Quarantäne & Ausgangsbeschränkung

Anselm Grün gibt wertvolle Ratschläge, wie wir in Zeiten der Corona-Krise Kraft und Zuversicht aus Isolation und Quarantäne schöpfen können.

Quarantäne

März 2020: Deutschland – und die ganze Welt – befinden sich fest im Griff der Corona-Krise. Immer mehr bis dato alltägliche gesellschaftliche Gewissheiten  – der Besuch bei den Eltern, die Kinder in der Schule oder auch nur das Feierabend-Bier mit Freunden – scheinen mit einem Mal ganz weit weg. Stattdessen heißt es Distanz wahren besonders von den Liebsten, sich isolieren – oder gar sich in angeordnete Quarantäne zu begeben, um andere zu schützen.

Dass dieser Zustand jedoch noch lange kein Grund zum Verzweifeln sein muss, lehrt uns Anselm Grün. Der Benediktiner und vielfache Buchautor kennt sich gut aus mit dem Thema – und gibt in seinem Buch „Quarantäne! Eine Gebrauchsanweisung“ wertvolle Tipps. Folgend veröffentlichen wir einen Auszug aus seinem Buch:

Alte und neue Ziele: Das uralte Mittel gegen Trägheit und Traurigkeit

Die Berge sind für mich nicht nur ein Ort, um mich in »Form« zu halten. Sie sind auch Sinnbild des menschlichen Lebens in all seinen Facetten. Ein Begriff aus der Welt der Berge und dem Alpinsport passt für eine der Hauptgefahren, die in einer Situation wie der unsrigen droht: der Lagerkoller. Lagerkoller ist kein präziser Fachbegriff. Umgangssprachlich meint man damit Wutausbrüche, Panikattacken oder auch depressive Zustände. Der Begriff selbst bezieht sich auf das mittelhochdeutsche Wort kolre, darunter verstand man die oben geschilderten psychologischen Ausbrüche oder Erregungen. Sie können auftreten, wenn mehrere Menschen in einer abgeschlossenen Umgebung, häufig plötzlich und unerwartet, eine längere Zeit sehr eng zusammenleben – die Ähnlichkeit zu der Situation, wie sie viele derzeit empfinden werden, ist ziemlich deutlich. Im »Bayerischen Rundfunk« erzählte Michael Zametzer in einer Glosse über das »Ende der Welt. Lagerkoller«, wie sich die Situation in der Familie verändert, besser: dramatisch verändert. Eine Glosse zwar, aber trotz allem Augenzwinkern mit einigen Körnern Wahrheit.

Dem Lagerkoller kann man auf verschiedene Weise vorbeugen. Zum Beispiel mit den Ratschlägen und Ideen, die ich in meinem Buch „Quarantäne! Eine Gebrauchsanweisung“ aufgrund meiner eigenen Erfahrung, unserem Leben als Mönche und der Benedikt-Regel oder auch der Bibel versucht habe, zu geben. Vom Lagerkoller allerdings, den speziell Bergsteiger erleiden, können wir nun etwas lernen, das uns im Alltag in der Krise enorm helfen könnte.

Viele Bergsteiger, die Lagerkoller kennen, schildern von ähnlichen Erfahrungen. Meistens sind es nicht so sehr die spektakulären und lebensbedrohlichen Situationen, zumindest vom äußeren Eindruck her. Sie befinden sich im Basislager oder auch einem anderen, völlig überraschend mussten sie durch einen Wetterumschwung oder Temperatursturz Halt machen. Sie haben Proviant, die Unterkunft hält warm und trocken, man kann sich mit den anderen unterhalten. Nur: Den Gipfel, auf dem sie schon längst sein wollten, sehen sie weiter nur aus der Ferne, wenn sie ihn denn sehen. Nebel und Wolken können sogar den Blick auf den Gipfel trüben, auch im übertragenen Sinne. Man sitzt unten, über einem das Ziel und der Traum, und um einen herum wird es immer enger. In dem Maße, in dem die Enttäuschung wächst, wachsen auch der Frust und der Lagerkoller. All das, was man sich erhofft hat, worauf man hingearbeitet und gespart hat, war doch so nah – und ist jetzt plötzlich scheinbar so weit weg.

Der Lagerkoller drückt sich aus in Aggressivität, Empfindlichkeit, Gereiztheit, Unzufriedenheit, und ja, in Ziellosigkeit. Man schimpft nur rum, aber man weiß nicht, was man will. Weil das Ziel, das man so lange oder so sehr oder beides zusammen verfolgt hat, sich in Luft aufgelöst hat, entweder eine verblassende Erinnerung ist und Leere hinterlässt oder ein zunehmend aufgeladener Traum, der alles überstrahlt und komplett ausfüllt. Der Effekt ist bei beiden Ausprägungen gleich: Lähmung und Ziellosigkeit.

In dieser Situation hilft erst einmal eines: sie zu akzeptieren. Zu akzeptieren, dass der Traum möglicherweise geplatzt ist, zumindest vorerst geplatzt ist. So geht es vielen in Krisen, jetzt in der Quarantäne auch. Gerade platzen zahlreiche Träume, kleine und große, aber es sind Träume: Urlaube, die man lange geplant hatte. Der neue Job, für den man so viel investiert hat. Das Treffen mit jemanden, den man jahrelang nicht mehr gesehen hat. Diese Träume waren gerade zum Greifen nahe und es ist völlig ungewiss, ob wir sie noch einmal realisieren können. Stattdessen sitzt man zu Hause, ist auf den Alltag geworfen, und in dem Maße, in dem der Alltag und die Kleinigkeiten immer banaler, schaler und langweilig-nervender werden, werden die Träume und Ziele größer, schillernder, verlockender – ein Teufelskreislauf.

Aus diesem Kreislauf kann man nur ausbrechen, wenn man zuerst die Situation akzeptiert. Das bedeutet noch nicht, dass man den Traum aufgibt. Aber man akzeptiert, dass er jetzt nicht wahr wird. Das darf, das sollte man sogar betrauern. Wenn ich die Nichterfüllung meines Traumes betrauere, kann ich Ja sagen zu der Situation, in der ich bin. Betrauern heißt: durch den Schmerz der Nichterfüllung hindurchgehen und in den Grund meiner Seele gelangen. Dort bin ich ganz ich selbst. Dort sage ich Ja zu mir und zu meiner Situation, in der ich jetzt bin. Viele betrauern aber nicht, sondern trauern dem nicht gelebten Traum nach. Das Nachtrauern entzieht mir alle meine Energie. Da bin ich nur in der Vergangenheit, aber nicht in der Gegenwart.

Wir müssen nicht so tun, als wäre der geplatzte Traum völlig in Ordnung. Wir müssen nicht den Strahlemann geben, bis wir irgendwann in Depression verfallen oder niemanden mehr sehen wollen, anderen sogar die Schuld geben. Wir dürfen bei Fehlschlägen und in Krisen trauern, dass etwas nicht wahr geworden ist. Zulassen, dass es wehtut, und dieses Akzeptieren und Zulassen ausdrücken, im Gespräch, in einem Tagebuch, einem Lied, im Gebet. Dann aber sollten wir auch überlegen, wie wir uns definieren. Nur vom Erreichen dieses Traumes her? Sind wir weniger wert, weil wir das Ziel nicht erfüllt haben?
Die Frage, was uns definiert, ist eine grundlegende Frage nach Identität. Leite ich sie nur von dem geplatzten Ziel her ab? Oder von der Arbeit, von meiner Rolle als Chef, von meinen Freunden her? Wenn ich das tue, kann mich ein Jobverlust oder eine Situation wie jetzt, in der ich plötzlich zu Hause bin und nicht mehr Chefin, sondern Partner oder Mutter, aus dem Rhythmus bringen. Denn auf einmal bin ich geworfen auf eine Facette meiner Identität, die ich vielleicht nicht mehr so wahr und sogar nicht mehr so ernst genommen habe. Reicht mir das? Erfüllt mich das? Oder löst das existenziellen Lagerkoller in mir aus? Das sind Fragen, die wir in Krisen stellen sollten, wollen wir wieder Gipfel in den Blick nehmen. Auch wenn sie schwerfallen, besonders angesichts solcher dramatischen Situationen wie jetzt.

Wenn ich Menschen begleite, die in einer Krise stecken, höre ich zu und versuche herauszufinden, welche Identität sie verspüren. Ich versuche ihnen zu helfen, die Enttäuschung und den Schmerz zu akzeptieren, mit ihm umzugehen, ihn zu betrauern. Wenn sie über die eigene Bitterkeit sprechen und sich dabei ernst genommen fühlen, wandelt sich schon die Verbitterung. Und sie finden etwas Abstand zum Kreisen um den eigenen Schmerz. Dann versuche ich, das Selbstmitleid der Menschen in echtes Betrauern zu verwandeln. Im Selbstmitleid kreise ich nur um mich selbst und bedaure mich. Im Betrauern nehme ich Abschied von der Vergangenheit und wende mich der Gegenwart und Zukunft zu. Und dann vermittle ich den Menschen: »Ja, das ist schwer, was Sie alles erleben mussten. Aber welche Spur möchten Sie jetzt in die Welt eingraben? Sollte es eine Spur der Bitterkeit und der Resignation sein? Oder möchten Sie eine Spur von Milde und Barmherzigkeit, eine Spur von Hoffnung und Zuversicht in diese Welt eingraben? Das, was Sie erlebt haben, war schmerzlich. Aber es macht Sie auch kostbar und einmalig. Wenn Sie sich damit aussöhnen, dann wird Ihr Leben für viele wertvoll und ein Segen.« Es gelingt mir nicht immer, die Sichtweise der Menschen zu verwandeln. Aber wenn es gelingt, dann spüre ich: das war ein gutes Gespräch. Der Gesprächspartner kreist jetzt nicht mehr um sich selbst und um die Trübsal, in der er gefangen war. Er bekommt neue Lust, eine gute Spur ins Leben einzugraben. Und er ist bereit, zu einem anderen Gipfel aufzubrechen, nicht mehr zu dem, der ihm nicht mehr möglich ist, sondern zu einem andern Gipfel, der ihn jetzt zu reizen beginnt.

Um aufzubrechen, braucht es einen neuen Gipfel. Wir brauchen ein neues Ziel. Im Lager hat man erst einmal kein Ziel mehr, kein äußeres realistisches zumindest. Das erleben wir auch in der Quarantäne oder anderen Formen von Abgeschiedenheit: Die äußeren Ziele sind weg oder unerreichbar. Wir sind im Lager und können nicht raus. Und dieses äußerliche Nicht-raus und Nicht-weiter-Können verwandelt sich in ein inneres Nicht-raus- und Nicht-weiter-Können, in tiefe Ziellosigkeit. Wir lassen dann zu, dass der Lagerkoller uns endgültig einsperrt, uns unsere Freiheit nimmt, uns für immer am Fuß des Gipfels zum Zuschauer unseres Lebens macht.

Der Lagerkoller dort, wo wir zu Hause sind, muss nicht so dramatisch sein. Doch es gibt ihn, in unterschiedlichen Stufen. Um ihm vorzubeugen, sollten wir neue Ziele finden. Konkrete, für die Situation jetzt. Aber auch etwas weiter entfernte, die wir langsam beginnen ins Auge zu fassen. Eine Mischung aus Zielen, die wir schnell erreichen können, und solchen, die weiter in der Zukunft liegen. Wir können so kurzfristige Motivation und Bestätigung kombinieren und ergänzen mit dem Ausrichten auf die Ferne, die Offenheit der Zukunft. Eine Familie könnte sich am Sonntag zum Brainstorming zusammensetzen und überlegen, welches Wochenziel sie hat: einen bestimmten Film, den man wieder und wieder aufgeschoben hat, angucken. Eine halbe Stunde pro Tag Englisch sprechen und sich erzählen, was man in der nächsten Zeit vorhat. Zusammen Gerichte kochen, die irgendwann im Urlaub gegessen wurden und schon lange auf der To-do-Liste standen. Eine WG könnte die Rumpelkammer ausräumen, um die Tischtennisplatte aufzustellen – und eine neue Freizeitbeschäftigung zu haben, perfekt für die Situation. Oder der Alleinstehende, der sein geliebtes Aquarium gründlich reinigt oder den Online-Kurs beendet, den er oder sie schon lange begonnen hat. Ziele können sehr unterschiedlich sein; entscheidend ist nur, dass sie Verbindlichkeit haben. Absichtserklärungen sind keine Zielsetzungen, Luftschlösser keine Gipfel, die man erklimmen kann.

Balance halten: Nähe und Distanz

Ich wurde und werde sehr häufig gefragt, wenn es um Fragen der Beziehung geht. Partnerschaftliche Beziehung, Beziehung in der Familie und auch Beziehung in größeren Gemeinschaften und Gruppen. Wesentlich für jede Beziehung ist das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz. Diese Balance ist in einer Quarantäne-Situation besonders wichtig. Ohne das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz kann friedliches Zusammenleben zu Hause nicht gelingen, es wird sehr schnell in Streit, Verletzungen und in der Isolation enden.

Wie nah Nähe ist und wie distanziert Distanz, ist individuell ausgeprägt. Der eine braucht grundsätzlich mehr Nähe und fragt sich ständig, wenn er den Partner oder auch Arbeitskollegen als »distanziert« erlebt, ob etwas schiefgegangen ist oder er etwas falsch gemacht hat. Es sind Gespräche, die in einem »Wir haben uns voneinander entfernt« gipfeln können, vielleicht auch zu Recht, wenn tatsächlich die Distanz zwischen zwei Menschen so groß geworden ist und die Nähe so klein. Andere wiederum sind vom Charakter und der Erziehung her distanzierter, ihnen kommt Nähe schnell zu einengend vor, sie empfinden das möglicherweise als übergriffig. Diese Empfindungen beziehen sich auf beide Ebenen, die physische und die psychische. Und es ist eine große Herausforderung und Kunst, solche unterschiedlichen Nähe-und-Distanz-Empfinden in einer Beziehung zum Gelingen zu bringen. Gelingt es aber, können gerade diese Unterschiede gegenseitig bereichern.

Das Herausfordernde in einer Situation der großen und vor allem ungewohnten zeitlichen wie räumlichen Nähe, die wir erleben, ist: Manchmal wissen wir gar nicht, ob wir nun mehr der Nähe-Typ oder die Distanz-Persönlichkeit sind, einfach weil es im normalen Leben sehr viele Möglichkeiten gibt, dieser Frage aus dem Weg zu gehen. Im Urlaub können wir unzählige Aktivitäten abfeiern, uns ständig mit Menschen umgeben oder auch einfach nur allein für uns am Strand liegen oder zum Radfahren gehen. Das gilt auch für den Alltag, der uns eine Vielzahl von Möglichkeiten bietet, abzulenken davon, was wir genau brauchen – und was unsere Beziehung, egal ob Partnerschaft, Familie oder WG, braucht. Und wenn die Balance gestört ist, finden wir viele Erklärungen dafür, dass es so ist. Und sei es, dass wir davon sprechen, der andere klammere oder schotte sich ab, ohne darüber zu reflektieren, wie wir selbst mit Nähe und Distanz umgehen.

Die Frage nach dem Verhältnis von Nähe und Distanz stellt sich jetzt radikaler und lauter, weil die Vielzahl der äußeren Möglichkeiten, nicht der inneren, stark eingeschränkt ist. Außerdem befinden wir uns in einer Stress-Situation, die zum Lagerkoller führen kann. Der Psychologe Michael Thiel erklärte einmal in der BILD dazu: »Der Dichte-Stress ist ein wichtiger Auslösefaktor. Wenn (fremde) Menschen über einen längeren Zeitraum auf engstem Raum zusammen sind, steigt deren Stresslevel. Enges Zusammenleben beschneidet die eigene Selbstbestimmung, die Freiheit, so zu leben, wie ich es will. Ich kann nicht wie gewohnt agieren und muss mich ständig mit dem Verhalten der anderen auseinandersetzen, ohne zur Ruhe zu kommen. Innerhalb dieser Situation ist es wichtig, sich einen mentalen Schutzraum zu schaffen.«

Michael Thiel spricht von »mentalen Schutzräumen«. Das Kapitel über unsere »Nischen« handelt vor allem von den physisch gegebenen Schutzräumen, unseren Rückzugsmöglichkeiten in der Wohnung oder dem Zimmer, die genauso bedeutsam sind dafür, dass wir uns nicht innerhalb kürzester Zeit ungeheuer auf den Wecker gehen. Die »mentalen Schutzräume« hängen natürlich oft mit den physisch gegebenen zusammen. Zu meditieren oder zu beten fällt den meisten Menschen leichter in einer entsprechenden Umgebung. Benedikt legt deshalb im 52. Kapitel seiner Regel fest: »Das Oratorium (der »Gebetsort«, Anm. d. Autors) sei, was sein Name besagt, Haus des Gebetes. Nichts anderes werde dort getan oder aufbewahrt. Nach dem Gottesdienst gehen alle in größter Stille hinaus und bezeugen Ehrfurcht vor Gott. So wird ein Bruder, der noch für sich allein beten möchte, nicht durch die Rücksichtslosigkeit eines anderen daran gehindert. Auch wenn sonst einer still für sich beten will, trete er einfach ein und bete, nicht mit lauter Stimme, sondern unter Tränen und mit wacher Aufmerksamkeit des Herzens. Wer sich nicht so verhalten will, darf nach dem Gottesdienst nicht im Oratorium zurückbleiben, damit, wie gesagt, ein anderer nicht gestört wird.« Das Oratorium ist in diesem Sinne ein besonderer Schutzraum, weil er anders als unsere Zelle nicht ausschließlich einem Mitbruder allein zur Verfügung steht, sondern allen. Aber jeder muss sich dort so verhalten, dass jeder andere allein sein kann.

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