Liebe Maria!
Gerade gestern habe ich eine Reportage gesehen. Ein Kamerateam hat über mehrere Jahre das Leben und Sterben eines Jungen begleitet, der an einer seltenen Erbkrankheit leidet. Wenn die Krankheit ausbricht, demontiert sie nach und nach die Persönlichkeit. Die Sinne und Fähigkeiten gehen auf heimtückische Weise schleichend oder über Nacht verloren. Die Mutter berichtet auf bewegende Weise über den Prozess, die Øngste, Sorgen und Nöte, sie beschreibt, was ihr geholfen hat und wie sie die verbleibende Zeit mit ihrem Kind gestaltet hat. Im letzten Bild steht sie weinend auf einem Schiff, das die Urne mit der Asche ihres Sohnes aufs Meer hinausbringt.
Wir sind es gewohnt, alle möglichen freudigen Ereignisse zu feiern.
Neben den Geburtstagen und Familienanlässen haben wir den Valentinstag, den Weltkindertag, einen Tag der den Frauen gewidmet ist und, damit es gender-gerecht zugeht, auch einen für die Männer, für Gleichgeschlechtliche und demnächst bestimmt auch für Diverse. Schulanfänge werden inzwischen gefeiert wie runde Geburtstage und Schulabschlüsse führen zu wochenlangen Gelagen der jungen Leute und festlichen Auftritten in großer Robe.
Mit der feierlichen Gestaltung dunkler Tage tut man sich in unserer Gesellschaft schwerer. Trauriges steht nicht auf der weltlichen Liste der zu feiernden Anlässe. Über Leid wird wenig gesprochen. Es gibt Spezialeinrichtungen und Fachleute dafür. Die noch vor zwei Generationen üblichen Rituale sind aus der Mode gekommen, aber es hat sich nichts Neues entwickelt, was den Sinn des Althergebrachten aufgreift. Nach Beerdigungen gab es früher den Leichenschmaus. Der Begriff klingt für uns befremdlich, aber die Idee war gut: Nach dem schmerzlichen endgültigen Abschied vom Verstorbenen, nach seiner Grablegung wurde sich wieder dem Leben zugewandt und beim gemeinsamen Essen kamen freudige Momente in Erinnerung, die sich mit der gemeinsam verbrachten Zeit verbanden. Heute steht unter fast jeder Todesanzeige: »Anschließend gehen wir in aller Stille auseinander.«
Wir Christen sind da eine Minderheit mit unserer Darstellung des Leidens und Sterbens Jesu. Weil seine Passion als Erlösungstat gilt, hat sie einen besonderen Stellenwert. Unzählige Darstellungen in Kunst, Musik und Literatur thematisieren den Kreuzweg und den Karfreitag. »Durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst«, beten wir am dunkelsten Tag des Kirchenjahres.
Aber du, liebe Maria, warst ebenfalls direkt betroffen, konntest dich nicht entziehen und nicht, wie heute üblich, Distanz wahren und dich abgrenzen. Du stehst stellvertretend für alle mütterlichen Menschen, für alle, die sich auf das Lieben und Mit-Leiden einlassen. Vielleicht ist der Gedenktag deiner Schmerzen ein Tag der Würdigung all der Menschen, die nicht flüchten, wenn es hart wird und wehtut. Auch du hast durch deine Teilnahme am Kreuzweg die Welt erlöst. Du hast den leidenden Menschen nicht der Einsamkeit überlassen. Drei deiner sieben Schmerzen beziehen sich auf das Ende von Jesu Leben. Als Mutter hast du schon vorher viel aushalten müssen. Die Weissagung des greisen Simeon im Tempel: »Dir aber wird ein Schwert durch die Seele dringen« ist immer wieder Wirklichkeit geworden.
Du bist die Mutter einer Familie »mit Fluchthintergrund«, wie das heute heißt. Du musstest mit Mann und Kind bei Nacht und Nebel vor lebensbedrohlicher Gefahr fliehen und dich in der Fremde verstecken.
Du hast auch die Fremdheit deines heranwachsenden Sohnes schmerzlich ertragen müssen, als er auf der Wallfahrt nach Jerusalem tagelang verschwunden war und diese rätselhafte, flapsig anmutende Antwort gegeben hat: »Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?« (Lk 2,49)
Später hat er dich zurückgewiesen, als du ihm sagtest, dass der Wein auf der Hochzeit ausgegangen ist. Er hat sich von seiner Familie abgegrenzt und die Gemeinschaft der Glaubenden an ihre Stelle gesetzt.
Tausendfach werden Eltern solche Schmerzen zugemutet. Sie wollen bewahren und werden konfrontiert. Sie wollen begleiten und bleiben im Regen stehen. Vielleicht gehört das zum Erwachsenwerden der Kinder dazu – aber wenn es zum Verhängnis wird, in den Abgrund und ans Kreuz führt, ist es kaum auszuhalten.
Wir können uns von dir ermutigen lassen, durchzuhalten und dranzubleiben. Nicht, um zu bevormunden und Kontrolle auszuüben, sondern weil die Liebe es erfordert.
Die Liebe, die du uns Christinnen und Christen vorlebst, ist kompromisslos. Sie sagt: »Für immer, egal was kommt, für alle guten und schlechten Zeiten, nicht nur bis der Tod uns scheidet, sondern bis wir uns danach wiedersehen…«.
Ich freue mich darauf, dich anzutreffen, in dieser und der kommenden Welt!
Ein Mitglied deiner Frauengruppe
Regina Groot Bramel