„Abstand halten.“ hatte der Priester gesagt und war einen Schritt zurückgetreten. „Abstand halten.“ Die Worte dröhnten in seinen Ohren. Wie in Zeitlupe waren in diesem Augenblick die letzten Wochen an ihm vorübergezogen. Angefangen hatte es damit, dass ein Kollege ihn gemustert hatte und meinte: „Du hast da etwas.“ „Ja, ich sehe es auch,“ stimmte die Nachbarin zu und fuhr fort: „Du musst zum Priester und es zeigen. So steht es bei Mose im Gesetz. Der Priester muss es ansehen. Er muss entscheiden, was es ist und ob du rein bist oder unrein.“
So war es bei ihnen üblich. War die Haut verändert wurde ein Mensch unter Generalverdacht gestellt. Es konnte alles sein, natürlich. Es konnte auch ganz harmlos sein. Aber es konnte eben auch die Krankheit sein, das Übel, vor dem sich alle fürchteten: Aussatz.
War es Aussatz, dann würden die Stellen auf der Haut immer mehr und grösser werden. Er würde keinen Schmerz mehr fühlen. Keine Wärme. Keine Kälte. Keine Berührungen. Er würde langsam von der Krankheit aufgefressen werden. Aussatz. Das war ein Todesurteil, das über Jahre vollstreckt wurde.
Er hatte sich dem Priester gezeigt. Nach einer Woche nochmals. Und dann hatte ihn der Priester durchdringend angesehen. Dieser Blick bohrte sich in seine Erinnerung. „Du bist unrein. Du hast Aussatz. Du darfst dich anderen Menschen nicht nähern. Du musst außerhalb des Dorfes leben. Du musst andere Menschen vor dir warnen. Du musst Abstand halten.“
Quarantäne lebenslänglich. Ab sofort. Er lebte noch. Aber für die anderen in seinem Dorf war er mit diesem Tag gestorben.
„Du bist kein Mensch mehr.“ Das hat er mit jedem Atemzug gespürt.
Argwöhnische Blicke musterten ihn aus der Ferne. Seinem Blick weichen sie selbst aus der Distanz aus als würde darin schon etwas Unheimliches stecken. Wenn Menschen draußen vor dem Dorf seinen Weg kreuzen und ihn erkennen, dann weichen sie zurück.
Natürlich will er keinen anstecken. Natürlich ist es sinnvoll, Abstand zu halten. Es ist völlig klar, dass keiner Menschenseele damit geholfen ist, wenn sich sein Leiden auf andere ausbreitet. Keine Frage, die Vorkehrungen und Vorsichtsmaßnahmen sind lästig. Na sicher, es ist logisch, dass sich nicht alle einig sind, wie gefährlich es jetzt wirklich ist, solange man nichts Genaueres weiß. Und selbstverständlich macht es Sinn, vorsichtig zu sein.
Aber die Angst in den Augen der anderen ist schlimm.
Warum steckt diese Angst in uns Menschen so tief drin? Ist es eine Urerfahrung der Menschheit, dass plötzlich eine Krankheit da ist und wie eine Welle wogen schlägt? Woher kommt diese Angst, die von uns Menschen Besitz ergreift? Auch wenn es schließlich doch immer noch einzelne sind, die es betrifft und die meisten von der Krankheit nicht erreicht werden so hat sie die Köpfe der Menschen längst eingenommen. Wen die Krankheit nicht erfasst, der wird von der Angst geschnappt? Oder zumindest von der Beklommenheit und der allgemeinen Unruhe? Selbst die Menschen, sich nicht von der Angst gefangen nehmen lassen wollen, werden von der nächsten Meldung sogleich überrollt.
Angst steckt an wie ein Virus. Die Verbündete der Angst ist die Ratlosigkeit. Ihre Nahrung ist das Halbwissen. Das Tuscheln und Tratschen mästet die Angst bis sie zu übermächtiger Größe anschwillt. Mit Verschwörungstheorien versteht sie sich blendend. Von Verhältnismäßigkeiten und von Augenmaß will sie nichts wissen. Gegen vernünftige Argumente ist sie immun.
„Du bist eine Infektionsquelle“, flüstert die Angst, „und kein Mensch.“ „Du bist ein Ansteckungsherd“, raunt die Angst, „und nicht mein Nächster.“ „Du bist eine Krankheitsschleuder“, rumort die Angst, „und nicht mein Bruder und meine Schwester.“ „Du bist vielleicht das Verderben“, zischt die Angst, „und kein Mensch.“
Die Angst hat Folgen. Sie sieht den anderen nicht als Gegenüber sondern als Objekt der Gefahr. Sie beeinflusst unser Miteinander auch über den Abstand, den wir halten, hinweg. Mit der Angst im Nacken verändert sich auch der Blick auf die Welt.
Er hält Abstand. Kein Händeschütteln mehr. Keine Küsse zur Begrüßung. Keine Geselligkeit. Alles das, was bisher im Zusammenleben selbstverständlich war, ist aufgehoben. Seine Sehnsucht nach Nähe wird von Tag zu Tag grösser. Gerade in Not und Angst wächst der Wunsch nach Berührungen.
Körperliche Nähe hält uns doch sonst gerade gesund. Berührungen stärken das Immunsystem. Ein Baby muss Körperwärme spüren, damit es wächst und gedeiht und nicht verkümmert. Ein Baby, das schreit, beruhigt sich auf dem Arm. Ein Händedruck verrät viel. Stark, schlaff, feucht, kalt, warm. Bereits wenn wir einander die Hand reichen, dann spüren wir ziemlich genau, wie es dem anderen geht. Schon manche flüchtige Berührung macht das Leben lebenswerter. Eine Umarmung schenkt Geborgenheit. Eine vertraute Hand zur rechten Zeit gibt Halt in schwierigen Situationen. Ein Arm um die Schulter hilft die Trauer zu ertragen.
Das Fühlen ist unser erster Sinn. Wer geherzt und umarmt wird, dem wird außen und innen warm. Eine liebevolle Berührung des Körpers berührt auch die Seele. Berührungen sind Geschenke voller Wärme, Wohligkeit, Nähe, Geborgenheit, Vertrautheit. Eine zärtliche Hand sagt dir: „Ich mag dich“. Und: „Du bist mir nah.“ Und: „Du bist nicht allein.“ Ohne Berührungen fehlt etwas, das fast so wichtig ist, wie die Luft zum Atmen.
„Abstand halten.“ Das war die Devise bis zu diesem Tag. An diesem Tag war für ihn alles anders geworden. Draußen vor dem Dorf war ein Mensch unterwegs gewesen, wie so oft Menschen draußen vor dem Dorf vorbeikamen. Er hatte Abstand gehalten und den anderen vor sich gewarnt, wie immer. Doch auf einmal hält er inne.
Noch ist er fern, dieser Mensch. Aber ihm ist so, als würde dieser ihm weit näher sein. Als wäre aller Abstand vor ihm ungültig. Irgendetwas war mit ihm. Irgendetwas war anders. Ihm scheint, als könne die Angst diesem anderen Menschen nichts anhaben.
Er, der schon lange nichts mehr gefühlt hatte, spürt es deutlich. Erklären kann er es nicht, aber in ihm steigt auf einmal eine Gewissheit auf. Wenn mir noch eine Hoffnung bleibt, dann in diesen. Ein Gefühl ist es. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Und so klar, sicher und fest. Und warm. Soll er es wagen? Soll er sich nähern? Nähe ist ein Wagnis. Immer. Aber in seinem Fall gilt das besonders. Ihm ist, als hätte der andere seine Antwort schon gesprochen, bevor er überhaupt gedacht hat. Er nähert sich. Er fällt auf die Knie, bittet Jesus und sagt: Wenn du willst, kannst du mich rein machen.
Jesus kommt ihm nahe, den alle anderen fernhalten. Jesus streckt seine Hand aus. Und er berührt ihn. Das ist unvernünftig. Er könnte sich anstecken. Das ist ungeheuerlich. Es ist gegen alle geltenden Regeln. Das ist unglaublich. Durch Jesu Mitleid wird er wieder Mensch. Es ist unfassbar. Was für Menschen unmöglich ist, ist bei Gott möglich. Da, wo Menschen zum Abstand gezwungen sind, lässt sich Gott von der Not berühren. Seine Liebe fügt das, was zerbrochen war, wieder zusammen und macht Menschenseelen heil. Seine Nähe verbindet, was getrennt war. Der große Abstand ist aufgehoben. Das ist ein Wunder.
Freude! Freude! Gott ist nah! Noch heute singt es in ihm bei der Erinnerung an diese Begegnung. Die Hand eines Menschen auf der Hand eines Menschen. In dieser Berührung war Gott. Über allen Abstand hinweg. Aller Distanz zum Trotz. Da haben sich Himmel und Erde berührt.
Gott ist nah. Er hat es erfahren und nach ihm noch viele weitere. Einen Blinden nahm er bei der Hand und er konnte wieder sehen. Einem Taubstummen legte er die Finger in die Ohren. Die Kinder, die zu ihm kamen, denen legte er die Hände zum Segen auf. Dank seiner Nähe hat ihr Leben einen neuen Weg eingeschlagen.
Jede Berührung des Körpers berührt auch die Seele. Darauf verzichtet Gott nicht. Er hat Menschen berührt und sich von ihnen berühren lassen. Seine Nähe schafft neue Nähe. Er teilt seine Wärme. Und er berührt die Menschen durch sein Wort. Darin spüren die Menschen seine Freundlichkeit.
Freude, große Freude! Gott ist nah! Er hat es erfahren. So etwas kann kein Mensch für sich behalten. Auch er nicht. Seine Geschichte von der Berührung Gottes, die hat er weitergetragen und andere damit berührt. Er hat von Gottes Nähe erzählt. Immer wieder und immer weiter. Bis heute.
Markus 1,40-45
40 Und es kommt ein Aussätziger zu ihm, fällt auf die Knie, bittet ihn und sagt: Wenn du willst, kannst du mich rein machen.
41 Und er fühlte Mitleid, streckte seine Hand aus und berührte ihn, und er sagt zu ihm: Ich will es, sei rein!
42 Und sogleich wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein.
43 Und er fuhr ihn an und schickte ihn auf der Stelle weg,
44 und er sagt zu ihm: Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst, sondern geh, zeig dich dem Priester, und bring für deine Reinigung dar, was Mose angeordnet hat - das soll ihnen ein Beweis sein.
45 Der ging weg und fing an, es überall kundzutun und die Sache bekannt zu machen, so dass Jesus sich kaum mehr in einer Stadt sehen lassen konnte, sondern draussen an abgelegenen Orten blieb. Und sie kamen zu ihm von überall her.