Klassenarbeiten korrigieren, Sozialarbeiter die erzieherischen Aufgaben und entsprechende Leistungen bei der Kommunikation mit Elternhäusern übernehmen. Lehrer könnten bei der Organisation von Klassen- und Kursfahrten, bei der IT-Betreuung etc. durch die Einstellung von Verwaltungspersonal entlastet werden und so weiter. Tja. Das kann man sich alles denken. Ich glaube aber nicht daran, dass das wirklich funktioniert, aus vielen guten Gründen. Vor allem: Lehrer sind eben nicht nur Fachleute für Unterricht. Bildungserfolg hängt zu mehr als 80 Prozent von der Qualität der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden ab, nur zu einen sehr geringen Prozentsatz von der gewählten Unterrichtsmethode. Das setzt analoge Präsenz nicht nur im Klassenzimmer voraus, sondern auch Empathie, Verfügbarkeit und Ansprechbarkeit als Grundhaltung, jeden Tag.
Bildung ist Persönlichkeitsbildung. Diese fordert Engagement über berechenbare Größen hinaus – weswegen finanzielle Anreize auch nicht viel helfen. Egal, ob Teilzeit oder Vollzeit: Die wahren Sorgen um die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen nehmen Lehrkräfte unabhängig von der Größe des Lehrdeputats mit in den Schlaf hinein. Der Lehrberuf ist eben etwas für Idealisten, für Personen, die bereit sind, sich auf die Lebenssituationen und -schicksale der Kinder und Jugendlichen einzulassen, die ihnen anvertraut sind. Da hilft alles Rechnen und Steuern von oben nichts.
Im Bericht der SWK steht ebenfalls der Hinweis, dass der Lehrkräftemangel, wenn überhaupt, durch die vorgeschlagenen Maßnahmen nur kurzfristig begrenzt werden könne. Eine wirkliche Sanierung des Problems werde aber mindesten 20 Jahren dauern. Da kann ich nur zustimmen. Aber: Damit sind wir doch bei der Grundsatzfrage angekommen, die über das momentane Krisenmanagement hinausreicht: Warum gibt es überhaupt den Lehrkräftemangel? Geht es „nur" um die Behebung des Lehrkräftemangels? Dann werden wir den Mangel nicht beheben. Die Frage lautet doch: Wozu eigentlich will unsere Gesellschaft Lehrer haben? Nur die Antwort auf diese Frage motiviert junge Männer und Frauen, den Lehrberuf anzustreben – oder ihn eben zu meiden.
Genau da müsste sich die SWK ja auch mal selbst an den Kragen fassen. Sie gehört selbst zu den Akteuren, die diese Entwicklung seit mehr als 20 Jahren mitverantworten. Spätestens seit dem „PISA-Schock" haben auch die Tonangeber in der SWK Erziehungs- und Lehrkräfte in Kitas und Schulen in einen Reformzirkus hineingetrieben, der sie mit nachgeordneten Problemen und einer irren Aufblähung der Bürokratie beschäftigte. Sie haben mit dafür gesorgt, dass sich nun auch das Bildungssystem in jenem Zustand des „rasenden Stillstands" (Hartmut Rosa) befindet, der die Gesellschaft insgesamt charakterisiert: Beschleunigungszwang, um den Status quo zu halten. Katastrophenszenarien ohne Perspektiven nach vorne.
„Politics follows science“ funktioniert offensichtlich auch in der Bildungspolitik nicht. Es sind einige Wertentscheidungen zu treffen, denen sich weder Politik noch Gesellschaft entziehen können. Dazu gehört eine Verständigung über die Frage, worin die Attraktivität des Lehrberufes eigentlich liegen soll. Ich meine, er ist dann der schönste Beruf der Welt, wenn er einen Zweck verfolgt, dem man sein Herz ganz hingeben kann.