Vorbild heilige UrsulaSouverän und unabhängig

Annette Schavan, Bundesministerin a.D., hielt anlässlich der Festtage der Stadtpatrone Ursula und Gereon in Köln in der Sonntagsvesper die Festpredigt. Wir dokumentieren eine leicht geänderte Fassung. Schavan stellt Souveränität, Martyrium und Bildung als wesentliche Merkmale der heiligen Ursula vor.

Festpredigt Annette Schavan in St. Gereon anlässlich der Festtage der Stadtpatrone Ursula und Gereon in Köln
© Georg Thünemann

Es ist gerade ziemlich ungemütlich – egal, wohin wir schauen. Konsens geht verloren. Wir leben in Blasen, die die Verbindung zum Gemeinwesen verloren haben. Richtig ist, was wir richtig finden. Die Mitte wird kleiner, die Ränder größer. Leise Töne werden überhört. Wer gehört werden will, spitzt zu, wird laut und schreit. Kompromisse sind verpönt, Klartext wird gefordert – auch dort, wo nichts so klar ist, wie behauptet. Das ist so in Kirche und Welt!

„Wir leben nicht in einer Zeit des Wandels, sondern erleben den Wandel einer Ära“ – kommentiert Papst Franziskus diese Gegenwart (vgl. Tomáš Halík, Der Nachmittag des Christentums, Freiburg 2022). Immer mehr wird deutlich, dass Erneuerung in vielfacher Hinsicht auch eine Frage der Demut gegenüber einer neuen Ära ist. Zugleich ist sie anspruchsvoll. Sie verunsichert. Sie wirft Fragen auf. Gewohnheiten müssen aufgegeben, vertraute Räume verlassen werden. Die Aufgabe der Erneuerung kann überfordern, wenn die Zukunft eher gefürchtet wird. Manche tun ja auch in der Kirche schon so, als gehörten wir zur letzten Generation. Da scheint es dann, als könne die Zukunft nichts Gutes bringen – so, als sei das Gute verspielt. Karl Rahner hat schon vor 50 Jahren davon gesprochen, dass die Vitalität und Überzeugungskraft der Kirche schwindet, wenn sie das Neue und Zukünftige fürchtet. In der Zukunft aber, so Rahner, liegt für Christen und Christinnen die eigentliche Provokation. (vgl. Schriften zur Theologie, Band 14).

Vielleicht geht es genau darum: dass wir uns provozieren lassen! Stadtpatrone, um die sich Legenden ranken, sind ja auch eine Provokation. Der Katholizismus hat das Talent, auch aus solchen Provokationen schöne Feste zu machen – mit viel Weihrauch, mit wunderbarer Kulisse und ebensolcher Musik, mit Schreinen und Prozessionen. Das liebe ich am Katholisch-sein. Dafür ist Rom ein Paradies! Wir wissen nicht, ob unsere Stadtpatrone gelebt haben und auch nicht so genau, was in den Schreinen liegt. Das ist aber auch nicht wichtig. Die Tradition weiß um die Kraft, die von der Verehrung ausgeht – das macht die Faszination aus und provoziert uns zugleich. Darin liegt der Grund, warum auch wir den Schutz der Stadt Köln und ihrer Bürgerinnen und Bürger bei den Heiligen Ursula und Gereon erbitten. Wir stellen uns damit in eine jahrhundertealte Tradition des Glaubens und der Hoffnung. Und wozu lassen wir uns provozieren?

Mit den Heiligen ist es so eine Sache. Bei manchen beginnen alle Beschreibungen über ihr Leben mit den Worten: „Der Legende nach …“ Was dann kommt, zieht Menschen seit Jahrhunderten an und ist der Stoff für eine große Verehrungsgeschichte. So ist das auch bei der hl. Ursula. In Köln muss ich die Legende nicht erzählen. Ich versuche mit drei Sätzen zu sagen, was uns heute besonders interessieren und auch provozieren kann. Erstens: Die hl. Ursula hat ihre innere Unabhängigkeit und Souveränität hoch zu schätzen gewusst. Zweitens hat sie hat das Martyrium erlitten. Drittens hat ihr Leben im Werk der Ursulinen eine Bildungsbewegung ausgelöst, die bis in unsere Tage hinein wirkt.

Souverän und unabhängig

Zu allen Zeiten wurde keine Mühe gescheut, Frauen ihre Unabhängigkeit und Souveränität auszutreiben. Vielen blieb nichts anderes übrig, als sich den Abhängigkeiten zu beugen, die andere für sie vorgesehen haben. Bis in die Siebzigerjahre mussten in Deutschland Frauen von ihren Ehemännern eine Erlaubnis erbitten, wenn sie berufstätig sein wollten. Die Erlaubnis musste schriftlich vorgelegt werden. Zu allen Zeiten gab es aber auch Frauen, die ein feines Gespür für die Kraft hatten, die mit ihrer Souveränität verbunden war. Das waren Kräfte mit großer Wirkung. Zwei Beispiele nenne ich.

Katharina von Siena, Kirchenlehrerin, Patronin Italiens und seit 1999 auch eine Patronin Europas, überzeugte Papst Gregor XI., 1376 von Avignon nach Rom zurückzukehren; sie wirkte zwei Jahre später für eine Friedenslösung, als eine Kirchenspaltung drohte. Von ihr stammt die schöne und zeitlos gültige Empfehlung: „Wartet nicht auf die Zeit, denn die Zeit wartet nicht auf euch.“

Edith Stein ist auch eine Patronin Europas, deren souveräne Intellektualität als Philosophin ein umfangreiches wissenschaftliches Werk hervorbringt. Sie gehört zu Köln, ist hier in Lindenthal 1933 in den Karmel eingetreten und gehört – gemeinsam mit der hl. Ursula – zum „Kölner Himmel“ an dem wunderbaren Turm des Historischen Rathauses. Sie wird von den Nazis umgebracht – eine heilige Frau des 20. Jahrhunderts, eine Jüdin, die katholisch wird, eine Philosophin, die in einen Karmel eintritt, eine Frauenrechtlerin, die in den so unterschiedlich geprägten Phasen ihres Lebens ihre Souveränität lebt.

Es gibt so viele weitere großartige Beispiele von Frauen in der Geschichte des Christentums und unserer Kirche, die Geschichte geschrieben haben – übrigens mehr als zahlreiche Bischöfe zu allen Zeiten.

Es gab schließlich, worauf Hubert Wolf, Kirchenhistoriker aus Münster, Äbtissinnen, denen Landrechte und Bischöfe unterstellt waren. Das entsprechende Kapitel in seinem Buch „Krypta“ liest sich wie ein Krimi. Vom frühen Mittelalter bis in die frühe Neuzeit gab es „zahlreiche Äbtissinnen …, die eine umfassende geistliche Vollmacht wahrnahmen“ (Hubert Wolf, Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte, München 2015, 49). Ein herausragendes Beispiel, das Wolf nennt, sind die Zisterzienserinnen in der Abtei Las Huelgas bei Burgos in Spanien. Wolfs Beschreibung der Weihe der Äbtissin lässt ahnen, was in unserer Tradition so alles steckt: „Nach ihrer Weihe (zur Äbtissin) wird sie zum Zeichen ihrer Amtsübernahme auf den Altar gesetzt. Anschließend nimmt sie auf einem Thronsessel unter einem Baldachin Platz. Sie trägt dabei ein Gewand, das an einen Rauchmantel erinnert, und auf dem Kopf eine Mitra. An ihrem Finger steckt ein Ring, in der Hand hält sie einen Krummstab. So empfängt sie die Bischöfe der Nachbardiözesen, die ihrer neuen „Collega“ die Referenz erweisen und den brüderlichen Kuss geben“ (45). Sie, die Äbtissin, war die Landesherrin; ihr unterstanden die 70 Pfarreien; sie besetzte Stellen; ihr unterstand der Klerus. So war das! Auch das gehört zur katholischen Tradition. Daran kann die synodale Kirche der Zukunft anknüpfen. Das muss nicht neu erfunden werden.

Das Martyrium

Zu allen Zeiten sind Menschen wegen ihres Glaubens verfolgt, terrorisiert und getötet worden. Das Martyrium der hl. Ursula erinnert uns daran. Das ist so bis in unsere Tage hinein. Die Christenheit ist heute die am meisten verfolgte Religion weltweit. In China sind es die Uiguren und auch in anderen Teilen der Welt toben Auseinandersetzungen zwischen Religionen oder solche von Autokraten gegen Religionen. Autokraten neigen dazu, Religionen nur zuzulassen, wenn sie sich instrumentalisieren lassen. Das erschreckende Beispiel unserer Tage bietet der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill, der den Angriffskrieg Wladimir Putins auf die Ukraine einen „heiligen Krieg“ nennt, ihm Rückendeckung gibt und damit seine stolze russisch-orthodoxe Kirche zur Kumpanin von Folter und Zerstörung macht.

Wir beschäftigen uns in Deutschland viel mit der Gleichgültigkeit, die dem Christentum entgegengebracht wird, und mit dem Autoritätsverlust der Kirche, der rasant fortschreitet. Was auf dem Spiel steht, wird uns deutlich, wenn wir uns mit den Geschichten von Verfolgung und Martyrium beschäftigen. In Rom hat die Gemeinschaft Sant’Egidio die Kirche San Bartolomeo all’Isola als Gedenkkirche für die Märtyrer des 20. Jahrhunderts gestaltet, in der Reliquien und Gedenkstücke der Märtyrer zu sehen sind, beispielsweise das Messbuch von Erzbischof Oscar Romero. Wenn ich durch diese Kirche gehe, dann erkenne ich, wie das Martyrium das Christentum bis in unsere Tage hinein prägt. Wenn Menschen zu allen Zeit für ihren Glauben sterben, kann er uns dann gleichgültig sein?

Die Ursulinen und eine Bewegung für Bildung

Die „Gesellschaft der heiligen Ursula“ – die Ursulinen – wurde 1535 in Brescia von Angela Merici gegründet. 1639 kamen die ersten Ursulinen nach Köln und gründeten das erste Kloster auf deutschem Boden. Sie stehen für eine erfolgreiche Bildungsbewegung über die Jahrhunderte, die Mädchenbildung leistete. Im Mittelalter hatten Mädchen ausschließlich in Klöstern Zugang zur Bildung. Ab dem 16. Jahrhundert gründeten sich Frauenorden wie die Ursulinen, die Katharinerinnen und die Englischen Fräulein und gründeten Schulen.

Die Begeisterung dieser Frauen für die Bildung ist heute so wichtig wie damals. Sie wussten, der Zugang zur Bildung ist ein Schlüssel. Das ist heute nicht anders. Sie wussten, wer Menschen ernst nimmt, braucht Begeisterung für Bildung. Auch das ist heute nicht anders. Es gibt tolle Schulen und viele tolle Lehrerinnen und Lehrer! Die Stimmung ist dennoch mies und führt dazu, dass junge Leute nicht mehr in den Lehrberuf möchten. Dabei braucht die Schule die Besten eines Jahrgangs. Es ist Zeit für eine neue Begeisterung für Bildung und für interessante Lernkulturen. Wir müssen uns Schule anders vorstellen als zu unserer Schulzeit. Nach der Zusammensetzung der Schülerschaft haben wir heute fast überall in Deutschland internationale Schulen. Das hat Konsequenzen für viele Fächer, für die Sprachen, für Geschichte, Politik und Religion. Kinderwelten und Lernwelten passen vielfach nicht mehr zusammen. Es ist Zeit für einen Aufbruch, wie ihn die Ursulinen gewagt haben. Der Aufbruch besteht nicht vor allem aus Digitalisierung. Dazu gehören auch Kunst und Kultur, Musik und Literatur. Bildung also, bei der Kinder und Jugendliche sich auch erproben können und dann manchmal überrascht sind, was alles geht.

Die Gesellschaft der heiligen Ursula, wie sie anfangs hieß, wusste, die Souveränität von Menschen braucht diesen Schlüssel, der mit Bildung verbunden ist. Wohlstand ersetzt Bildung nicht. Es ist eine starke Seite der Frauenorden und der Kirchen insgesamt, der Bildung breiten Raum zu geben. Das steht an mancher Stelle auf der Kippe. Es darf aber nicht kippen. Es braucht neue Bildungsideen in der synodalen Kirche der Zukunft. Dann kann sichtbar werden, wie ernst diese Kirche und das Christentum insgesamt den Menschen nimmt und auch, dass wir heute, wie damals, als die Ordensfrauen anfingen, Pioniere sein können – also: nicht immer hinterherhinken, mal ganz vorne sein! Die heilige Ursula kann uns – wenn wir uns denn von ihr und ihren Wirkungen provozieren lassen – ganz schön in Bewegung bringen. Schön wär’s!

Festtage der Stadtpatrone Ursula und Gereon in Köln

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