Zwischen den Zeilen
Wo bist du, Gott -
wenn ich morgens die Zeitung aufschlage,
von Mord und Totschlag lese,
von Naturkatastrophen und Wahlsiegen,
die einem eine Gänsehaut über den Rücken jagen?
Wo bist du, Gott-
zwischen den Kalenderblättern des einundzwanzigsten Jahrhunderts,
dem ersten gottlosen Jahrhundert nach Christus,
wie manche es nennen, in dem alles Erdenkliche möglich scheint
und doch so wenig geht- so vieles auf der Strecke bleibt?
Wo bist du, Gott-
in keiner Zeile auf der Seite mit den Todesanzeigen,
wo nur noch zu lesen ist, dass er ein schönes Leben hatte,
sie viel zu früh aus unserer Mitte gerissen wurde
und wir nach der Trauerfeier in aller Stille auseinandergehen?
Wo finde ich dich, Gott -
zwischen den getakteten Abschnitten des Tagesgeschehens,
im Stau auf dem Weg zu einem Arbeitsberg, der immer wächst,
zwischen dem Telefongeklingel und den nervigen Pflichten,
abends auf dem Sofa, wenn die Tagesschau uns das Fürchten lehrt?
Ich will nicht ohne dich durchkommen müssen, Gott -
will nicht aufhören, nach dir zu suchen, die Spur zu verfolgen,
die den Weg aus der Spannung zwischen Wollen und Können,
Gut und Böse, Arm und Reich, Erfolg und Niederlage aufzeigt
und meinem Handeln Sinn gibt, für den es sich lohnt, auch heute!
Mitunter, wenn ich wirklich suche, finde dich, Gott -
zwischen den Zeilen des Tages, einen Atemzug lang am offenen Fenster,
hinter der Kulisse der Normalität, wenn kein Theater mehr gespielt,
nicht länger der vorgeschriebene Text abgelesen, nachgeplappert wird,
in einem deiner Worte, das zu mir spricht, und im Schweigen. Danke.
Christliche Werte auch heute?
Es sieht aus, als habe das »christliche Abendland« aufgehört zu existieren. An seine Stelle ist eine säkularisierte, multikulturelle, durch moderne Kommunikationswege völlig neu vernetzte Gesellschaft dabei, sich zu entwickeln. Ein vorläufiges Ende dieses weitreichenden Prozesses ist noch längst nicht in Sicht.
Bei aller Unterschiedlichkeit der Weltanschauungen und Lebensstile besteht Einigkeit darüber, dass Menschen ein Wertesystem benötigen, um sich orientieren zu können. Es ist viel schwieriger als noch in der Mitte des letzten Jahrhunderts, sich innerhalb der beständig anwachsenden Vielfalt von Möglichkeiten und Angeboten zurechtzufinden, im sich selbst überholenden Tempo der Veränderung Schritt zu halten und begründete Entscheidungen zu treffen.
Menschen streben nach einem Sinn in ihrem Leben, daran hat sich nichts geändert. Aber es besteht kein gesellschaftlicher Konsens mehr bezüglich der Werte, für die es sich zu leben lohnt.
Gibt es einen christlichen Konsens, einen Verhaltenskodex, der die Umwälzungen überdauert, sich immer neu deuten lässt und der Welt mit allen ihren offenen Fragen und brennenden Problemen standhält? Gibt es ein konkretes christliches Konzept, das sich verständlich und anwendbar auch »Uneingeweihten«, suchenden Menschen ohne Vorkenntnisse, erschließt, ohne sie zu indoktrinieren?
Es mag viele Antworten auf diese Frage geben, viele Zitate aus dem Buch der Bücher, die sich anbieten. Die vorliegende Gottesdienstreihe bezieht sich auf Matthäus 25,31-40, die Erzählung vom Weltgericht, ein farbenprächtiges Gemälde zum Motiv eines Lebensweges mit christlichen Wegweisern.
Leibliche und geistliche Werke
Im vergangenen Jahr der Barmherzigkeit beschäftigten sich katholische Christen in aller Welt mit den Forderungen dieses Evangeliums. Zu den sieben klassischen Werken der Barmherzigkeit zählen:
Hungrige speisen- Durstige tränken- Fremde beherbergen- Nackte kleiden- Kranke pflegen- Gefangene besuchen- Tote bestatten.
Diese dem Bibeltext entnommenen Aufträge haben in unserer Zeit nichts an Aktualität eingebüßt. Aber auch im übertragenen Sinne sind die Aufforderungen zur Barmherzigkeit Grundwerte für ein »liebe-volles« Leben. Einige Gemeinden und Arbeitskreise haben weitere »geistliche Werke der Barmherzigkeit« benannt:
Unwissende lehren- Zweiflern raten- Trauernde trösten- Sünder zur Umkehr ermutigen- denen verzeihen, die uns beleidigen- Lästige ertragen- für alle Menschen beten.
Das sind gute Gedanken und Vorsätze, die das Zusammenleben in einem neuen Licht erscheinen lassen. Wichtig ist es, dabei die richtige Reihenfolge im Blick zu behalten, denn der Geist ist bei vielen Mitmenschen erst willig, wenn das Fleisch nicht mehr schwach ist!
Warme Worte machen nicht satt
Wer Hunger hat, möchte nicht mit frommen Sprüchen abgespeist werden.
Wenn der Magen so laut knurrt, übertönt er die Frohe Botschaft.
Wer Durst hat, muss sich vor der Predigt erfrischen.
Obdachlose können nicht einstimmen, wenn es heißt: Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach …, und Nackte wünschen sich keine warmen Worte, sondern wärmende Kleidung!
Wer im Gefängnis ist, braucht den Kontakt zur Außenwelt und Kranke sehnen sich nach der Berührung eines ihnen zugewandten Menschen.
Den Toten mag es egal sein, wer sie bestattet, aber die trauernden Angehörigen empfinden Trost in der Solidarität am offenen Grab.
Bei der Betrachtung der barmherzigen Werke gehört beides zusammen- der Leib und die Seele des Menschen.
Die entscheidende Frage nicht erst zum Schluss
Ältere Menschen werden andere innere Bilder mit der Szene vom Weltgericht verbinden als Jugendliche. Sie fragen sich bei den Worten des Matthäus vielleicht, ob die Summe der Liebe in ihrem Leben für die ewige Seligkeit ausreicht? Alleinstehende fühlen sich möglicherweise ratlos und leer, weil sie ein Gegenüber vermissen, das auf ihre Liebe wartet. Die Gottesdienstleiterin kann in der Einführung darauf eingehen, dass mit dem geschilderten Geschehen das Ende des persönlichen Lebens gemeint sein kann, aber nicht ausschließlich gemeint sein muss. Jede Art der liebevollen fürsorglichen Begegnung mit allem, was lebt, hat Platz im Evangelium vom Weltgericht. Im weitesten Sinne ist die Haltung der Offenheit, der aufmerksamen Wahrnehmung über die Grenzen der eigenen Person hinaus gemeint.
Die Betrachtung des Lebensweges gehört nicht nur zur Stunde unseres Todes. In der konkreten Gegenwart, am Abend eines jeden Tages passt die Frage, die vielleicht auch die letzte, einzige und ausschlaggebende Frage vor Gottes Angesicht sein wird: »Wie hast du es mit der Liebe gehalten?«
Struktur der Gottesdienste
- Eröffnungslied und Gebet
- Gemeinsames Lesen des Textes Mt 25,31-40
- Aktualisierender Impuls zu einem der barmherzigen Werke
- Denk-Anstöße, Austausch und Vorsätze
- Fürbitten
- Vaterunser
- Segen
- Lied
Je nach Zielgruppe kann der Ablauf angepasst werden.
Regina Groot Bramel