Hermeneutik (griechisch = die Lehre vom Verstehen), die mit der Begegnung der Kulturen gegebene Notwendigkeit und Methodik der Geisteswissenschaften, sich das Andersartige, vor allem Texte, durch Verstehen zu erschließen.
Die Frage kann sich auf das Erfassen von Sinn und Bedeutung richten oder zusätzlich nach der Wahrheit des Fremden fragen. Die Philosophie der neuesten Zeit versucht, den Grund für die Möglichkeit von Verstehen reflektierend zu klären.
In der Antike, auch im Judentum und Christentum, wurde bei der Interpretation nicht mehr dem unmittelbaren Verstehen zugänglicher Texte der Zugang über die Allegorie versucht; in der Bibelexegese wurde die Theorie der Schriftsinne entwickelt. Neue geistesgeschichtliche Epochen machten immer neue Methoden und Theorien der Hermeneutik erforderlich. M. Luther († 1546) hielt an der Möglichkeit fest, dass die Heilige Schrift auch im einzelnen selber den Sinn und die Wahrheit erschließe, so dass sie sich selber interpretiere, eine Auffassung, der sich der immer stärker werdende Anspruch des katholischen Lehramts auf verbindliche Schriftauslegung widersetzte.
Mit dem Durchbruch geschichtlichen Denkens im 19. Jh. (Geschichtlichkeit) bahnte sich auch in der Theologie eine größere Wissenschaftlichkeit der Hermeneutik an, die für die Sinnerfassung unentbehrlich ist, ohne dass die Fragen nach der Wahrheit und dem normativen Anspruch der Schrift allein dem Kriterium der Vernunft untergeordnet würden.
Die hermeneutische Diskussion in der Philosophie des 20. Jh. (M. Heidegger †1976; H.-G. Gadamer † 2005) hat das große Verdienst, aufgezeigt zu haben, dass jedes Verstehen durch ein »Vorverständnis« (seien es kulturelle Kontexte und Traditionen, seien es »Vor-Urteile«) und durch den dialogischen Charakter geprägt ist. Diese Einsichten wurden und werden auch auf nicht-philosophische Wissenschaften bezogen.
In der gegenwärtigen theologischen Systematik werden wesentliche hermeneutische Aspekte in der Aufmerksamkeit für die Analogie jeder theologischen Aussage, für die je individuelle Überzeugungskraft des Glaubenssinns und für die Geschichtlichkeit und Kontextualität jeder Wahrheitserkenntnis (auch in der Feministischen Theologie) thematisiert. Die polyzentrische Situation des Christentums erschwert die hermeneutischen Anstrengungen durch den Pluralismus der Kulturen und Mentalitäten ungemein; der Fundamentalismus verweigert sich prinzipiell jeder Hermeneutik, da er Vor-Urteile ungeprüft übernimmt und am Verstehen von Fremdem nicht interessiert ist.