Gnosis (griechisch = Erkenntnis) hat einen christlichen Sinn und bedeutet dann die charismatische, zum Glauben gehörende, von der Liebe umfaßte Erkenntnis, die im NT dem vollkommenen »geistlichen« Menschen, der im göttlichen Pneuma ist, zugeschrieben wird, in welcher ein Mensch letztlich die unbegreifliche Liebe Gottes immer mehr glaubend »begreift« und sich so immer mehr von dieser Liebe als dem Eigentlichen und Endgültigen ergreifen läßt. Daß die Sprache des NT sich dabei derjenigen aus einer gnostischen Umwelt annähert oder von ihr lebt, ist der Sache nach unerheblich und wird weiter erforscht.
In einem fachwissenschaftlichen Sinn bezeichnet Gnosis ein religiöses Geheimwissen, das »erlösende Erkenntnis« vermittelt. Gnostizismus heißt nach neuerem wissenschaftlichem Sprachgebrauch eine Gruppe religiöser Systeme (in besonderem Zusammenhang mit den Mysterien) und Konventikel, die im 2. und 3. Jh. n.Chr. in der spätantiken Mittelmeer-Kultur und im Nahen Osten ihre Blütezeit erlebte. Die Erforschung dieses Gnostizismus erhielt durch immer neue Textfunde bis zur Gegenwart bedeutende Impulse. Er entstammt nicht einer einzigen geistesgeschichtlichen Quelle; seine Entstehungsbedingungen werden weiterhin diskutiert. Seine verschiedenen Strömungen kommen in etwa darin überein, daß ein gutes, unerkennbares, im Pleroma des jenseitigen Lichtreichs existierendes, in Emanationen (Hypostasen) sich »äußerndes« und ein böses, die diesseitige Finsterniswelt beherrschendes Urprinzip in strengem Dualismus gegen einander stehen. Das »Selbst« als pneumatischer Wesenskern des Menschen ist wegen der tragischen Spaltung der Gottheit als Funke des göttlichen Lichts in die materie-bestimmten Kerker des Leibes und der Welt verbannt, von astrologischen Gesetzen und Sexualität beherrscht. Befreiende Erkenntnis geschieht in der Selbst-Erinnerung des Selbst, das durch Geisteskraft erlöst wird.
In der christlichen Version der Gnosis wird letztere dem sich zum Schein in Menschengestalt verbergenden Erlöser zugeschrieben. Diese theologischen, kosmologischen und anthropologischen Lehren werden im Gnostizismus auf verschiedene Weise in Mythen formuliert, die der Umwelt entnommen und allegorisch umgedeutet werden und den Kernbestand des elitären Geheimwissens darstellen. Der christliche oder christianisierte Gnostizismus wurde (nach neuerer Ansicht wohl noch nicht im NT) als gefährlichster Gegner der frühen Kirche angesehen, weil er durch echte religiöse Erfahrungen imponierte. Die Auseinandersetzung mit ihm führte zur Ausbildung einer theologischen Systematik (Sicherung der apostolischen Tradition: Successio apostolica, Bildung des biblischen Kanons, positive Auffassung der Schöpfung, Lehre von der menschlichen Verantwortung gegenüber einer schicksalhaften Prädestination, Geschichtlichkeit der Inkarnation und Wahrheit des Leidens Jesu Christi, Realität der leiblichen Auferstehung der Toten). Als nicht mehr rechtgläubige Gnostiker gelten in der Frühzeit vor allem im Osten Menander, Satornil und Basilides, in Rom Valentinos und der Antisemit Markion im 2. Jh. Die Hauptvertreter der Auseinandersetzung auf christlicher Seite sind in apologetischer Absicht Justin († um 165), Irenäus von Lyon († um 202) und Hippolyt zugeschriebene Schriften des 3. Jh. sowie die konstruktiven Gegenpositionen zur Gnosis bei Klemens von Alexandrien († nach 215) und Origenes († um 253), die den »vollkommenen Christen« als den »wahren Gnostiker« aufzuzeigen versuchten. – Gnostisches Gedankengut lebte im Manichäismus und in von ihm beeinflußten mittelalterlichen Strömungen weiter. Moderne Gnostizismen, auch auf »Geheimwissen« konzentriert, finden sich in Theosophie und Spiritismus des 19. Jh. und in der Esoterik des 20. Jh., die durch Synkretismus (nach-christliche Auswahlreligiosität) gekennzeichnet ist.