Warum wir einander brauchen
Einsamkeit und Isolation, exzessiver Individualismus, Abspaltung und Interessenegoismus nehmen zu. Was tun gegen vielfältiges individuelles Leiden an persönlicher Zerrissenheit und auch angesichts gefährlicher Gleichgültigkeit gegenüber dem Gemeinwohl? Immer deutlicher werden die Risse, die durch die Gemeinschaften, durch die Gesellschaft - und - in Beruf wie im Privatleben - auch durch das Leben von einzelnen gehen. Gleichzeitig begegnen wir aber allenthalben auch einer tiefen Sehnsucht nach Identität, Zugehörigkeit und gelingendem Miteinander.
Anselm Grün stellt sich der Frage ganz konkret: Wie können wir Verbundenheit schaffen oder vertiefen? Wie gefährdete Beziehungen erkennen und heilen? Für ihn ist klar: Es braucht eine neue Form des Wirgefühls und tiefere Qualität von Beziehung - auch in Familie und Arbeitsbeziehungen, in Gesellschaft und Kirche. Und es braucht es gemeinsame Werte: Gerechtigkeit, Kooperation, Solidarität, Toleranz, Mitgefühl und Respekt. Aber auch Gemeinschaften, die Glauben und Hoffnung leben und erfahrbar machen. Es braucht die Verbundenheit - nicht nur als Gefühl, sondern als Bereitschaft, sich aktiv für diese Welt einzusetzen, mitzuarbeiten an einer Zukunft, die auch für künftigen Generationen noch lebenswert ist.
"Pater Anselm trifft einen Nerv unserer Zeit" - Notker Wolf OSB
Interview mit Anselm Grün zu diesem Buch
Der Titel Ihres neuen Buches ist eine These: "Kein Mensch lebt nur für sich allein". Was meinen Sie damit?
Damit verbinde ich, dass wir von unserem Wesen her immer schon auf andere Menschen hingeordnet sind. Wir leben nie nur für uns allein, sondern immer in Verbundenheit mit anderen Menschen. Selbst wer als Einsiedler lebt, lebt nicht für sich allein. Auch er hat Verantwortung für andere. Er lebt auch für andere. Wie er lebt, das hat Auswirkungen auf andere Menschen. Ein Buch, das Antworten gibt und Hoffnung macht: Ressource für ein vertieftes Miteinander. Spirituelles Lebenswissen für jeden Einzelnen. Aber auch die große Vision für eine menschlichere Gesellschaft.
Es gibt aktuell viele Bücher, die die Zerrissenheit der Gesellschaft beklagen und ein Lamento anstimmen über die soziale Kälte und steigende Einsamkeit. Was ist das Besondere an Ihrem Ansatz?
Entscheidend für mich ist: Ich knüpfe an etwas Positivem an. Eben an der Sehnsucht nach tiefer Verbundenheit. Die spürt auch, wer sich einsam fühlt. Mein Ausgangspunkt ist die Überzeugung: In der Tiefe sind wir immer schon verbunden. Ich möchte Mut machen, das wahrzunehmen. Wenn wir uns das bewusst machen, hat das konkrete Folgen für uns selber - aber auch für das Miteinander.
Wissen Sie denn genau, wie es konkret geht? Ist es ein Ratgeberbuch?
Nein, mir liegt nicht an Tipps für effektives soziales Verhalten. Ich will auf die Sehnsucht nach Verbundenheit achten und sie stärken. Und von da aus dann Wege zu einem guten Leben sichtbar machen. Natürlich frage ich dann weiter: Wie können, wie sollten wir konkret leben, damit wir diese Verbundenheit stärken und uns nicht ständig aneinander reiben?
Wovon gehen Sie aus: Von beschädigten Beziehungen? Oder von Chancen?
Ich sehe natürlich die Not vieler Menschen. Da ist wirkliches Leiden. Aber gerade auf dem Hintergrund dieser Not zeigen sich mir immer auch die Chancen, gut miteinander zu leben. Und da zeige ich auch Möglichkeiten auf, Schwierigkeiten zu überwinden, auch in schweren Situationen Verbundenheit zu erfahren und selbst beschädigte Beziehungen wieder zu heilen. Die Chancen beschreibe ich eben als Wege - zu einem erfüllten sinnvollen Leben.
Sie sprechen in der Beschreibung solcher Wege von vier Dimensionen der Verbundenheit: mit mir, mit anderen, mit der Natur, mit Gott. Wie hängen die miteinander zusammen - und vor allem mit der spirituellen Dimension?
Zunächst: Beziehung prägt in unserem Leben alles. Beziehungslosigkeit ist eine Krankheit. Wenn ich von der grundlegenden Einheit der Wirklichkeit ausgehe, hängen diese vier Dimensionen natürlich eng zusammen. Ich kann nur mit anderen verbunden sein, wenn ich auch mit mir selber verbunden bin. Gott ist der Grund allen Seins, der auch die Natur und unser eigenes Leben durchdringt. Und auch Gottesbeziehung ist nicht vorbei an der Beziehung zu mir, auch nicht vorbei an der Beziehung zu anderen oder an der Natur vorbei. Auch wenn Menschen sich schwer tun mit Gottesbeziehung im Sinn einer persönlichen Du-Beziehung: Man kann das auch verstehen als Beziehung zu einem Geheimnis, das alles umgreift und übersteigt. Und diese Sehnsucht nach Transzendenz ist da: als Sehnsucht nach Verbundensein mit etwas, was größer ist als der Alltag und das Sichtbare.
Kann man sagen, dass dieses neue Buch ins Zentrum ihres Denkens, Ihres Schreibens führt?
Das Thema der Einheit und der Verbundenheit ist sicher zentral für mich. Auch in der Mystik ist das ja die entscheidende Erfahrung. Für mich ist wesentlich, was Thomas Merton gesagt hat: In der Tiefe sind wir schon eins. Wir müssen uns dieser Einheit nur bewusst werden. Das wird in diesem Buch in den Konsequenzen für uns bedacht und für das Zusammenleben ausbuchstabiert.