Es entspricht nicht der Realität, davon auszugehen, dass Gewalt in der Kita nicht vorkommt. Vielmehr müssen die Mitarbeiter*innen auch für minder schwere und manchmal subtile Formen der Verletzung des Rechts jedes Kindes auf gewaltfreie Erziehung sensibilisiert werden.
Gesetzliche Grundlagen
Zum Auftrag jeder Kita gehört es gemäß § 1 Abs. 3.3 SGB VIII, Kinder vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Einzelheiten des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung sind in § 8a SGB VIII niedergelegt. Das Kinderschutzkonzept ist Bestandteil der Konzeption, die der Träger gemäß § 45 Abs. 3.1 SGB VIII zur Erlangung der Betriebserlaubnis vorweisen muss. Für Kitas in kommunaler Trägerschaft ist außerdem § 79a SGB VIII bedeutsam, demzufolge der Träger „Qualitätsmerkmale für die Sicherung der Rechte von Kindern […] in Einrichtungen und ihren Schutz vor Gewalt“ entwickeln, anwenden und regelmäßig überprüfen muss.
Treten in einer Kita Ereignisse oder Entwicklungen auf, die das Wohl der betreuten Kinder beeinträchtigen, ist der Träger nach § 47 Abs. 2 SGB VIII verpflichtet, die Vorfälle umgehend der zuständigen Aufsichtsbehörde (Landesjugendamt) zu melden. Diese Meldepflicht tritt also nicht erst im Falle einer Gefährdung, sondern bereits bei der Beeinträchtigung des Wohls eines oder mehrerer Kinder ein.
Reichweite des Schutzkonzepts
Für die konkrete Ausgestaltung des Schutzkonzepts existieren keine verbindlichen rechtlichen oder fachlichen Vorgaben. Es liegt daher in der Entscheidung des Trägers bzw. der einzelnen Kita, welche Reichweite das Schutzkonzept haben soll und auf welche Aspekte des Themas Kinderschutz es sich bezieht. Vier unterschiedliche Reichweiten bieten sich an: Ein enges Verständnis begrenzt das Schutzkonzept auf den Schutz der Kinder vor sexuellem Missbrauch in der Kita. Dieses enge Verständnis liegt den Empfehlungen des Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Johannes-Wilhelm Rörig, zugrunde, der Kindertageseinrichtungen ein sechs Punkte umfassendes Schutzkonzept vorschlägt https:// store.kein-raum-fuer-missbrauch.de/ubk/Custom/ PDFPreview/UBSKM_Kitaflyer_72dpi. pdf#view=Fit
Ein Verständnis mit mittlerer Reichweite soll die Kinder vor sämtlichen Formen von Gewalt in der Kita schützen. Körperliche und seelische Gewalt gehören ebenso dazu wie Vernachlässigung der Aufsichtspflicht und sexueller Missbrauch.
Ein weites Verständnis bezieht in das Schutzkonzept sämtliche in der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegten Schutzrechte ein. Neben dem Recht auf Schutz vor allen Formen von Gewalt werden hier auch der Unfall- und Gesundheitsschutz, das Recht auf Schutz vor schädlichen Wirkungen von Medien sowie das Recht auf Schutz vor Diskriminierung mit einbezogen.
Schließlich ist es möglich, das Kinderschutzkonzept zu einem Kinderrechtsschutzkonzept zu erweitern. Bei diesem sehr weiten Verständnis geht es darum, sämtliche Rechte der Kinder gemäß UN-Kinderrechtskonvention zu schützen. Neben den Schutzrechten gehören dazu auch die Förder- und Beteiligungsrechte von Kindern (siehe Kasten).
Es empfiehlt sich, dem Schutzkonzept in der Kita das Verständnis mit mittlerer Reichweite zugrunde zu legen. Da in Kindertageseinrichtungen auch immer wieder körperliche und seelische Gewalt sowie die Vernachlässigung von Aufsichtspflichten vorkommen, reicht es nicht aus, allein den Schutz der Kinder vor sexuellem Missbrauch in den Blick zu nehmen. Um den engen Zusammenhang zwischen dem Gewaltschutz und den Schutz-, Förderungsund Beteiligungsrechten des Kindes deutlich herauszustellen, sollte in einer Präambel der Bezug des Schutzkonzepts zu sämtlichen Kinderrechten formuliert werden.
Formen von Gewalt in der Kita
Gewalt kommt in Kindertageseinrichtungen in sehr unterschiedlichen Formen vor und kann deutlich sichtbar oder subtil auftreten. Sie kann von einer pädagogischen Fachkraft ausgehen und sich gegen ein Kind richten. Aber auch die Gewalt unter Kindern, von Kindern gegen eine erwachsene Person oder zwischen Mitarbeiter* innen gehört dazu. Sie kann körperlich, seelisch oder sexuell sein und unterschiedliche Mischformen annehmen. Sie kann aktiv sein oder passiv im Falle der Unterlassung notwendiger Handlungen. Allen Formen von Gewalt gemeinsam sind der fehlende Respekt vor der Integrität einer anderen Person und die Verletzung ihres Rechts auf körperliche und seelische Unversehrtheit. Geht die Gewalt von einer erwachsenen Person aus und richtet sich gegen ein Kind, wird darüber hinaus dessen Recht auf gewaltfreie Erziehung missachtet. In der folgenden Übersicht werden die häufigsten Formen von Gewalt in Kitas aufgeführt:
Körperliche Gewalt und Vernachlässigung: Einsperren, Festbinden, Schlagen, Schubsen, Treten, unzureichende Körperpflege (mit der Folge z. B. einer Windeldermatitis), Verbrühen, Vergiften, Verkühlen, Zerren, Zwang zum Essen.
Seelische Gewalt und Vernachlässigung: Ablehnen, Abwerten, Angst machen, Anschreien, Ausgrenzen, Bedrohen, Beleidigen, Beschämen, Demütigen, Diskriminieren, Erpressen, Herabsetzen, Ignorieren.
Sexualisierte Gewalt: ein Kind ohne dessen Einverständnis oder gegen seinen Willen streicheln, liebkosen oder küssen, seine körperliche Nähe erzwingen, ein Kind ohne Notwendigkeit an den Genitalien berühren, ein Kind sexuell stimulieren, sexuelle Handlungen durch ein Kind an sich vornehmen lassen, bei sexuellen Übergriffen unter Kindern nicht intervenieren, Kinder zu sexuellen Posen auffordern, Kinder nackt oder in sexuell aufreizenden Positionen fotografieren, Kindern pornografische Fotos zeigen, Kinder nicht altersgerecht mit sexuellen Themen konfrontieren.
Vernachlässigung der Aufsichtspflicht: Kinder unangemessen lang oder in gefährlichen Situationen unbeaufsichtigt lassen, Kinder „vergessen“ (z. B. auf dem Spielplatz), notwendige Sicherheitsvorkehrungen oder Hilfestellungen unterlassen, Kinder in gefährliche Situationen bringen.
Bausteine eines Schutzkonzepts
Das Kinderschutzkonzept der Einrichtung sollte modular aufgebaut sein, d. h. aus mehreren Bausteinen bestehen, die jederzeit weiterentwickelt und ergänzt werden können. Der folgende Vorschlag für den Aufbau eines Schutzkonzepts bezieht zahlreiche UBSKM-Empfehlungen mit ein:
Leitbild und Konzeption: Die Verantwortung für den Schutz der Kinder vor körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt wird in das Trägerleitbild und die Konzeption der Einrichtung aufgenommen.
Einstellungsgespräch und Arbeitsvertrag: Im Einstellungsgespräch werden die Maßnahmen bei Gewalt gegen Kinder durch pädagogische Fachkräfte thematisiert und im Arbeitsvertrag u. a. die obligatorische Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses sowie die Unterzeichnung einer Selbstverpflichtung festgehalten.
Gefährdungsanalyse: Es wird eine Gefährdungsanalyse erstellt, die die im Alltag auftretenden Risiken auflistet. Hierbei können folgende Fragen handlungsleitend sein (vgl. Wolff/Schröer/ Winter 2018, S. 79ff.):
1. Gibt es spezifische Situationen im Kita-Alltag, in denen es zu Nähe-Distanz-Problemen kommen könnte?
2. Welche Gefahrenmomente für Machtmissbrauch, Übergriffe und grenzverletzende Verhaltensweisen sind vorhanden?
3. In welchen alltäglichen Schlüsselsituationen (z. B. Essen, Schlafen, Körperpflege) könnten die Rechte der Kinder nicht geachtet werden oder aus dem Blick geraten?
Verhaltenskodex: Ein Verhaltenskodex legt die Regeln für einen gewaltfreien, Grenzen achtenden und respektvollen Umgang der pädagogischen Fachkräfte fest.
Information der Kinder: Die Kinder werden altersgerecht über ihr Recht auf Achtung ihrer persönlichen Grenzen und auf Hilfe in Notlagen informiert und erhalten in regelmäßigen Abständen Präventionsangebote.
Information der Eltern: Die Eltern werden über die Formen von möglichem Fehlverhalten pädagogischer Fachkräfte sowie über Präventionsangebote informiert.
Fortbildungen: Die Mitarbeiter*innen der Kita werden verpflichtet, an einer Informationsveranstaltung zu Grundlagenwissen über Gewalt durch pädagogische Fachkräfte teilzunehmen. Der Besuch weiterführender Fortbildungsangebote wird empfohlen und ermöglicht.
Beschwerdemöglichkeiten: Die Kita verfügt über ein Beschwerdemanagement und benennt Ansprechpersonen innerhalb und außerhalb der Einrichtung, an die sich Kinder, Eltern und Fachkräfte bei einer Vermutung von Fehlverhalten oder Gewalt wenden können.
Notfallplan: Er orientiert sich an den individuellen Gegebenheiten der Einrichtung und regelt das Vorgehen bei einer Vermutung von Fehlverhalten oder Gewalt. Die in den meisten Kitas bereits vorhandenen Richtlinien zum Schutz der Kinder bei gewichtigen Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung gemäß § 8a SGB VIII sollten in den Notfallplan integriert werden.
Kooperation: Die Einrichtung arbeitet mit einer Fachberatungsstelle gegen Gewalt (z. B. mit einem Kinderschutz-Zentrum) zusammen.
Schritt für Schritt zum Schutzkonzept
Das Schutzkonzept sollte von der Leitung („top down“) initiiert, mit dem Träger abgestimmt und unter Einbeziehung des gesamten Teams („bottom up“) erarbeitet werden. Da Maßnahmen zum Schutz der Kinder immer alle Mitarbeiter* innen der Einrichtung betreffen, sollten auch die nicht-pädagogischen Kolleg*innen (wie z. B. Hauswirtschaftskräfte) mit einbezogen werden. Um möglichen Ängsten zu begegnen, ist es sinnvoll, frühzeitig und über sämtliche Phasen des Prozesses hinweg die Interessensvertretung der Beschäftigten (MAV, Personalrat, Betriebsrat) zu informieren und zu beteiligen. Exemplarisch bietet sich die Abfolge von sechs Schritten auf dem Weg zum Kinderschutzkonzept an:
1. Schritt: Beschluss des Gesamtteams und Abstimmung mit dem Träger: Zunächst muss die Leitung erst einmal das Team für ihr Vorhaben gewinnen, ein Kinderschutzkonzept zu entwickeln. Zu diesem Zweck muss sie es natürlich in erster Linie von den Vorteilen eines solchen Konzepts – vor allem den Zuwachs an Orientierung und Handlungssicherheit für die Fachkräfte – überzeugen. Um den beginnenden Prozess breit abzusichern, sollte sie sich parallel dazu der Unterstützung des Trägers versichern und die Elternvertretung in die Planung einbeziehen. Die Entscheidung für das Vorhaben sollte von Anfang an auch einen Beschluss über den Zeitrahmen und die erforderlichen Ressourcen enthalten (z. B. Bereitstellung finanzieller Mittel für Fachberatung und Fortbildungen).
2. Schritt: Analyse der Ausgangssituation: In einem zweiten Schritt sollte die aktuelle Situation analysiert werden. In vielen Kitas gibt es bereits verstreute Ansätze und Materialien zum Thema Kinderschutz z. B. in Form eines Kinderschutzordners. Nun geht es darum, die vorhandenen Ansätze zu erfassen, in den Kontext eines umfassenden Kinderschutzkonzepts zu stellen und auf mögliche Lücken abzuklopfen. Weiterhin gehört es zur Analyse, die Abläufe und Regeln der Kita auf ihre Tauglichkeit hinsichtlich eines Schutzkonzepts zu überprüfen.
3. Schritt: Festlegung der Ziele und Verteilung der Aufgaben: Danach sollten die Ziele des Schutzkonzepts für die Einrichtung definiert und die damit verbundenen Aufgaben verteilt werden. Als Hauptziel kann festgelegt werden, ein an den Rechten der Kinder orientiertes Schutzkonzept zu entwickeln. Aus der Festlegung weiterer Ziele ergeben sich entsprechende Aufgaben, die mit den jeweils passenden Formaten (z. B. Literaturrecherche, Teamgespräch, Fortbildung, Inanspruchnahme von Fachberatung) zu erledigen sind.
4. Schritt: Umsetzung der Maßnahmen: Dieser Schritt bezieht sich auf die konkrete Verwirklichung der Beschlüsse. Die Weiterentwicklung von Konzeption und Leitbild durch die Erarbeitung und Verabschiedung des Schutzkonzepts kann beispielsweise im Rahmen eines Workshops oder einer Team-Fortbildung stattfinden, eventuell auch unter Hinzuziehung professioneller Unterstützung von außen. Zur Ausgestaltung der Qualifizierungsmaßnahmen sind Vereinbarungen mit Fortbildungsanbietern notwendig. Die Umsetzung von Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit erfolgt in der Regel in enger Abstimmung mit dem Träger. Um sämtliche anstehenden Maßnahmen koordiniert und nachhaltig durchführen zu können, ist es sinnvoll, jeweils Verantwortliche zu benennen. Sofern noch nicht vorhanden, bietet es sich in diesem Zusammenhang an, eine*n Kinderschutzbeauftragte*n der Einrichtung zu bestimmen.
5. Schritt: Information der Eltern und Öffentlichkeitsarbeit: Im vorletzten Schritt geht es darum, die Eltern einzubeziehen und die Veränderungen in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die Information der Eltern sollte frühzeitig, z. B. im Rahmen eines Gesamtelternabends, erfolgen, in dessen Vorbereitung die gewählten Elternvertreter*innen einbezogen werden. Das vom Team erarbeitete und mit Träger sowie Elternvertretung abgestimmte und von den Eltern gebilligte Kinderschutzkonzept sollte anschließend nach außen kommuniziert werden und in der Öffentlichkeitsarbeit der Kita Berücksichtigung finden.
6. Schritt: Evaluation: Im letzten Schritt geht es an die Auswertung des Schutzkonzepts einschließlich der Möglichkeit, bei Bedarf noch Veränderungen anzubringen. In der Folgezeit sollten nun – ganz im Sinne der „lernenden Organisation“ – sämtliche Aspekte des Kinderschutzes in der Kita und die darauf bezogenen konzeptionellen Bausteine regelmäßig auf den Prüfstand gestellt und ggf. überarbeitet bzw. aktualisiert werden.