Jeder geht mit Stress anders um
Lange hat man gedacht, dass sich Stress bei jedem Menschen auf dieselbe Art auswirkt. Neuere Forschungen zeigen, dass das so nicht stimmt. Wir erleben Stress individuell verschieden. Die unterschiedlichen Stresserfahrungen lassen sich – grob zusammengefasst – in vier Grundmuster unterteilen.
Nicht die Situation an sich verursacht Stress, sondern die Art und Weise, wie wir damit umgehen. Die amerikanischen Gynäkologinnen Dr. Stephanie McClellan und Dr. Beth Hamilton haben ein einfaches Modell entwickelt: Es basiert in erster Linie auf dem sympathischen und parasympathischen Teil des vegetativen Nervensystems: der sympathische Teil ist vergleichbar mit dem Gaspedal im Auto, der parasympathische mit der Bremse. Die Bremse sorgt dafür, dass wir uns nach einer Anspannung wieder erholen. Zudem basiert das Stresstypen-Modell auf der HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse): Bei Stress sendet das Gehirn Signale an den Hypothalamus (Regulationszentrum im Zwischenhirn), das vegetative Nervensystem und das Immunsystem, wodurch die Produktion von Stresshormonen in Gang gesetzt wird.
Welcher Stress-Typ bin ich?
Aufgrund der Interaktion zwischen dem vegetativen Nervensystem und der hormonellen Achse unterscheiden McClellan und Hamilton vier Stresstypen. Die Psychologin Carien Karsten bezieht sich in ihrem Buch Welcher Stress-Typ bin ich? auf die Einteilung in vier Typen, nennt sie aber anders und gestaltet die Typisierung psychologischer. In welchem Muster finden Sie sich wieder - Turbo, Crash, Hochsensibel oder Boreout?
1. Der Turbo-Typ
Der Turbo-Typ tritt bei Stress auf das Gaspedal und schafft immer mehr in immer kürzerer Zeit. Es handelt sich um einen Leistungsträger, der unter Stress besonders hart arbeitet.
Physiologischer Hintergrund
Beim Turbo-Typen sind das zentrale Nervensystem und das Hormonsystem in erhöhtem Maß aktiv. Der Sympathikus (das „Gaspedal“) ist beim Turbo-Typ im Zustand permanenter Erregung und Bereitschaft. Sogar in Ruhemomenten sorgt die angespannte Einstellung des Nervensystems für eine erhöhte Bereitschaft zum Kämpfen oder Fliehen. Da Menschen vom Turbo-Typ meinen, die Bedrohung sei ständig vorhanden und sie müssten folglich immer auf der Hut sein, produziert ihr Körper viel Cortisol. Das Gehirn benötigt permanent Glukose, um einschätzen zu können, ob eine Gefahr droht. Manchmal besteht eine so starke Aktivierung, dass andere Hormone wie Oxytocin, Serotonin oder Dopamin keine Chance haben, das System in Balance zu bringen. Die Folge ist, dass man an sich selbst vorbeirennt. Der Stoffwechsel, das Abwehrsystem und das zentrale Nervensystem können das System nicht wieder zur Ruhe bringen. Das Gleichgewicht ist chronisch gestört.
Signale für Stressreaktionen
Physische Ebene
- Der Magen macht schnell Probleme, genauso wie der Darm (abwechseln Durchfall und Verstopfung).
- Sie leiden unter Verspannungen im Schulter- und Nackenbereich und unter Kopfschmerzen.
- Sie haben Herzrasen.
- Bei Stress wird der Bauch dicker.
- Sie haben oft eine Erkältung.
- Sie haben seltener Lust auf Sex.
Verhalten
- Sie erhöhen bei Stress Ihr Tempo, üben mehr Kontrolle aus, checken Ihre E-Mails öfter, twittern öfter, putzen mehr und räumen mehr auf.
- Sie nehmen bei Stress mehr Aufgaben an, können nicht Nein sagen.
- Sie stehen früh auf.
- Sie trommeln oft unruhig mit den Fingern auf den Tisch, wippen mit den Füßen.
- Sie gehen oft zu spät ins Bett und leiden deshalb unter Schlafmangel.
- Sie essen oder trinken, um sich abzureagieren und zur Entspannung.
- Durch Ihr Bedürfnis nach immer neuen Reizen sind Sie suchgefährdet. Auch die harte Arbeit kann zu einer Sucht werden.
- Es fällt Ihnen schwer, stillzusitzen. Sie haben übermäßig viel Energie.
Emotionale Ebene
- Sie machen sich schnell Sorgen, dass Sie zum Beispiel zu spät kommen könnten oder einen Abgabetermin nicht einhalten können.
- Sie ärgern sich schnell.
- Frustrierende Erfahrung lassen Sie nicht leicht wieder los.
Kognitive Ebene
- Sie sind vergesslich.
- Es fehlt der Fokus.
- Sie können sich nicht gut konzentrieren.
2. Der Crash-Typ
Der Crash-Typ funktioniert in Stresszeiten aufgrund seiner Willenskraft. Längst wird nicht mehr genug Adrenalin mobilisiert, der Zusammenbruch erfolgt bei diesem Typen häufig von einem Moment auf den anderen. Crash-Typen sind Menschen, die viele Dinge gleichzeitig tun können, die wie ein Dieselmotor sehr lange durchhalten, Warnsignale negieren und am Ende zusammenbrechen.
Physiologischer Hintergrund
Die Stressreaktion des Crash-Typs, spielt sich vor allem im Hormonhaushalt ab. Der Körper wird über die Hormone aktiviert, aber das Stresshormon Adrenalin, das Energie gibt, wird nicht in ausreichendem Maß gebildet. Das Zusammenspiel zwischen der HPA-Achse und dem vegetativen Nervensystem ist gestört.
Unter den verschiedenen Stresstypen hat der Crash-Typ das höchste Burnout-Risiko.
Signale für Stressreaktionen
Physische Ebene
- Sie fühlen sich zu nichts in der Lage, Sie sind völlig erschöpft.
- Auf Anspannung reagieren Sie mit Schwindel.
- Es wird Ihnen schnell übel.
- Sie sehen alles verschwommen.
- Sie haben Probleme mit der Haut, zum Beispiel Ekzeme, Gürtelrose und Psoriasis.
- Sie haben rheumaähnliche Beschwerden.
- Sie brauchen viel Schlaf.
- Der Serotonin- und Noradrenalin Spiegel sind bei Ihnen niedrig.
- Das Cortisol ist bei Ihnen erhöht.
- Ihre biologische Uhr ist weniger aktiv.
Verhalten
- Sie muten sich durchweg zu viel zu und überschätzen Ihre Kräfte.
- Sie ziehen sich zurück.
- Sie sind apathisch.
- Sie trinken zu wenig Wasser,
- Sie machen zu viele To-do-Listen.
- Es besteht das Risiko eines Suizids.
Emotionale Ebene
- Sie sind schnell irritiert.
- Sie fühlen sich labil.
- Sie haben das Gefühl, festzustecken, ein Gefühl der Ohnmacht.
Mentale Ebene
- Sie leiden unter mangelnder Konzentrationsfähigkeit.
3. Der hochsensible Typ
Der hochsensible Typ produziert, da er ziemlich schnell aus dem Gleichgewicht gerät, viel Adrenalin, kann das Adrenalin aber nicht immer abbremsen, weil die Cortisolproduktion erschöpft ist. Bei diesem Stresstyp ist häufig ein Jugendtrauma für die beeinträchtigende Adrenalin- und Cortisolproduktion verantwortlich. Hochsensible Typen sind talentierte Menschen, die auf kleine Ereignisse mit viel Stress reagieren.
Physiologischer Hintergrund
Die Aktivitäten von Hormonsystem und vegetativem Nervensystem sind nicht optimal aufeinander abgestimmt. Die Systeme wirken aneinander vorbei. Es wird zu wenig Cortisol produziert – der niedrige Cortisolspiegel hält das Immunsystem nicht ausreichend in Schach, was zu Arthritis, Störungen der Schilddrüsenfunktion, starken Entzündungen, Asthma und verschiedenen Überempfindlichkeiten führen kann. Die Aktivierung des Sympathikus (dem Gaspedal) wird nicht in genügendem Maß durch Cortisol abgebremst. Die Aktivierung führt deshalb zum Gefühl permanenter Unruhe. Panikattacken, Juckreiz und das Reizdarmsyndrom erklären sich aus dem mangelndem Zusammenspiel von HPA-Achse und vegetativem Nervensystem.
Signale für Stressreaktionen
Physische Ebene
- Arthrose, Schilddrüsen-Erkankungen, Hauterkrankungen wie Ekzeme oder Psoriasis.
- Bestehendes Asthma kann sich verschlechtern
- Entzündungen oder chronische Schmerzen können auftreten
- Stark zugenommenen Schlafbedürfnis.
- Chronische Muskelverspannung sowie Magenprobleme und Durchfall können auftreten.
Verhalten
- Sie zeigen Vermeidungsverhalten
- Sie suchen oft soziale Unterstützung
- Sie können plötzlich in Wut ausbrechen, nörgeln oder schlecht gelaunt sein.
- Sie treiben keinen Sport, bleiben lange im Bett liegen oder hängen stundenlang auf dem Sofa herum.
- Sie haben Mitleid mit sich selbst.
- Sie stellen Ihre Interessen zurück und zeigen gleichzeitig Opferverhalten.
- Es mangelt Ihnen an Durchsetzungsfähigkeit.
Emotionale Ebene
- Sie zeigen Symptome einer Depression.
- Sie haben ein negatives Selbstbild.
- Sie leiden an Panikattacken.
- Sie haben eine posttraumatische Belastungsstörung
Mentale Ebene
- Sie können sich nicht gut konzentrieren.
- Sie sind vergesslich.
- Sie brauchen mehr Zeit als andere, um etwas zu erledigen.
- Sie können nicht zwei Dinge gleichzeitig tun.
4. Der Boreout-Typ
Der Boreout-Typ unterfordert sich selbst, aus Angst vor den Auswirkungen von Stress. Unsichere Menschen, die weniger Leistung erbringen, als sie könnten, weil sie Angst haben, bei Druck zu versagen.
Physiologischer Hintergrund
Das Hormonsystem und das Aktivierungssystem sind beim Boreout-Typ gut aufeinander abgestimmt, laufen aber auf Sparflamme. Die Folgen sind ein Gefühl der chronischen Müdigkeit, rasche Erschöpfung und verminderte Leistungsfähigkeit. Man könnte meinen, es sei durchaus angenehm, wenn der Körper nicht so viele Stresshormone produzierte, aber das Gegenteil trifft zu: Sie sind nicht gewappnet, um auf Anforderungen (der Arbeitswelt) entsprechend zu reagieren, die Aktivität reicht nicht aus. Sie schaffen es nicht, sich anzustrengen und die Herausforderungen zu bewältigen. Für diese Anstrengung würden Sie ein Gaspedal brauchen: genügend Adrenalin, um das Feuer zu entfachen.
Signale für Stressreaktionen
Physische Ebene
- Permanente Erschöpfung und Müdigkeit
- Bauchkrämpfe
- Schlaffe Muskulatur
- Asthmatische Beschwerden
- Es kommt leicht zu Entzündungen
Verhalten
- Neigung, sich von Aktivitäten und Menschen fernzuhalten
- Passives Verhalten, kaum Initiative für Unternehmungen
- Versuche, das wenig positive Selbstbild zu kompensieren, zum Beispiel durch die Lektüre zahlreicher Selbsthilfebücher
Emotionale Ebene
- Langweile bei der Arbeit
- Gefühl der Entfremdung vom eigenen Umfeld, vor allem am Arbeitsplatz
- Mangel an Antrieb und Motivation
- Alpträume über Misserfolge und Versagenssituationen
- Zweifel an der eigenen Person, dem Aussehen, dem Job, dem Wohnort und den Beziehungen zu anderen Menschen
Mentale Ebene
- Fehlendes Vermögen, klar zu denken: das Gefühl von Watte, Nebel oder einer gewissen Trägheit im Kopf
So unterschiedlich wir Menschen sind, so unterschiedlich ist auch unser Umgang mit Stress. In dem Buch: Welcher Stress-Typ bin ich? von Carien Karsten können Sie im Stresstypen-Test Ihr individuelles Stressreaktionsmuster herausfinden und erhalten typenspezifische Tipps mit Maßnahmen und Strategien, um gezielt Stress vorzubeugen und abzubauen.
Strategien gegen Stress: Die Top Five-Methode
Es gibt Strategien, die man gleich umsetzen kann und die den meisten Menschen helfen, Stress zu reduzieren. Oft sind mehr Dinge zu tun, als Zeit zur Verfügung steht. Besonders Frauen, die Beruf, Haushalt und Privatleben unter einen Hut kriegen wollen, werden niemals mit allem fertig. Ihnen schlägt Sigrid Engelbrecht die Top-Five-Tagesplanung vor:
Mit der Top-Five-Tagesplanung stärken Sie das Gefühl, die Dinge im Griff zu haben. Sie beschränken sich dabei nur auf Wesentliches und die Planung ist am Abend tatsächlich eingehalten. Eine lange Liste hingegen, von der dann vielleicht am Abend nur die Hälfte bewältigt ist, frustriert und schwächt das Selbstvertrauen.
To-do-Liste für die kommenden Tage erstellen
Wollen Sie es einmal ausprobieren? Dann machen Sie gleich jetzt die Top-Five-Tagesplanung für den kommenden Tag.
Notieren Sie auf einem Blatt Papier alles, was in den nächsten Tagen ansteht. Schreiben Sie locker hintereinander weg, so, wie es Ihnen einfällt. Kategorie, Reihenfolge, Wichtigkeit und Dringlichkeit der jeweiligen Aufgabe sind zunächst nebensächlich. Denken Sie möglichst an alle Aufgaben.
Werfen Sie nun bewusst den Anspruch über Bord, Sie müssten alles erledigen, was da schwarz auf weiß steht, um mit sich selbst zufrieden zu sein. Das schaffen letztlich nur jene Menschen, die sich kaum etwas vornehmen und letztlich also wirklich kaum etwas schaffen.
Prioritäten setzen
Wählen Sie dann die fünf wichtigsten Dinge aus, die Sie morgen anpacken und erledigen wollen, und nummerieren Sie diese Aufgaben nach ihrer Wichtigkeit. Schreiben Sie diese Top Five auf ein gesondertes Blatt. Die Dinge, die auch noch erledigt werden könnten, sofern noch Zeit dafür da ist, verbleiben auf der „Generalliste“. Überlegen Sie sorgfältig, was Ihnen wirklich so wichtig ist, dass es zu den Top Five gehört. Widerstehen Sie der Versuchung, aus den Top Five die „Top Six“ oder „Top Ten“ zu machen!
Aktivitäten zeitlich planen
Erfassen Sie bei Ihrer Zeitplanung möglichst realistisch, wie lange Sie für diese fünf wichtigsten Aktivitäten brauchen werden, und schreiben Sie die geschätzten Zeiten für jede Tätigkeit mit auf Ihre To-do-Liste. Legen Sie dabei für jede Aufgabe nicht nur ihren Beginn, sondern auch ihr geschätztes Ende fest. Tun Sie das gerade auch bei jenen Aktivitäten, die nicht durch feste Termine vorstrukturiert sind.
Wenn Sie sich angewöhnen mit den Top Five zu planen, dann denken Sie daran, die Generalliste ständig zu aktualisieren – so sind Sie sicher, dass Sie nichts vergessen. Doch jeden Tag wählen Sie von Neuem die aktuellen Top Five daraus aus und konzentrieren sich auf diese aus Ihrer Sicht wichtigsten Aufgaben.
Haben Sie für morgen Ihre Top Five notiert, dann sind Sie auf dem besten Weg am Abend zufrieden mit sich und dem Tag zu sein.