Warum sind frühe Leseerfahrungen für die Entwicklung unverzichtbar?
Je selbstverständlicher Kinder erleben, dass Bücher und Printmedien genutzt werden, dass Schrift und Sprache als Kommunikationsmittel bedeutsam sind, desto mehr werden sie sich für die Welt der Buchstaben interessieren und eigene Erfahrungen machen wollen. Diese sind von großer Bedeutung, denn in der entscheidenden Frühphase der Lese-Entwicklung erfolgt der Aufbau einer stabilen Motivation, Texte zu lesen, und präliterale Kompetenzen werden erworben. Das Kind braucht also das Buch und Bezugspersonen, die es mit der Ordnung des Leserituals – statisches Sitzen, Blättern, Anschauen, Zeigen und Benennen – vertraut machen. Das Bilderbuch ist das Medium, bei dem Kinder erste Erfahrungen mit Lese- und Schriftkultur sammeln. Auch ermöglicht es beim Vorlesen und Betrachten der Bilder sensible Zugewandtheit und körperliche Nähe. Beides wirkt sich sehr förderlich auf die Lernmotivation des Kindes aus. Texte und Bilder gemeinsam mit anderen zu erleben und auszuhandeln, was das Gesehene und Gehörte bedeutet, ist eine wertvolle Kommunikationsform, welche Kinder in ihrer Entwicklung weitreichend unterstützt und fördert.
Wie unterstützen Bilderbücher die Begeisterung der Jüngsten am Lesen?
Mit den ersten Bilderbüchern wächst das Kind in die Lese- und Buchkultur hinein, es liest in den Bildern. Da Bilder visuelle Codes enthalten, müssen Kinder spezifische Fähigkeiten erwerben, um Bilder beim Anschauen zu begreifen:
- die Unterscheidung von Figur und Hintergrund
- das Wissen, dass Linien, Punkte und Farben als Bestandteile des abgebildeten Objekts Bedeutung haben, auch wenn sich das real so nicht zeigt
- das Wiedererkennen eines dreidimensionalen Objekts in der zweidimensionalen Abbildung
- das Erfassen von Schemata, d. h. die Ähnlichkeit zwischen der Abbildung und dem realen Gegenstand zu erkennen
Für die Wahrnehmung von Abbildungen gilt: Um etwas zu sehen, muss man immer schon etwas wissen. Oder anders gesagt: Damit Wahrnehmungsobjekte Sinn erhalten, brauchen wir Erfahrungen. Das Bilderbuch ist durch die Dominanz des Bildes ein hauptsächlich visuelles Medium, das Bild wirkt unmittelbar auf das Kind.
In den ersten Bilderbüchern lenkt das abgebildete Objekt ganz stark die Aufmerksamkeit des betrachtenden Kindes auf die Verknüpfung von Objekt und Wort. Das Kind lernt, zweidimensionale Bilder als Abbildung eines realen dreidimensionalen Objekts zu erkennen und dieses Objekt mit einem Wort zu bezeichnen. Dieses Wort verbindet es mit anderen damit verknüpften Wörtern, um einen Begriff, ein „Konzept“, aufzubauen. Zum Konzept Apfel gehört beispielsweise, dass er essbar und rund, gelb, rot oder grün ist, einen Stil und einen Kern hat, zu den Früchten gehört und auf Bäumen wächst. Dieses Konzept bildet die Voraussetzung, um das Wort zu verstehen. So lernen Kinder in den Bilderbüchern, dass man nicht nur real vorhandene Objekte mit Worten bezeichnen kann, sondern auch Abbildungen, die die realen Objekte symbolisieren. Im nächsten Schritt erwerben sie die Fähigkeit, ein mentales Bild zum Wortbegriff zu erzeugen, das heißt, sie können beispielsweise in ihrem Kopf ein Bild des Apfels abrufen. Dieses „Kopfkino“ ist die Grundlage dafür, dass beim späteren Lesen innere Bilder entstehen und sich die Lust am Lesen entwickeln kann.
Wie fördern Bücher die Entwicklung von Kleinstkindern?
Die Vorleseatmosphäre ist davon geprägt, dass das Kind, das meist auf dem Schoß sitzt, spürt, dass sich jemand die Zeit nimmt und in einer ruhigen Situation vorliest. In diesen Momenten der sprachlichen und persönlichen Zuwendung entsteht das Gefühl, geborgen zu sein, wodurch das Kind das Lesen mit dem Gefühl verknüpft, geliebt zu werden. Diese Begegnungen prägen die spätere emotionale Beziehung zum Buch und sorgen dafür, dass das Buch mit angenehmen und positiv besetzten Erlebnissen verbunden wird. Auf dieser Basis kann sich die Wahrnehmungs- und Konzentrationsfähigkeit entwickeln, der Umgang mit Abstraktion und Symbolen sowie die Freude am Sprechen entfalten.
Außerdem erfahren kleine Kinder Grundlegendes zum Buch. Sie lernen das kennen, was das Wesen dieses Mediums ausmacht: Sie entdecken, dass man Bücher auf- und zuklappen kann, dass sie zu drehen und zu wenden sind und ihre Seiten zum Umblättern einladen. Sie beobachten fasziniert, dass auf jeder Seite ein Bild auftaucht – ein Bild, das für etwas steht und nicht der Gegenstand selbst ist. Das heißt, sie entwickeln ein Symbolverständnis, was eine wesentliche Voraussetzung dafür darstellt, später komplexere Bilder und (Zeichen oder Schrift-)Symbole entschlüsseln zu können. Der erste Schritt zum Lesen besteht darin, dass Kinder erkennen, dass über das Schreiben ein Inhalt vermittelt wird. Diese grundlegende Einsicht, dass Schrift ein Zeichensystem ist, zeigen Kinder beispielsweise dadurch, dass sie das Lesen und Vorlesen imitieren. Manche Kinder sind darum Meister im „Als-ob-Lesen“ und sprechen Texte auch auswendig.
Wie schaffen pädagogische Fachkräfte ein lesefreundliches Klima?
Eine Bibliothek oder ein fest gestalteter Leseplatz haben den Vorteil der konzentrierten Präsentation des Bestands. Je zentraler Sie die Bibliothek einrichten, desto intensiver kann sie das literarische Klima Ihrer Krippe mitbestimmen. Neben einer möglichst zentralen Lage benötigen Sie also eine Struktur, damit erwachsene Nutzer und Nutzerinnen sowie eventuell die Dreijährigen das Ordnungssystem des Bücherbestands erfassen. Da die illustrierten Titel der Bilderbücher einen hohen Aufforderungscharakter besitzen, sollte ein ausgewählter Teil des Angebots immer auch mit sichtbarer Titelseite angeboten werden. Mit der Präsentation des Titelbildes legen Sie den Fokus auf Bücher, die Ihnen und den Kindern aktuell wichtig sind. Überprüfen Sie deshalb, wo Sie Bücher aufgestellt, auf schräger Fläche oder in senkrechter Position präsentieren können. Um Kindern eine selbstverständliche Nutzung von Büchern zu ermöglichen, sollte in jedem Gruppen- oder Funktionsraum auch ein Buchbestand vorhanden sein. Beispielsweise profitieren Kinder in der Malecke von einem Buch über Farben oder von kleinen Büchern in der Puppenecke, damit sie „so tun, als ob“ sie dem Teddy vorlesen. Eine Krippenbibliothek braucht Regale. Sobald Kinder einen einigermaßen pfleglichen Umgang mit dem Buch eingeübt haben, werden sie ihre Bücher selbst aus einem Regal nehmen und eigenhändig wieder hineinstellen können. Sie haben dann meist gelernt, wo ihr Lieblingsbuch steht, oder können sich selbst ihre Lektüre auswählen. Sicherlich wird dieser Lernprozess einige Zeit dauern. Letztlich aber profitieren alle davon, wenn eine reflektierte Ordnung und Kennzeichnung ermöglicht, dass die Kinder sich zurechtfinden und wissen, wo sie ihre Lektüre finden und holen können. Bedenken Sie, dass Kinderhände klein sind und deshalb nicht so viele Bücher greifen und auf dem Regalbrett hin und her bewegen können, wie wir Erwachsene das tun. Deshalb gilt für die Regalfächer, die Kinder nutzen, dass nach 20 bis 25 Zentimetern eine feste Trennwand, also ein stützendes Brett, vorhanden sein muss. In diesen abgetrennten Fächern sollten die Bücher luftig, das heißt nicht zu eng gepresst stehen. Dadurch ermöglichen Sie den Kindern, beim Durchschauen einen Blick auf die Titelbilder zu werfen. Wie Buchstützen machen die Trennwände es auch möglich, den Bestand so zu bewegen, dass Bücher nicht in Schieflage geraten, umfallen und dann quer im Regal liegen. Eine solche Regalstruktur ist die absolut notwendige Grundvoraussetzung, die pädagogische Fachkräfte für Kinder organisieren müssen. Nur so können sie lernen, eigenständig und dem Material angemessen mit dem Medium Buch umzugehen.
Welche Leseorte eignen sich für die Kinder?
Mehr als andere Tätigkeiten braucht das Lesen einen geschützten Ort, damit sich Kinder in Ruhe und ohne viel Ablenkung auf das Erleben der Bilderbücher einlassen können. Ziehen Sie unterschiedliche Möglichkeiten zum Lesen in Betracht:
- Auf einer Matratze können sich die Kinder zum Anschauen hinlegen.
- Ein kleines Sofa ist oft ein beliebter Aufenthaltsort für kleine Bilderbuchlesende.
- Für Kinder ist das Buch auf einem Tisch leichter selbst umzublättern als auf dem Schoß. Spezielle Lesemöbel für Kinder bieten Bibliotheksausstatter an.
- Ein Sitz- und Lesehocker mit integrierter Tischplatte ist „Le Chien Savant“ – auf dem Rücken des „gelehrten Hundes“ zu sitzen und Bücher anzuschauen ist als Leseort bei Kindern sehr begehrt.
- Ein unkonventionelles, aber weiches Lesenest kann aus einem Karton oder einem Wäschekorb gebaut werden.
- In neu ausgestatteten Bibliotheken ein großer und auch bei erwachsenen Lesern und Leserinnen beliebter Trend: ein Fach, in das man sitzen kann, als Lesehöhle gestalten.
Aber nicht nur drinnen können Sie gemütliche Leseorte einrichten. Bei gutem Wetter geht es raus auf die Bücherbank, im Sommer gibt es das „Lesen unterm Sonnenschirm“ und am Waldtag lässt es sich prima auf dem Moos sitzend zuhören, wenn von Zwergen, Waldtieren und anderen Figuren erzählt wird.